Kermani, Navid: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott.
München: Hanser 2022. 240 S. Gb. 22,–.
Vor seinem Tod bat Opa den Sohn, er möge der zwölfjährigen Enkelin den Islam erklären. Treu macht sich Navid Kermani an diese fordernde Aufgabe. In täglich einem Kapitel, antwortend auf Kinderfragen, in einfacher Sprache, mit einem weiten Blick auf andere Religionen und auf das, was alle Religionen umgreift, mit viel Sympathie und Kenntnis auch des Christentums, antwortet Kermani auf die vielfältige Suche heutiger Menschen. Grundfragen des Lebens werden ja in allen Religionen ähnlich gestellt: nach dem Tod und nach der Liebe, nach dem Woher und dem Wohin allen Daseins, nach dem Bösen und der Schuld, nach Gott selbst, nach dem inneren religiösen Erfahren Gottes und nach äußeren Gestalten der Religionen. Das Bild des Islam, das Kermani der deutschsprachigen Leserschaft vermittelt, ist grundsympathisch und für vielfältige Diskurse anschlussfähig – es rüttelt an den negativen Bildern und an manchen Vorurteilen.
Kermani beginnt mit der Erfahrung des Todes – seine Tochter hat soeben das Sterben ihres Opas erlebt. Religion ist für ihn die Beziehung des Endlichen, das wir sind, zum Unendlichen, das auch Gott genannt wird. Im Atem zeigt sich Gott – das vereint alle Religionen. Religion ist vor allem Dankbarkeit. Gibt es Wunder? Im Islam ist das Wunder die Gesetzmäßigkeit selbst, die hinter allen Erscheinungen steht. Zum Muslim wird man durch das Zeugnis; „Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist sein Prophet“. Als Religion ist der Islam nicht nach einem Gründer benannt, sondern nach einer Beziehung: „Islam“ bedeutet: sich unterwerfen, sich hingeben, Frieden schließen – „salam“/“schalom“ steckt in „Islam“.
Wichtig ist für Kermani die Mystik; diese innere, auf Einfaches reduzierte Erfahrung des Göttlichen ist in allen Religionen gleich, während es große Unterschiede in den äußeren, mehr kulturell bestimmten Gestalten wie Riten, Lehren, Organisation usw. gibt. Nach Kermani sind die drei mosaischen, monotheistischen Religionen zueinander viel näher als zu den vielen anderen Religionen oder als diese untereinander – aber wer zum anderen sehr verschieden ist, lebt mit diesem leichter in Toleranz, während man mit dem Nachbarn, der ähnlich ist, um jedes Promille streitet. Im Gegensatz zum zyklischen Verständnis der meisten anderen Religionen sieht der Monotheismus die Zeit linear – Grundlage auch aller modernen atheistischen Weltanschauungen und aller Technik und allen Fortschritts. Immer wieder singt Kermani das Hohelied der Dichtkunst: Theologie kann eigentlich nur Dichtung sein. Gott ist nicht groß, sondern größer – hier könnte man eine Brücke zu Ignatius von Loyola schlagen. – Mit einer Fülle origineller Einsichten beschenkt uns Kermani über die Religionen, sie regen an auch für manches Gespräch mit Verächtern oder Leugnern der Religion.
Aus dem Buch spricht eine gewisse Trauer, dass der Islam aus seiner früheren kulturellen und intellektuellen Blüte weitgehend herausgefallen ist, auch eine gewisse Einsamkeit derer, die heute in Europa diese Kultur niveauvoll leben wollen. Doch das Buch knüpft zugleich an diese Kultur und ihre Geschichte an und trägt dazu bei, sie wieder zu beleben. Wie viele gute Kinderbücher – und übrigens wie gute Kinderpredigten – ist es auch an Erwachsene adressiert und für diese lehrreich. Ein wunderbares Buch auch für uns Christen: Wir können in ihm große geistige Weite entdecken, reiche auch argumentative Hilfe im Religionsgespräch, viel Nähe des Islams zu uns und sehr viel vorbildliche Toleranz.
