Gregor MendelPionier der Vererbungslehre

Am 20. Juli jährt sich der 200. Geburtstag von Gregor Mendel (1822-1884), einem Pionier der Vererbungslehre, dessen Erkenntnisse Ausgangspunkt für wichtige Forschungsrichtungen in den Lebenswissenschaften und die Entwicklung modernster technischer Anwendungen waren. Trotzdem sind der historische Kontext, die Durchführung und die Details seiner Experimente oft wenig bekannt. Darüber hinaus steht der Augustinermönch Gregor Mendel repräsentativ für einen Menschen, der zugleich ein exzellenter Wissenschaftler und ein sehr religiöser Mensch war. Markus Kunze forscht in der Abteilung „Pathobiologie des Nervensystems“ am Zentrum für Hirnforschung der Medizinischen Universität Wien.

Gregor Mendel wurde als Johannes Mendel 1822 in Heinzendorf (Hynčice) in Nordmähren geboren, das damals zum österreichischen Kaiserreich gehörte und wo seine Eltern einen kleinen Hof bewirtschafteten.1 Früh wurde seine Begabung erkannt und durch Vermittlung des Pfarrers kam er nach der Dorfschule ins Gymnasium in Troppau (Opava) und konnte sogar einige Semester an der Universität Olmütz (Olomouc) studieren. Allerdings war der andauernde Geldmangel, den Mendel durch zeitraubende Nachhilfetätigkeiten nur teilweise kompensieren konnte, derart belastend, dass er das Studium aufgab und 1843 in der mährischen Provinzhauptstadt Brünn (Brno) in das Kloster St. Thomas der Augustiner Eremiten eintrat und den Namen Gregor annahm. Dort studierte Mendel Theologie und wurde 1847 zum Priester geweiht, konnte aber auch seine universitäre Ausbildung im Bereich Landwirtschaft weiterführen. Letzteres erwies sich als günstig, als sich herausstellte, dass er für seelsorgliche Tätigkeiten in einer Pfarre wenig geeignet war und fortan im Schuldienst eingesetzt wurde, wobei er lange Zeit ein beliebter Aushilfslehrer im Gymnasium Znaim (Znojmo) und später in Brünn war.

Schuldienst und Vermittlung landwirtschaftlichen Spezialwissens an die Bevölkerung waren wichtige Aufgabengebiete des Klosters, um die seit den Reformen des österreichischen Kaisers Josephs II. (1741-1790) erwartete Nützlichkeit für die Gesellschaft nachzuweisen. Abt Cyrill Napp (1782-1868) und einige andere Mönche hatten aber auch rein wissenschaftliche Interessen, und so hatte das Kloster einen Experimentiergarten, ein Herbar, eine mineralogische Sammlung, meteorologische Instrumente und eine große und aktuelle Bibliothek. In diesem wissenschaftsfreundlichen Kontext konnte Mendel seine Interessen verfolgen, und der Abt ermöglichte ihm für mehrere Jahre weiterführende Studien an der Universität Wien (1851-1853), wo er unter anderem Vorlesungen in Mathematik, Physik und Biologie belegte. Schon bald nach seiner Rückkunft begann Mendel langjährige botanische Untersuchungen, wofür ihm neben ausgedehnten Bereichen im allgemeinen Klostergarten auch ein Teil des Prälatengartens des Abts, ein Teil des Gewächshauses und in späteren Zeiten sogar Ackerland außerhalb der Klostermauern zur Verfügung standen. Neben den groß angelegten Versuchen zur Vererbung pflanzlicher Eigenschaften bei Erbsen studierte er auch verschiedene andere krautige Pflanzen und Obstbäume, züchtete Bienen und baute ein großes Bienenhaus. Sein breites wissenschaftliches Interesse spiegelt sich auch in der Erhebung anderer mehrjähriger Datenserien wie die des Wasserstands des Klosterbrunnens oder des lokalen Klimas und deren statistischer Auswertung.

