Im Herbst 2022 soll das monumentale Projekt „Genesis – Werke und Tage“ von Markus Lüpertz fertiggestellt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Obwohl das Kunstwerk noch gar nicht zu sehen ist, ist die Auseinandersetzung darum schon seit Jahren in vollem Gang. Ein wesentlicher Punkt der Kontroverse ist die Frage, ob religiös konnotierte Kunst im öffentlichen Raum sein darf. Zum anderen ist es gerade die Thematik der Schöpfung, die in besonderer Weise polarisiert.
Beim Genesis-Projekt handelt es sich um einen Zyklus von insgesamt vierzehn großflächigen Keramik-Reliefs, die gut sichtbar an den sieben unterirdischen Haltestellen der Karlsruher Straßenbahn platziert werden sollen. Jede der vierzehn Tafeln ist 4x2 Meter groß und besteht aus zehn Tonplatten, wobei jede dieser Platten zwischen 80 und 120 Kilogramm wiegt. Die Initiative zu diesem Projekt geht wesentlich auf Markus Lüpertz (geb. 1941) selbst zurück, der sich seit seiner Zeit als Professor an der Karlsruher Kunstakademie (1974-1986) der Stadt verbunden fühlt. Finanziert wurde das knapp eine Million Euro teure Vorhaben durch einen eigens dafür gegründeten Trägerverein, der die nötigen Geldmittel bei Sponsoren und privaten Spendern eingeworben hat.
Auf Seiten der politischen Leitung der Stadt Karlsruhe verbinden sich mit dem Projekt hohe Erwartungen hinsichtlich Resonanz und Renommee in der internationalen Kulturszene. Immerhin handelt es sich bei Markus Lüpertz um einen der prominentesten und einflussreichsten bildenden Künstler Deutschlands, dessen Werke häufig nicht nur faszinieren, sondern regelmäßig auch polarisieren. Hinzu tritt, dass sich der von den Medien nicht selten als „Malerfürst“ titulierte Lüpertz überaus öffentlichkeitswirksam zu inszenieren weiß, was die Süddeutsche Zeitung – unter Auslassung seiner Selbstinszenierung als künstlerisches Genie – in der Charakterisierung „berühmt, berüchtigt und stets gut gekleidet“ auf den Punkt brachte.
In der Karlsruher Öffentlichkeit allerdings war das Genesis-Projekt – von seinem Beginn im Jahr 2017 an – keineswegs unumstritten. Vorbehalte richteten sich u.a. gegen den als nicht ausreichend transparent empfundenen politischen Entscheidungsprozess sowie gegen die Person und das Profil des Künstlers. Unter religions- und kultursoziologischer Perspektive ist indessen von besonderer Bedeutung, dass sich ein eigener Schwerpunkt von Kritik mehr und mehr auf die inhaltliche Ausrichtung des Kunstwerks – die Schöpfungsthematik – fokussierte.
Das Karlsruher Stadtparlament votierte im Juli 2017 mit 28 zu 17 Stimmen zwar deutlich für das Lüpertz-Projekt, doch gab es in der zugehörigen Debatte über die Annahme des Kunst-Angebots Abgeordnetenstimmen, die ihre Ablehnung nachdrücklich mit inhaltlichen Bedenken untermauerten: Die Darstellung der biblischen Schöpfungsgeschichte könne als „christlicher Alleinvertretungsanspruch“ missverstanden werden, was die kulturelle Vielfalt der Stadt nicht angemessen widerspiegle. Man wolle keinen „patriarchalischen Schöpfungsmythos im öffentlichen Raum“. Zuvor und im Umfeld der Gemeinderatsentscheidung hatte sich auch der Direktor des Karlsruher Zentrums für Kunst und Medien (ZKM) äußerst kritisch zu Wort gemeldet: Das Genesis-Projekt stelle den Versuch der „Sakralisierung“ und rückwärtsgewandten Besetzung öffentlicher Räume durch christliche Symbole dar. Eine „anachronistische Technik wie die Kachelmalerei“ sei zudem in einer modernen Hightech-Metropole wie Karlsruhe „absurd“. Die Vorstellung, dass ein solches Kunstwerk „zur Touristensensation“ werde, sei „aberwitzig“.