Stefan Kiechle SJ
Bahne, Thomas (Hg.) / Link, Pierre-Carl: Verletzbarkeit des Humanen. Sexualisierte Gewalt an Minderjährigen im interdisziplinären Diskurs.
Regensburg: Friedrich Pustet 2021. 304 S. Kt. 29,95.
Verletzlichkeit und sexueller Missbrauch: Die eigentliche Herausforderung einer theoretischen Reflexion über dieses Thema besteht darin, die Frage mit intellektueller Strenge zu behandeln und gleichzeitig einen konkreten Beitrag zum Engagement gegen diese Geißel zu leisten. Zwei Elemente sind hier wichtig: der interdisziplinäre Ansatz und die Fähigkeit, den Betroffenen eine echte Stimme zu geben.
Dies sind zwei der Stärken des Buches, das eine interdisziplinäre Sichtweise bietet, indem Bahne eine Reise durch seine Kapitel vorschlägt: von der ethischen zur juristischen Perspektive (Kap. 1 Vulnerabilität als ethisches und interdisziplinares Konzept, Kap. 2 Das Rechtsgut Kindeswohl im juristisch-ethischen Diskurs um die UN-Kinderrechtskonvention), von einem Verständnis der systemischen Aspekte dieses Phänomens (Kap 3. Institutionelle Risikopotenziale im System der katholischen Kirche) zur Untersuchung über den Machtmissbrauch (Kap. 4 Das Phänomen des Machtmissbrauchs in den Systemen Kirche, Schule und Kinderheim). Auf dieser Reise werden wir von Experten aus unterschiedlichen Bereichen begleitet, die zum Verständnis der Komplexität dieses Szenarios beitragen.
Hier geht es nicht „nur“ um ein dramatisches Ereignis mit einzelnen Akteuren, sondern auch um das Menschsein selbst. Der Mensch ist derjenige, der verletzt werden kann und der verletzten kann. Es ist entscheidend, den Missbrauch „aus der Perspektive der Würde des Menschen und seiner Vulnerabilität zu verstehen“ (vgl. Wijlens, 117).
Doch ist es nicht nur Verletzbarkeit, die den Menschen kennzeichnet. Der Mensch ist auch derjenige, der die Verantwortung für diese ständige Gefährdung seiner eigenen Würde übernehmen kann. Die Verletzbarkeit ist eben der Ort, wo sich „der Anruf des Anderen“ erweist (vgl. J. Czapski’s Aufsatz über Levinas). Denn die Verletzlichkeit des Einzelnen ist unmittelbar immer die Verantwortung des anderen vor ihm, neben ihm, um ihn herum. Einzelpersonen, Familien, Organisationen…: Missbrauch betrifft jeden dieser Bereiche, weil jeder Kontext Maßnahmen ergreifen kann, um ihn zu verhindern oder zu fördern. In jedem Kontext geht es immer auch um das Beziehungssystem, auf welche Art in der jeweiligen Institution Macht ausgeübt wird. J. Knop, B. Drinck und M. May geben Einblick darin, wie die ausführlichen Erklärungen der „machtförmige[n] Asymmetrien“, die in so unterschiedlichen Einrichtungen (der Kirche sowie der DDR-Kinderheime und weiteren Pädagogischen Institutionen) zu einem quasi strukturellen Missbrauch führten.
Ein entscheidendes Element, das dieses Buch kennzeichnet, sind die Stimmen der Betroffenen. Ihr Erleben und ihre Erfahrung bilden den Schlüssel zum Verständnis dessen, was zu Veränderung führt: „Nur aus einem solchen Moment der Schutzlosigkeit und Verletzlichkeit erwachsen Verstehen und Mitgefühl – sowie die Bereitschaft, hinzusehen und Systeme zu verändern“ (A. Wich, 24).
