Im Gesundheitsbereich, insbesondere in der Altenpflege, gibt es eine kleine Gruppe von Pflegenden, die eine Corona-Schutzimpfung ablehnen, was angesichts der Tatsache, dass sie über hygienisches und medizinisches Fachwissen verfügen, verwundert. Im Gespräch mit ihnen zeigt sich bezüglich der Impfung eine ablehnende und mit individuellen Zweifeln durchzogene Einstellung, verbunden mit einer großen Sorge um die eigene Gesundheit. In der Regel führt ein rationales Gespräch mit Verweis auf die bestehende hygienische Studienlage zu keiner Einsicht. Gesundheitswissenschaftliche, ethische oder sozialpolitische Argumente prallen an einer individuell leiblich begründeten Überzeugung ab.
Persönliche Einstellungen zur Impfung entwickeln sich aus einem privaten und beruflichen Kontext heraus, weshalb es eines genaueren Blickes auf diese beiden Bereiche bedarf. Bedeutungsvoll sind die Struktur- und Funktionsweisen der Pflegeheime, die nicht immer human sind und verletzend wirken können. Im Ergebnis kann das Impfverweigerungsphänomen aus sozialethischer Sicht als Diagnose über die gesellschaftlichen Krankheiten im Altenpflegebereich interpretiert werden.
Menschen, die Verwundungen erfahren haben, finden sich zunächst einmal zusammen und kommunizieren intensiv „im Guten wie im Bösen.“1 Leider werden diese Gespräche in vielen Institutionen nicht oder unzureichend geführt, weshalb sie sich in Soziale Medien verlagern. Hier entsteht schnell eine gruppenbasierte Opposition, in der sich Emotionen negativ aufschaukeln können. Emotionen setzen zum Entstehen kognitive und leibliche Prozesse voraus, die nach meiner Beobachtung an eine individuelle Vulnerabilitätserfahrung anknüpfen. Dabei wird paradoxerweise die Impfung als eine bedrohliche Verwundbarkeit (Vulnerabilität) abgelehnt. Weil Pflegende sich selbst vor einer neuen Verwundung schützen wollen, greifen sie zu dieser Schutzmaßnahme, die als Vulneranz (Verletzungsmacht) bezeichnet wird.
Diese Schutzimpfung zu verweigern, führt hygienisch in der Logik der Infektionskette leider zu einer erhöhten Gesundheitsgefährdung der Anderen. Das ist sozial, moralisch und hygienisch betrachtet ein verheerendes pflegerisches Machtparadoxon, welches nicht allein arbeitsrechtlich gelöst werden kann. Ein Lösungsansatz setzt darauf, mit den Mitarbeitern der (Alten-)Pastoral, die aus der Seelsorge über Vulnerabilitätserfahrungen verfügen, zu kooperieren. Wohlwissend, dass bei einigen Menschen aufgrund der Schwere der Vulnerabilität eine schnelle Lösung nicht möglich ist.
Vulnerabilitätsgründe
Das menschliche Leben kann analytisch in drei beständig miteinander interagierenden Systemen betrachtet werden: das Biologische, das Psychische und das Soziale. Diesen theoretischen Ansatz habe ich gewählt, um Entstehungsprozesse der Vulnerabilität zu beschreiben.
1. Das Biologische: Corona hat deutlich gemacht, dass Humanität für die Berufsgruppe der Altenpflege in der Vergangenheit nicht gerade modernitätsverträglich war. Die Gründe dafür liegen weniger in einer fehlenden gesellschaftlichen Anerkennung, sondern in einer inhumanen Ökonomisierung der Pflegebranche. Wenn etwa aufgrund der Personalknappheit Pflegende am freien Wochenende sonntags um 15 Uhr telefonisch zum Abenddienst verpflichtet werden, wird der Körpereinsatz auf Dauer durch die Störung des Rhythmus von Anspannung und Erholung überstrapaziert. Flexibilität und Dauerbereitschaft des fügsamen Körpers sind die fraglichen beruflichen Anforderungen, die kaum Zeit für regelmäßigen Sport zulassen und dadurch Burnout-Syndrome fördern können.2 Pflege ist allerdings nicht per se eine den Körper gefährdende Tätigkeit, sondern wirkt dann schädigend, wenn die persönliche Gesundheitsprävention durch Dienstpläne behindert oder bereits vulnerable Menschen neu getriggert werden.