Seine Beobachtungen stellte Mendel der Meteorologischen Zentralanstalt in Wien zur Verfügung, veröffentlichte neun Arbeiten zu Meteorologie und verstand sich auch als Meteorologe.2 Bei diesem breiten Interesse wundert es kaum, dass Mendel aktives Mitglied in verschiedenen wissenschaftsnahen Vereinen3 war. Die Ergebnisse seiner Experimente mit Erbsen stellte Mendel in der Versammlung des Naturforschenden Vereins in Brünn vor und veröffentlichte sie anschließend in dessen Journal.4 Es schmerzte Mendel, dass zu seinen Lebzeiten diese Forschungsleistung kaum Aufmerksamkeit durch andere Wissenschaftler erfuhr,5 er blieb aber von ihrer Relevanz überzeugt. Trotzdem war er stärker mit der universitären Forschung verbunden, als man früher annahm, besuchte internationale Versammlungen und korrespondierte mit bedeutenden Botanikern.6 Als Mendel 1868 zum Abt gewählt wurde, gab er seine Lehrertätigkeit auf, um sich voll der Leitung des Klosters zu widmen. Daher hatte er auch für seine wissenschaftlichen Untersuchungen immer weniger Zeit und gab sie schließlich gänzlich auf, wozu möglicherweise auch eine weitreichende Schädigung seiner großen Erbsenzucht durch Käferbefall beigetragen hat. Als Abt protestierte Mendel mehrfach, aber erfolglos gegen eine ungerecht empfundene Besteuerung des Klosters.

Mit zunehmendem Alter litt er fortschreitendend unter einer allgemeinen Ermattung seines Körpers, aber auch unter Nierenproblemen, und starb am 6. Januar 1884. Nachrufe und Danksagungen zeigen eine enge Beziehung zu den Menschen in den dem Kloster zugeordneten Gemeinden, die er über viele Jahre in verschiedener Weise unterstützt hatte. Das Kloster und die lokale Bevölkerung hielten zwar sein Andenken hoch, aber während der kommunistischen Herrschaft wurde das Kloster in eine Fabrik umgewidmet und die Statue Mendels in deren Innenhof verlegt. Trotzdem konnten sein Gedächtnis und auch viele Unterlagen erhalten werden.7 Nach dem Ende des kommunistischen Regimes wurden seine Forschungstagebücher gemeinsam mit verschiedenen anderen Instrumenten im Rahmen einer allgemeinen Rückgabe enteigneten Kircheneigentums zurückgegeben. Seit 2002 gibt es in Brünn (Brno) ein modernes Museum, das Gregor Mendel gewidmet ist8 und sich in der heutigen Form den gemeinsamen Bemühungen des Augustinerordens und der Masaryk University in Brünn verdankt.

Wissenschaftliche Untersuchungen

Auch wenn man die Suche nach den Regelmäßigkeiten der Vererbung von tierischen und pflanzlichen Eigenschaften im 18. Jahrhundert vor allem mit dem britischen Schafzüchter Robert Bakewell (1725-1795) oder den deutschen Botanikern Joseph Gottlieb Kölreuter (1733-1806) und Carl Friedrich von Gärtner (1772-1850) verbindet, entstand Mendels wissenschaftliche Arbeit ebenfalls in einem Umfeld, in dem diese Forschung Tradition hatte. Allerdings erfolgte sie meist in den Bereichen Tierzucht, Landwirtschaft und Gartenbau, wobei Züchter versuchten, durch Kreuzung die Wollqualität oder Ernteerträge zu verbessern, neue Blütenfarben zu erhalten, oder eine bessere Anpassung von Tieren und Pflanzen an das lokale Klima oder spezielle Schädlinge zu erreichen.

In der Habsburgermonarchie war die Schafzucht in Mähren ein wirtschaftlicher Antriebsmotor, und Brünn wurde gelegentlich sogar als „Österreichisches Manchester“ bezeichnet. Bei Versuchen, die Wollqualität durch Kreuzung mit nicht-regionalen Schafen zu verbessern, stellte es ein ökonomisch schwerwiegendes Problem dar, dass mühsam erhaltene neue Eigenschaften oft schlecht weitervererbt wurden und in der nächsten Generation viele Nachkommen den lokalen Vorläufern glichen. Während fähige Schafzüchter ihre Beobachtungen sammelten und daraus praktische Anleitungen zur erfolgreichen Zucht formulierten,9 versuchten außeruniversitäre Forscher10 im Austausch mit lokalen Schafzüchtern, deren Beobachtungen zu sammeln, Hypothesen zu formulieren und gezielte Vorschläge zu machen. Dieser Austausch erfolgte besonders bei den Treffen von lokalen Fachgesellschaften, an denen auch Mönche wie Mendels Abt Napp teilnahmen, wobei sie wissenschaftliches Interesse mit dem Versuch verbanden, den Menschen vor Ort zu helfen. Von Napp ist überliefert, dass er sich speziell für die Regelmäßigkeiten der Vererbung und deren materielle Grundlage interessierte.11