Es ist bemerkenswert, wie es dem Herausgeber gelungen ist, die Essays zum Thema in der Gesamtarchitektur des Bandes zusammenzuführen. Diese Texte werden nicht aufgrund eines Anspruchs auf eine formale „politisch korrekte“ Haltung vorgeschlagen, sondern sie fügen sich in den gesamten theoretischen Weg als maßgebliche Beiträge zu einem authentischen Verstehen ein. Das zeigt den Lesern, was es bedeutet, der Stimme der Betroffenen zu folgen und darin einen Aufruf zur persönlichen Verantwortungsübernahme für eine sicherere Welt zu erkennen.
Alessandra Campo
Haberer, Johanna: Die Seele. Versuch einer Reanimation.
München: Claudius 2021. 152 S. Gb. 16,–.
„Seele“ ist in der Wissenschaft zum Tabuwort geworden, nicht nur in den alles beherrschenden empirischen Wissenschaften, sondern auch in der Philosophie und Theologie. Die Kognitions- und Neurowissenschaften beanspruchen immer mehr, auch das Bewusstsein, das Denken und das Fühlen zur Gänze empirisch durchdringen und erklären zu können. Alle Lebenswissenschaften erliegen diesem Trend. Der Trend zur Digitalisierung reduziert das Denken auf die einwertige Logik von Ja und Nein. Künstliche Intelligenz und Transhumanismus beanspruchen, den Menschen bald übersteigen zu können. Selbst die praktische Theologie, die über Seelsorge reflektiert, und die Psychologie, die die Seele im Namen trägt, vermeiden weitgehend den Begriff.
Johanna Haberer, in Erlangen Professorin für christliche Publizistik, plädiert in dem schmalen Büchlein leidenschaftlich für die „Reanimation“ der Seele, also für das neue Bedenken des Begriffs und der mit ihm gemeinten Wirklichkeit. Wo würden die Musik bleiben und die Kunst, die Empfindung und die Kreativität, das Mitleid und das Gewissen, die Sehnsucht und die Erfahrung von Transzendenz? Dabei bleibt „Seele“ seltsam unbestimmt, dem denkerischen Zugriff entzogen. „Seele ist nunmehr ein Dach- oder Schirmbegriff, der nicht eine eigene Entität beschreibt, sondern unbestimmte, aber nachvollziehbare Dimensionen des Fühlens und des impliziten Wissens“ (31). „Das Hochgefühl, die Mona Lisa zu betrachten, das Glück, etwas verstanden zu haben, der Geschmack von Spaghetti Pomodoro, der Schmerz des Abschieds, der Zusammenbruch bei einer Niederlage, die Angst vor dem Tod, die Tränen beim Hören der Matthäuspassion oder der Stimme von Adele, das Glück beim Geruch einer Frühlingswiese, ein vollmundiger Rotwein – all diese Empfindungen können Neurowissenschaftler wohl in Gehirnströmen messen und in gewissen Gehirnregionen verorten, aber wir Menschen er-leben sie“ (42).
Haberer bringt eine Fülle von Hinweisen aus der gesamten Geistesgeschichte. Biblisch wurde die Seele stark mit dem Leib verbunden und meint auch den ganzen Menschen. Von der späteren Entgegensetzung einer unsterblichen Seele zu einem sterblichen Leib grenzt Haberer sich deutlich ab. In Literatur und Musik, in Kunst und Religion wurde die Seele immer besungen. „Harry Potter“ beschreibt – mit großem Publikumserfolg – das erstaunliche Seelenleben seines wunderbaren Protagonisten.
Haberers Polemik gegen die seelenvergessene moderne Wissenschaft erscheint bisweilen etwas einfach, und die Reanimation eines Begriffes wird kaum ein völlig verändertes geistiges Bewusstsein hervorbringen. Dennoch stößt sie mit ihrer kleinen, gut lesbaren und durchgängig anregenden Schrift in ein Horn, das Wesentliches trifft, wenn der Mensch weiter menschlich leben will. In hoch komplexen Wirklichkeiten durch den ausgewählten Fokus auf einen zentralen Begriff den Blick aufs Ganze zu öffnen, ist keine schlechte Pädagogik in christlicher Publizistik und Bildungsarbeit.
Stefan Kiechle SJ
Düsing, Edith: Gottvergessenheit und Selbstvergessenheit der Seele. Religionsphilosophie von Kant zu Nietzsche.