Entgegen diesen Voraussagen der Irrelevanz hat die Genesis-Debatte allerdings die Stadtöffentlichkeit Karlsruhes in großer Breite mobilisiert. Abzulesen ist dies an der Vielzahl und Vehemenz der zu diesem Thema erschienenen Leserbriefe. Allein in den „Badischen Neuesten Nachrichten“, der Karlsruher Regionalzeitung, wurden zwischen 2017 und 2022 über 45 Lesermeinungen dazu abgedruckt, hinzu treten weitere Leserbriefe in überregionalen Zeitungen wie der Süddeutschen Zeitung. Der Blick auf diese Voten ist religions-, kultur- und mentalitätswissenschaftlich aufschlussreich, zumal Karlsruhe als ein gar nicht einmal untypisches Soziotop einer mittelgroßen westdeutschen Großstadt gelten kann.
Der weitaus größte Teil der Leserbriefe äußert sich zentral oder (zumindest) ergänzend zum inhaltlichen Gegenstand der Installation. Stellt man zunächst die ablehnenden Stimmen in den Fokus, trifft man auf die folgenden wiederkehrenden Argumentationsmuster: Kultursoziologisch erwartbar wird von manchen Gegnern des Projekts die Schöpfungsthematik in Opposition zur Naturwissenschaft erfasst und kritisiert: „Die Evolution ist inzwischen wissenschaftlich erwiesen. Warum sollen wir mit einem Kunstwerk über eine vorgestrige, unrealistische Geschichte konfrontiert werden?“ Damit eng verbunden ist der Vorwurf der Unzeitgemäßheit, der Rückständigkeit und des Veralteten: Man solle die „Verschönerung der U-Bahnwände nicht einseitig mit einer Bibelgeschichte befrachten“; warum könne es nicht „ein Themenkreis sein, der die Gefühle, Sehnsüchte und Gedanken der jetzigen Epoche widerspiegelt“, wie zum Beispiel: „Karlsruhe als Protagonist und Vorreiter zum Schutz unserer Umwelt. Karlsruhe als Zentrum moderner Technologien und Zukunftsentwicklungen.“ Oder wolle man etwa „mit dem Alten Testament Reklame machen? Warum nicht gleich mit den Neandertalern?“ Von nicht wenigen wird das Genesis-Projekt zudem als Werbung und Image-Kampagne für die Kirchen aufgefasst und kritisiert: Es sei eine „private Besetzung“ öffentlichen Raums „nach Maßgabe von Geld und Religion“. Man müsse entsprechend die Frage stellen: Will man der Kirche „ausgerechnet in diesen Tagen eine derartige Aufwertung angedeihen lassen? Hat sie das wirklich verdient?“
Von besonderem Gewicht als Indikator aktuellen Gegenwartsverständnisses können darüber hinaus diejenigen Stimmen aufgefasst werden, die – für sich und die Gesellschaft – das Recht auf „Religionsfreiheit“ einfordern und dieses stringent als passive Freiheit, also als Freiheit von Religion, zum Ausdruck bringen: „Es gibt viele Menschen, die mit der Kirche nichts zu tun haben oder sich ganz bewusst von ihr getrennt haben. Man schaue sich nur einmal die Zahlen der Kirchenaustritte an. Müssen all diese Menschen auf ihrem Arbeitsweg oder Weg in die Stadt auf jeder einzelnen U-Bahn-Station tagtäglich mit der Schöpfungsgeschichte konfrontiert werden?“ Es gebe schließlich „höchstrichterliche Entscheidungen“, die „in öffentlichen Räumen (z.B. Schulen) die Anbringung religiöser Symbole untersagen“. Wo bleibe denn in Karlsruhe die „Trennung von Kirche und Staat“ bzw. die Einhaltung des Gebots der „weltanschaulichen Neutralität“ des Staates? Ein Leserbriefschreiber bezweifelt vor dem Hintergrund des Streits sogar den Sinn von Kunst im öffentlichen Raum generell: „Die Stationen sind Kunst genug und brauchen keine unnötigen Kunstprojekte.“ Seine Empfehlung lautet daher: „einstampfen und das Geld richtig investieren“.