Mendel beschloss, die Vererbung von Eigenschaften über mehrere Generationen an Pflanzen zu studieren, weil dort ähnliche Vererbungsmuster beobachtet worden waren und er im Kloster bei vergleichsweise geringem Platzbedarf viele Einzelpflanzen gleichzeitig untersuchen konnte. Erbsenpflanzen hatten den Vorteil, dass ihre vielen verschiedenen Formen meist gut kreuzbar und ihre Samen (Erbsen) essbar sind. Die Besonderheit von Mendels Untersuchungen war die große Systematizität, mit der er seine Experimente geplant, vorbereitet und durchgeführt hat, wobei die quantifizierende Auswertung einer sehr großen Anzahl an Pflanzen auch eine mathematische Analyse erlaubte. Erbsenpflanzen kommen zwar in sehr verschiedenen Formen vor, teilen aber den Lebenszyklus (Fig.1A), bei dem in jeder Blüte sowohl männliche Keimzellen (Pollen) in den Staubblättern als auch weibliche Keimzellen (Eizellen) im Fruchtknoten gebildet werden. Nach der Befruchtung entsteht aus der Blüte eine Schutzhülle (botanisch Hülse, umgangssprachlich auch Schote genannt), in der mehrere Samen als neue Individuen heranwachsen, von denen jeder das Ergebnis einer eigenen Befruchtung ist und aus dem sich wieder eine neue Pflanze entwickeln kann.

Während Schafzüchter gezielt Tiere verschiedener Rassen kreuzten, verwendeten Pflanzenzüchter künstliche Bestäubung (Hybridisierung), um das gleiche Ziel zu erreichen. Dabei werden in der Blüte der einen Pflanze schon vor der Reifung die Staubblätter entfernt und in diese funktionell weibliche Blüte mit einem Pinsel Pollen aus der Blüte der anderen Pflanze eingebracht. Da bei Erbsen normalerweise der Pollen schon innerhalb einer Blüte übertragen wird, bevor sich diese öffnet, erfolgt ohne Intervention fast ausschließlich Selbstbefruchtung. Dabei wird kein weiteres Erbmaterial eingebracht, und Mendel konnte daher die Weitergabe der Eigenschaften über mehrere Generationen studieren (Fig.1B). Da er die Vererbung verschiedener Eigenschaften verfolgen wollte, verschaffte er sich Zugang zu 34 „Erbsenarten“12 und legte sich nach einigen Vorversuchen auf sieben Eigenschaften und elf „Ausgangsarten“ fest. Bei Letzteren stellte er sicher, dass er über mehrere Generationen nie abweichende Erscheinungsformen fand, und diese daher reinerbig (homozygot) waren. Bei den gewählten Eigenschaften konnte er den Pflanzen jeder „Art“ eindeutig eine von zwei Ausprägungen zuordnen (z.B. glatte oder runzelige Erbsen), und bei Hybridisierung von Elternpflanzen (parental, P) mit verschiedenen Ausprägungen entstanden nur Tochterpflanzen (filial, F), die in der Ausprägung eindeutig einer der Elternpflanzen entsprachen und keine Tendenz zu Zwischenformen zeigten. Jene Ausprägung, die bei Tochterpflanzen gefunden wurde, nannte er dominant, jene, die nicht zu finden war, rezessiv. Zu diesen Eigenschaften zählten früh bestimmbare, wie die Form des Samens (Erbse), die Farbe von dessen innerem Speichergewebe (Albumen) oder die der Samenschale, aber auch solche, die erst im Folgejahr beobachtet werden können, wie die Höhe der Pflanze (= die Größe), die Position der Blüten auf der Pflanze, die Hülsenform und -farbe oder die Blütenfarbe.13

Mit diesen gut definierten Ausgangsbedingungen führte Mendel seinen großen Versuch durch,14 bei dem er wohl mehr als 28.000 Pflanzen untersuchte und dokumentierte (Fig.1B). Er hybridisierte jeweils Elternpflanzen von zwei verschiedenen „Arten“ (P), die sich in einigen der Eigenschaften (z.B. Blütenfarbe oder Erbsenform) klar unterschieden, und beschrieb die Ausprägung der Eigenschaften in der ersten Tochtergeneration (F1), entweder in der Erbse (Form) oder in der neu herangewachsenen Pflanze (z.B. Blütenfarbe in Fig.1B)15. Nachdem sich diese Pflanzen (F1) durch Selbstbestäubung erneut fortgepflanzt hatten, konnte Mendel die Ausprägung der Eigenschaften der neuen Pflanzen (F2) an den Erbsen oder der Gesamtpflanze dokumentieren. In gleicher Weise konnte er die Weitergabe der Eigenschaften von F2-Pflanzen auf F3-Pflanzen durch Selbstbestäubung beobachten.