Sowohl Institutionen als auch ihre Pflegenden neigen dazu, vulnerable Strukturen und Prozesse herunterzuspielen, weil das Leit- und Selbstbild Stärke und Humanität ausweist. Man hält sich für immun und damit unangreifbar. Gefährlich infektiös und schwach sind immer nur die Anderen, das System, die Politik usw. Übertragen steht Immunität für eine Abwehr: Was die Institution und den Körper bedroht, wird unschädlich gemacht (Vulneranz). Diese Prozesse erzeugen auf Dauer eine gesundheitlich negative Spirale, in dem Vulnerabilitäten wie beispielsweise Erschöpfung als Dauerzustand immer weniger gesehen werden, weil die Blindheit zur Normalität geworden ist.3
2. Das Psychische: In kleinen sozialen Gruppen können sich Störungen auf den psychischen Bereich intensiv auswirken, wenn diese nicht permanent reflektiert und neu ausbalanciert werden. Zu erklären ist dies mit einer bei Pflegenden ausgeprägten Empathiefähigkeit, die zu einer erhöhten Sensibilität gegenüber Vulnerabilitäten führt. Diese Bedingungen können im Laufe der Berufsjahre dann überfordernd wirken, wenn es den Pflegenden nicht gelingt, neben der von der Institution geforderten hohen Achtsamkeit für Patienten im gleichen Maße eine Selbstachtsamkeit zu entwickeln. Diese Sorge schlägt unter Dauerbelastungen und Nichterfüllung schnell in Angst oder Resignation um. Bei einigen Pflegepersonen, die Impfungen verweigern, besteht nach meiner Beobachtung eine durch Lebenskrisen erworbene besonders dünne und verletzte Haut, die z. B. mit unverarbeiteten Krisen, Traumata oder psychischen Erkrankungen in Verbindung stehen. Ihr verletztes Ich ist deshalb permanent auf der Hut, sich vor einer weiteren Vulnerabilität zu schützen, wozu aus ihrer Sicht die Impfung zählt.
3. Das Soziale: Pflegerische Beziehungen können nicht vom Sozialsystem gelöst reflektiert werden, weil das Sozialrecht die Struktur der Pflege wesentlich bestimmt. Die Politik hat in der Vergangenheit keine grundlegende Reform der Altenpflege durchgeführt, sondern nur an Stellschrauben der Systemsicherung gearbeitet. Pflegeheime als soziale Systeme stiften für Pflegende immer weniger Sinn, weil sie zu ökonomischen Funktionssystemen geworden sind, deren Hauptzweck die Kapitalanhäufung ist. So zeigt Gernot Böhme in seinem Buch „Pflegenotstand: der humane Rest“4 – und das gilt heute mehr denn je –, dass der zu beklagende Pflegenotstand in der Öffentlichkeit ausschließlich als Fachkräftemangel wahrgenommen wird. Es geht nicht mehr um motivierte Subjekte, sondern um Dienstleistungsproduzenten, die eine ökonomisch genau definierte institutionelle Rolle erfüllen müssen.
Die Pandemie macht deutlich, wie der Neoliberalismus die Pflegenden unter dem Druck von Kostendämpfung und Effizienz schädigt, menschlich verarmen und die Humanität ausbluten lässt. Denn das eigentliche Problem des Pflegenotstands besteht im Mangel an menschlicher Zuwendung, nicht nur für die zu Pflegenden, sondern in erster Linie den Pflegenden gegenüber. Zwar ist unter den gegebenen Umständen die finanzielle Corona-Zuwendung des Staates als gesellschaftliche Anerkennung für den Niedriglohnsektor Pflege ehrenwert und hochverdient, das Problem ist damit aber nicht gelöst. Geld tröstet nicht, denn es kann keine Humanität kompensieren. Ich folge Nida-Rümelin in der kritischen These, dass die Ökonomie als dominantes Gestaltungsprinzip die Bedingungen einer humanen Gesellschaft zerstört.5 Es ist daher zu prüfen, ob das bestehende Sozialsystem Pflegende nicht nur pathisch werden lässt, sondern sie durch die Ökonomisierung gesundheitlich schädigt. Würde diese Frage bejaht, müsste man von struktureller Gewalt an Pflegenden sprechen.