Die ablehnenden Stimmen haben in anderen Leserbriefen Antworten und Erwiderungen erfahren. Manche wollen besonders den kulturellen Wert des Projekts herausheben: „dem Projekt wohnt ein Zauber inne“; „Kunstprojekt mit Weltgeltung“; „mystisches Gänsehautthema“; kulturelle „Jahrhundertchance“. Andere widmen sich ausdrücklich der religiösen Dimension, wobei hinsichtlich der Genesis-Thematik u.a. deren interkulturelle (eine Welt, eine Schöpfung), interreligiöse (Schöpfung als verbindende Anschauung aller Weltreligionen), ökumenische (Schöpfung als gemeinsames Thema der christlichen Konfessionen), lebensweltlich-philosophische (Nachdenken über die Grundlagen des Seins und der Sozialität) und ethische Chancen (Nachhaltigkeit, Bewahrung der Schöpfung) hervorgehoben werden. Darüber hinaus wurde in einigen Leserbriefen auch die Debatte selbst kritisch analysiert: z.B. als „immer stärker beobachtbare Intoleranz gegenüber religiösen Dimensionen unserer Gesellschaft“ und als „neue Aversion gegen Religion im öffentlichen Raum“. Wenn man dieser Aversion folgen wolle, dann müsse man „eine Menge abräumen, nicht nur in Karlsruhe“.
Ein Zwischenfazit: Wer die plastischen Arbeiten von Markus Lüpertz (z.B. in Salzburg, Bonn oder Augsburg) kennt, wird nicht erwarten, dass die Reliefs zur Genesis im konventionellen Sinne ästhetisch schön oder gar gefällig ausfallen könnten. Lüpertz selbst hat hierzu oft genug betont: „Kunst muss nicht gefallen, mit Kunst muss man sich auseinandersetzen“.
Im Blick auf die Auseinandersetzung in Karlsruhe ist nicht zu übersehen, dass dem inhaltlichen Gegenstand des Kunstprojekts eine Schlüsselbedeutung zukommt: Durch die prominente Platzierung des Kunstwerks im öffentlichen Raum wird von Lüpertz nämlich die aktuelle Relevanz der Genesis-Thematik behauptet. Mindestens implizit wird darin zur Beschäftigung mit den Fragen herausgefordert, ob es Gott gibt, ob dieser Gott etwas mit der Welt und den Menschen zu tun haben könnte, ob das Handeln dieses Gottes überhaupt erst die Basis menschlicher Freiheit sein könnte. Von manchen Kritikern wird eben dies offenbar als Zumutung empfunden.
Unter theologischen Gesichtspunkten kann die geschilderte Debatte als Seismograf der aktuellen religions-, kultur- und mentalitätsoziologischen Situation erfasst werden. Die Betrachtung der Leserbriefreaktionen kann dabei zeigen, in wie großem Maß religiös bedeutsame Themen öffentlich mobilisieren und zur Auseinandersetzung mit Religion herausfordern können. Dass die Reaktionen in der ganzen Breite von enthusiastischer Zustimmung bis zu vehementer Ablehnung ausfallen – und das schon lange vor der Enthüllung der Werke –, ist in einer demokratischen, pluralen und liberalen Gesellschaft selbstverständlich, gut und richtig. Die Theologie darf sich vor diesem Hintergrund erst recht dazu aufgefordert fühlen, wesentliche Dimensionen der Schöpfungsthematik in den Diskurs einzubringen und ins Licht zu stellen. Wie wäre es zum Beispiel mit den Perspektiven: Schöpfung als Gegenwartsaussage, Schöpfung als Beziehungsaussage, Schöpfung als Vision und Aufruf zu befreiendem Handeln?