Die Ergebnisse dieser Experimente sind bekannt und können wie folgt zusammengefasst werden:

  • P → F1: Bei der Hybridisierung von Elternpflanzen (P) mit verschiedenen Ausprägungen der gewählten Eigenschaften entstanden immer Tochterpflanzen (F1) mit der gleichen, dominanten Ausprägung (rot). Diese Beobachtung ist als Homogenisierungsregel oder auch als 1. Mendelsche Regel bekannt.
  • F1 → F2: Bei Weitergabe der Eigenschaften von F1-Pflanzen auf F2-Pflanzen treten unter den F2-Pflanzen wieder solche mit rezessiver Ausprägung der Eigenschaft (weiß) auf, obwohl alle F1-Pflanzen die dominante Ausprägung (rot) zeigten. Das numerische Verhältnis von Pflanzen mit dominanter Ausprägung zu denen mit rezessiver Ausprägung beträgt bei einer großen Zahl untersuchter Pflanzen 3:1. Das beschreibt die Aufspaltungsregel oder die
    2. Mendelsche Regel.
  • F1 → F2: Wird gleichzeitig die Weitergabe mehrerer Eigenschaften (z.B. Erbsenform und Blütenfarbe) von F1-Pflanzen auf F2-Pflanzen untersucht, zeigt sich kein Hinweis darauf, dass die Verteilung der beiden Ausprägungen der einen Eigenschaft von der Verteilung der beiden Ausprägungen der anderen Eigenschaft beeinflusst wird. Die Auswertung der Verteilungsmuster entspricht vielmehr den Erwartungen für eine unabhängige Vererbung der Eigenschaften. Das entspricht der Unabhängigkeitsregel oder der 3. Mendelschen Regel.

Da Mendel auch noch das Vererbungsmuster von Eigenschaften von Pflanzen der F2-Generation auf solche der F3-Generation detailliert untersuchte, konnte er Folgendes beobachten: Während aus allen F2-Planzen mit rezessiver Ausprägung (weiß) ausschließlich Pflanzen mit dieser Ausprägung entstanden, zeigten Pflanzen mit dominanter Ausprägung (rot) kein eindeutiges Vererbungsmuster. In einem Drittel entstanden ausschließlich Pflanzen mit dominanter Ausprägung, wie bei den ursprünglichen P-Pflanzen, während aus zwei Dritteln dieser Pflanzen sowohl solche mit dominanter als auch solche mit rezessiver Ausprägung im Verhältnis von 3:1 entstanden, wie bei F1-Pflanzen (Fig.1B).

Mendel überlegte, dass die beobachteten Vererbungsmuster gut verstehbar wären, wenn Pflanzen für jede der verschiedenen Eigenschaften je zwei Kopien eines in seiner Identität unbekannten Faktors enthalten würden (Fig.1C). Diese Faktoren könnten in ihrer Kombination für die Ausprägung der Eigenschaft im Experiment verantwortlich sein, wobei sie selbst zueinander in einem Verhältnis von dominant (rotes Quadrat) und rezessiv (weißer Kreis) stehen würden.16 In diesem Fall enthielten reinerbige Pflanzen der P-Generation zwei gleiche Kopien des Faktors (z.B. 2x Quadrat oder 2x Kreis), während Pflanzen der F1-Generation verschiedene Faktoren (z.B. 1x Quadrat und 1x Kreis) enthielten, aber wegen der Dominanz des einen Faktors (Quadrat) auch die dominante Eigenschaftsausprägung (rot) zeigen. In jeder Blüte würden dann sowohl in den Pollenzellen als auch in den Eizellen entsprechend Pakete mit jeweils einer Kopie eines solchen Faktors gebildet, wobei die Pakete aus den verfügbaren Faktoren gebildet werden und daher entweder alle gleich sind (z.B. bei P-Pflanzen) oder im Verhältnis 1:1 vorliegen (z.B. bei F1-Pflanzen). Während bei der Hybridisierung jeweils Pakete von verschiedenen Elternpflanzen kombiniert werden (P => F1), kommt es bei Selbstbefruchtung zur zufälligen Kombination der verfügbaren Faktoren (F1 => F2; F2 => F3). In beiden Fällen entsteht eine neue Pflanze, bei der die Ausprägung der jeweiligen Eigenschaft der Kombination der Faktoren entspricht.17 Auch das Vererbungsmuster beim Übergang von F2 zu F3 Pflanzen kann so erklärt werden, weil die dominante Ausprägung der Eigenschaft bei F2-Pflanzen zu 1/3 durch zwei gleiche Faktoren und zu 2/3 durch verschiedene Faktoren verursacht wird (Fig.1C).