Altenpflege als gesellschaftliche Opfergruppe
Die allein vom Wettbewerbsdruck gelenkten Kräfte des Gesundheitsmarktes haben in der Vergangenheit oft den Blick für die Subjekthaftigkeit der Pflegenden innerhalb der Mitarbeiterfürsorge verstellt und ethische und humane Aspekte vernachlässigt. So gilt auch für die Pflege, dass durch Märkte und administrative Macht die gesellschaftliche Solidarität, also eine Handlungskoordinierung über Werte, Normen (Gesundheitsschutz) und einen verständigungsorientierten Sprachgebrauch, aus immer mehr Lebensbereichen verdrängt wird.6
Arbeitssoziologisch betrachtet sind die Pflegenden deshalb zu einem gesellschaftlichen Opfer geworden. Bedeutsam ist nicht der Opferstatus, sondern die mit dem Opfer verbundene belastende Lebensbedingung. Im Englischen gibt es dazu die Differenzierung zwischen victim und sacrifice. Victim meint, Gewalt ohne Einflussmöglichkeiten zu erfahren. Das Opfer im Sinne von sacrifice erfolgt aktiv im Einklang mit den persönlichen Zielen des Individuums und meint, etwas zugunsten eines Ideals herzugeben, z.B. durch den Verzicht auf Karriere oder Statusgewinn. Es lohnt sich für den Opfernden im Sinne der individuellen Bewertung, dieses Opfer zu erbringen.
Beide Opferformen können Vulnerabilitäten erzeugen. Wenn das Selbst dabei überstrapaziert wird (victim), reagiert der Verletzte mit Resignation, Flucht oder Aggressionen und fühlt sich als Opfer. Ob diese Einstellung berechtigt oder bloß eine Projektion ist, kann hier nicht geklärt werden. Bedeutsam ist, dass dieses Gefühl der Gefährdung vorhanden und deshalb anzuerkennen ist. Aus der erlittenen Vulneranz werden daraufhin Abwehrmaßnahmen praktiziert, um die Gefährdung zu bannen. Und was gibt es Besseres als den Rückzug in einen gefühlten Schutzraum einer Gruppe Gleichgesinnter mit gleichzeitiger Machtausübung durch Impfverweigerung? Diese Verletzungsmacht (Vulneranz) macht sie für alle sozialen Institutionen durch die Missachtung der Infektionskette sehr gefährlich, weil sie auf die Vulnerabilität anderer Menschen und Institutionen zielt.
Impfverweigerung ist somit aus der Perspektive der Gesundheitswissenschaft ein Widerstand gegen die gefühlte Übermacht der Gesellschaft, weil eine Impfung das Selbst der Person zu verletzen droht, indem sie den Pflegenden mächtig, d.h. ungefragt, im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut geht und die Verfügung über das intimste Selbst beansprucht.
Aus gesundheitswissenschaftlicher Sicht scheint sich hier ein beruflicher Widerstand vulnerabler Menschen zu formieren, die quasi den Spieß durch Vulneranz umdrehen, indem sie eine Gegenmacht durch Impfverweigerung ausüben. Impfverweigerung könnte folglich als ein Schutzausdruck für das verletzte und gefährdete Selbst verstanden werden oder auch als eine Herodes-Strategie (Mt 2,16 ff.), die als ein Racheangriff auf institutionell verletzende Strukturen interpretiert werden kann. Was ist also zu tun?
Überlegungen zu Lösungsansätzen
Aus der Vulnerabilitätsforschung ergeben sich für die Problemlösung zwei untrennbare Doppelaspekte: Die Fürsorge den zu Pflegenden gegenüber ist nicht ohne die Fürsorge den Pflegenden gegenüber zu haben. Zu achten ist auf die institutionelle und persönliche Vulnerabilität und ebenso gründlich auf Vulneranzmöglichkeiten.
Vulnerabilität als anthropologisches Merkmal des Menschen ist untrennbar mit der Pflege und deren Qualität verbunden. Aus gesundheitswissenschaftlicher Sicht ist deshalb zur Vermeidung der Vulnerabilität ein institutionelles Präventionskonzept notwendig. Dies ist allerdings nur dann nachhaltig, wenn die angestrebte individuelle Verhaltensänderung untrennbar mit einer Änderung der Verhältnisse in der jeweiligen Institution einhergeht. Deshalb kann die gesellschaftlich erzeugte Vulnerabilität nicht einfach durch einen neuen Status „Systemrelevanter Beruf“ ausgetauscht und mit einer finanziellen Sonderzuwendung geheilt werden. Vulnerabilität erfordert zur Heilung eine dauerhaft erlebbare Humanität.
Der erste Präventionsschritt besteht folglich in der Hilfe zur Balance der angesprochenen Lebensbereiche. Diese Unterstützungsaufgabe gilt für das Management und beginnt mit dem genauen Zuhören und einem Kümmern. Manager sehen häufig nicht mehr, dass ihre institutionellen Regeln Individualität eingrenzen und dadurch Ohnmachtsgefühle erzeugen, die in der Folge jede Kommunikation zum Thema Impfung blockieren können.