Paderborn: Wilhelm Fink 2021. 627 S. Kt. 69,–.
Das sich mit dem Namen Friedrich Nietzsche verknüpfende Diktum vom „Tod Gottes“ bezeichnet einen markerschütternden Wendepunkt in der abendländisch-europäischen Denkentwicklung und Daseinsdeutung, und auch heute noch ist mit Nietzsches Worten zu bezweifeln, „daß viele bereits wüßten, was eigentlich sich damit begeben hat“ (Fröhliche Wissenschaft, § 343, nach Düsing 130 f.). Das durch Nietzsches „Tod Gottes“ angezeigte totale Umdenken, die totale Umstrukturierung des denkend-erkennenden, fühlenden In-der-Welt-Seins ist längst nicht abgeschlossen und der sich damit vollziehende Paradigmenwechsel noch nicht endgültig bestimmt.
Tatsächlich situieren sich die vielfältigen Phänomene des Verlustes des Gottesbezugs in einem Feld, das ausgespannt ist zwischen den Antipoden Kant und Nietzsche. Nietzsches Bruch mit der Tradition der Geistmetaphysik, also die Schritte der großen Loslösung aus allen Bindungen metaphysisch verankerten Denkens wird stets begleitet von einer Verlustbilanz. Kants vernunftkritischer Ansatz hingegen lässt Möglichkeit offen, einen fruchtbaren Bezug der Erkenntnisbewegung zu einer transmateriellen Ebene aufrechtzuerhalten, auch und gerade in Vollendung des Projekts der Aufklärung. Mit seiner unwiderlegbaren Zurückweisung des sogenannten Vernunftunglaubens – als einer unzulässigen Aussage über das der endlichen Erkenntnis entzogene „Sein an sich“ – und durch seinen aus der Sollenserfahrung der praktischen Vernunft positiv legitimierten Beweis vom Dasein Gottes, bietet Kants Gotteslehre ein bis heute standhaltendes Argument gegen den neuzeitlichen Atheismus und Naturalismus.
Auf diesem Hintergrund einer glasklaren wie konsequenten Argumentation Kants und zugleich in Vergegenwärtigung der tiefen Gewissenskollision Nietzsches in seiner Entscheidung „gegen alles, was bisher geglaubt, gefordert, geheiligt worden war“, werden die komplexen Fragen, ihre Beantwortung durch die klassischen Auffassungen und die Umkehrung dieser Positionen in dezidiert postmodernen, postmetaphysischen und zuletzt posthumanistischen Diskursen deutlich erkennbar. Es sind grundsätzlich noch immer die Fragen, welche die gesamtmenschliche Existenz zentral bewegen: die Fragen der Existenz Gottes, der Unsterblichkeit der Seele, der Natur des Ich, der Freiheit des menschlichen Willens, der Theodizee, die Frage nach einer in der naturgeschichtlich-biologischen wie geistig-kulturellen Evolution wirkenden Teleologie, nach der Begründung des Lebens-Sinnes, der Unbedingtheit des Sollens und der Moral des Handelns…
Mit ihrer eher zurückhaltenden, auf Klärung und Quellentreue bedachten Diktion – überaus kundig auch in der Verfolgung weitläufiger Vernetzungen der Fragestellungen, bis hinein in die antiken Ursprünge – gelingt es der emeritierten Philosophieprofessorin mit ihrem jüngsten Werk gewissermaßen eine Konferenz der Denker zu einer dringend zu führenden Paradigmendebatte einzuberufen. In der zusammenführenden Vergegenwärtigung der unterschiedlichen Argumentationen schafft Düsing die Möglichkeit, das kontroverse Geschehen am Abgrund des scheinbar alternativlos dem Nihilismus preisgegebenen Denkens zu befragen und erneut zu bewerten. Das Werk möchte ich grundsätzlich jedem an einer Tiefenanalyse der geistigen Hintergründe und Wurzeln des Zeitgeschehens Interessierten ans Herz legen.
Beatrix Vogel