Traditionell werden Ordenspriester im deutschsprachigen Raum mit „Pater“ angesprochen; in anderen europäischen Sprachen adressiert man sogar alle Priester mit „Padre“, „Père“, „Father“. Seit einigen Jahren bemerke ich jedoch eine Änderung: Selbst professionelle kirchliche MitarbeiterInnen sprechen mich zunehmend mit „Herr“ an – es sind die säkularen Medien, in denen JournalistInnen noch am ehesten nachfragen, ob für solch seltene Vögel „Pater“ korrekt sei. Was ändert sich da in der Kirche? Sicherlich gerät eine Jahrhunderte alte kirchliche Kultur einfach mehr und mehr in Vergessenheit. Das tiefere Problem ist allerdings jene kirchliche Machtstruktur, die als „patriarchalisch“ bezeichnet wird: Viele erfahren sie als hochgradig ambivalent, lehnen sie ab und vermeiden entsprechend ihre Titelei. Ich kann das gut nachvollziehen, und persönlich ist mir die Anrede gleichgültig – übrigens meint „Herr“ ursprünglich einen privilegierten adligen Herrn und ist daher nicht weniger patriarchalisch.
Im alten, positiven Bild ist ein Vater gütig, fürsorglich und vorbildlich, er beschützt die Seinen und führt sie, er erzieht sie, fordert sie auch, stützt sie, und immer mit reiner Absicht und zu guten Zielen. Der geistliche Vater macht dasselbe in Religion und Spiritualität: Er nährt, schützt und pflegt das spirituelle Leben seiner geistlichen Kinder. Dabei wird seine Rolle als ein zwar schwaches, aber doch wirksames Symbol für einen Gott gesehen, der allen Menschen ein guter Vater ist und sich ihnen aus reiner Liebe zuwendet.
Ihren Ursprung hat das Bild vom geistlichen Vater bei Jesus, der seinen Gott „Abba/Vater“ nannte. Im frühen Christentum wurden zuerst Bischöfe „Vater“ genannt, außerdem die „Altväter“ unter den Eremiten, also alte weise Mönche, die junge Mönche im Geisterkampf unterstützten. „Vater“ war im Westen bald auch jener „Papa“ in Rom und jeder „Abbas/Abt“ eines Klosters – mit „Äbtissin“ unternahm man sogar eine heute seltsam klingende Feminbildung zu einer Art „Vaterin“. Später erst wurden alle Priester „Vater“ genannt: Sie sollten gütige geistliche Väter oder eben im modernen Sinn Seelsorger sein. Damit hat die Kirche recht problemlos das Familienmodell für christliche Gemeinden und Gemeinschaften übernommen.
Allerdings: Manche Väter missbrauchen ihre Kinder. Sie werden zu „Rabenvätern“ – auch wenn kein Rabe und auch sonst kein Tier so mit seinen Kindern umgeht. Ob es sich um Machtmissbrauch handelt oder um spirituellen oder um sexuellen Missbrauch: Jeder Missbrauch eigener Kinder hat etwas Inzestuöses, er ist innerhalb der Familie ein Verbrechen gegen die Schwächsten und damit gegen jene, die Gott besonders liebt. Er desavouiert das sonst so positive Vaterbild. Und wenn geistliche Väter ihre geistlichen Kinder missbrauchen, verdunkelt dieser Missbrauch auch das Gottesbild – solche Väter werden Gott und seine Liebe nicht verkünden, wie es ihr Auftrag wäre, sondern sie arbeiten gegen ihn, verraten ihn, beschmutzen sein Bild.
Menschen, die von einem geistlichen Vater missbraucht wurden, sagen kaum mehr je „Vater“. Viele bekommen beim gemeinsamen Beten des Vaterunsers einen dicken Hals und überspringen das erste Wort. Sind die geistlichen Väter also obsolet geworden? Gehören sie abgeschafft? Oder sollte man wenigstens die Vater-Titelei abschaffen? Kein Wunder jedenfalls, dass derzeit Bischöfe und Priester in Kollektivhaftung genommen werden und in Kirche und Gesellschaft besonders viel Beobachtung und Kritik, ja auch Ablehnung und Hassgefühle abbekommen. Sie repräsentieren das beschädigte Vaterbild.
Ja, die Kirche könnte das Wort Jesu, die Jünger sollten sich nicht „Vater“ nennen lassen – und übrigens auch nicht „Rabbi/Meister“ und nicht „Doktor/Lehrer“ (Mt 23,8-10) – für eine Zeit wirklich umsetzen. Mit Jesus, der sich selbst nie „Vater“ nennen ließ, sondern immer wieder als der „Sohn“ auftrat, wird die Kirche dabei auf den einzigen Vater, den im Himmel, verweisen. An kirchlichen „Vätern“ hängt derzeit zu viel Unväterliches. Die Kirche braucht eine Zeit der Demut und der Abgrenzung gegenüber allem Patriarchalismus. Der Titelverzicht ihrer Amtsträger wäre ein Symbol, nicht mehr, aber eines, das beitragen kann umzukehren, zu heilen und zu erneuern.
Vielleicht wird die Kirche später die geistliche Vaterschaft wiederentdecken – und zugleich die geistliche Mutterschaft! Beide dürfen zu wertvollen Bildern und Modellen für spirituelle Pädagogik werden: Eltern prägen ihre Kinder im umfassenden Sinn, sie nähren und beschützen sie, sie lehren und leiten sie. Sie vertrauen ihnen und vermitteln ihnen so Selbstvertrauen, Weisheit und Kraft. Sie leiten sie zu Eigenverantwortung an und entlassen sie, erwachsen geworden, in ihr eigenes Leben. Die Kirche muss über ihre Pädagogik reflektieren, und sie braucht Prävention und Kontrolle, so dass mächtige Eltern-Rollen nicht missbraucht werden. Nur so kann wirkliche geistliche Prägung und Begleitung wachsen. Dann dürfen geistliche Kinder ihre geistlichen Eltern und alle, die geistliche Ämter innehaben, mit freiem Herzen wieder „Pater“ und hoffentlich künftig auch „Mater“ nennen.