Für diese Kümmeraufgabe können die Mitarbeiter der (Alten-)Pastoral in Zusammenarbeit mit dem Personalmanagement eine nachhaltige Präventionsarbeit leisten. Sie sind durch ihre seelsorgerlichen Beratungsqualifikationen und -erfahrungen bestens dafür geeignet, ethische Reflexionsgespräche mit den Personen zu führen, die eine Impfung verweigern. Weil jede Anfrage an die individuell definierte Wahrheit zur Impfung schlimmstenfalls mit einem Verlust von Sicherheit einhergehen und Vulneranz erzeugen kann, muss sie begleitet werden. Deshalb muss Beratung konkret als ein Sich-Kümmern erfahren werden, in der pflegeethisch die Verhaltens- und Entscheidungsgrundlagen der Pflege nicht nur am evidenzbasierten Nutzen, sondern zuerst am Kriterium des Humanen reflektiert werden, um Vulnerabilität und Vulneranz zu vermeiden. Dabei geht es nicht darum, aus Impfverweigerern Befürworter zu machen. Ethische Reflexionen zielen auf eine Entwicklung der Horizonterweiterung aller Institutionsverantwortlichen zur intensiveren Wahrnehmung von Subjektverletzungen.
Verletzungen zu benennen ist der erste Schritt der Heilung. Die Aussprache fördert den Prozess, die Macht über sich selbst zurückzugewinnen, die es ermöglicht, sich für oder gegen eine Impfung zu entscheiden und somit Eigen- und Fremdgefährdungen besser erkennen zu können. Sprache schafft Wirklichkeit, auch als „bullshit“!7 Wenn in der Pflegeeinrichtung beispielsweise unreflektiert von „Impfgegnern“ gesprochen wird, besteht die Gefahr, Personen als Objekte zu behandeln. Übersehen wird in diesem Zusammenhang oft, dass dieser Mechanismus zurückwirkt und sich spiralartig mit beiderseitigen Vulnerabilitäten und Vulneranzen aufschaukelt.8
Beide, Institutionen und Pflegende, brauchen Hilfestellungen in der ethischen Selbstreflexion, um sich über ihre Verhaltensnormen und ihre blinden Flecken bewusst zu werden. Der Theologe Karl Rahner SJ (1904-1984) hat das Problem dieser Unbildung treffend formuliert: Was wäre der Mensch, wenn er das Ganze (Welt) und seinen Grund (Gott) vergessen hätte, und zugleich vergessen, dass er vergessen hat? „Was wäre dann? Wir können nur sagen: Er würde aufhören, ein Mensch zu sein. Er hätte sich zurückgekreuzt zum findigen Tier.“9 Menschen unterscheiden sich von Tieren u.a. dadurch, dass sie durch Reflexion Klarheit über die Gründe ihres Verhaltens erzeugen können. Das ist der Sinn des Beratungsweges: von einer diffusen Unwissenheit hin zu einer begründbaren institutionell und persönlich auszuführenden Verantwortungsethik zu gelangen. „Verantwortung ist damit immer auf etwas ausgerichtet, was noch nicht ist, aber sein könnte …“,10 nämlich das Gute zu wollen.
Eigen- und Fremdschutz sind in der Pflege aufgrund der Körpernähe nicht zu trennen. Deshalb besteht aus Sicht der Hygiene eine Schutzpflicht gegenüber den unmittelbaren Mitmenschen einschließlich der Pflegeinstitution. Pflegende, die eine Impfung verweigern, sind eine Anfrage an die Personalarbeit.11 Angefragt waren in der Vergangenheit oft nur zwei funktionierende schnelle Hände, es kamen aber Subjekte. Häufig ist dieser Aspekt im Kontext des Pflegenotstandes bei der Personalauswahl zu wenig beachtet worden. Aus diesem Grund muss die bestehende Kultivierung der Empfindlichkeit für die Verwundbarkeiten der Pflegenden, der zu Pflegenden und der Institution neu belebt werden.12 Denn die Gefahr einer Vulneranz ist als Folge dieser Vernachlässigung sehr hoch.13 Dieser Prozess hat aus ethischer Sicht auch Grenzen, weshalb bei einer fehlenden Reflexionseinsicht zur Vermeidung der Vulneranz auch arbeitsrechtliche Konsequenzen angemessen sein können. Es bleibt zu hoffen, dass die aus meiner Sicht notwendige einrichtungsbezogene Impfpflicht im Gesundheitswesen nicht zu einer neuen Vulnerabilitäts- und Vulneranzspirale führt.