Um seine Beobachtung zu verallgemeinern, führte Mendel in der Folge ähnliche Vererbungsexperimente mit anderen Pflanzen wie Gartenbohne, Habichtskraut, Fuchsien und manchen Obstbäumen, aber auch mit Bienen durch, wobei diese Ergebnisse wegen experimenteller Schwierigkeiten nicht eindeutig oder nicht auswertbar waren. Die Veröffentlichung seiner Arbeit erfuhr zwar zunächst keine besondere Aufmerksamkeit, aber um 1900 erregte seine Arbeit unvermutet großes Interesse, weil in unabhängigen Publikationen die bekannten Botaniker Hugo de Vries und Carl Correns, aber auch Erich Tschermak-Seysenegg auf Mendels Arbeit zurückgriffen und diese damit doch anerkannt wurde. Für die publikumswirksame Verbreitung von Mendels Ergebnissen setzte sich aber besonders der britische Genetiker William Bateson (1861-1926) ein, der auch die Mendelschen Regeln ausformulierte. In den 1930er-Jahren wurde Mendels Arbeit erneut diskutiert, weil der Genetiker Ronald Fischer (1890-1962) anmerkte, dass Mendels experimentelle Ergebnisse näher an den erwarteten Ergebnissen liegen als statistisch zu erwarten wäre. Die Frage, ob Mendel oder einer seiner Mitarbeiter bewusst oder unbewusst Daten verändert haben könnten, war Gegenstand heftiger Diskussionen, und obwohl das letzte Wort noch nicht gesprochen scheint, erkennt die Mehrheit der Wissenschaftler die Leistung Mendels an, und der Rest vermutet zumeist keine absichtliche Manipulation.18

Weiterführende Entwicklungen

Obwohl es von den Experimenten Mendels zum heutigen Stand der Genetik noch ein weiter Weg war, lassen sich doch Entwicklungslinien zu zentralen Erkenntnissen im 20. Jahrhundert herstellen, die die Bezeichnung Mendels als einem „Vater der Genetik“ rechtfertigen. Zur Illustration sollen beispielhaft vier davon skizziert werden:

1. Molekulare Grundlage der Vererbung: Die Identifikation von Desoxyribonukleinsäure (deoxyribonucleic acid, DNA) als Mendels Erb-„Faktoren“ war schwierig. Ein Forschungsstrang führte von der Isolierung einer hochmolekularen Substanz aus weißen Blutkörperchen (1869) über die Aufklärung ihrer chemischen Zusammensetzung und die Identifizierung ihrer linear angeordneten Elemente (Nukleotide) bis zur Aufklärung der Struktur der DNA als eine umeinander gewundene, gegenläufige Doppelhelix (1953). Ein anderer Strang führte von der ersten mikroskopischen Beobachtung gefärbter Strukturen in Zellkernen, die man heute als Chromosomen kennt, über die Beobachtung dieser Strukturen in verschiedenen Phasen der Keimzellbildung und des Bestäubungsvorgangs bis zum experimentellen Nachweis, dass in einem Bakterium die Übertragung einzelner Eigenschaften von der Anwesenheit der DNA abhängt.

2. Erbkrankheiten: Auch wenn das gehäufte Auftreten mancher Krankheiten in einzelnen Familien lange bekannt war, wurde 1902 erstmals vorgeschlagen, dass manche Stoffwechselerkrankungen vererbt werden.19 Dabei wird eine Krankheit nach den gleichen rezessiven oder dominanten Vererbungsmustern weitergegeben wie die Eigenschaften von Erbsenpflanzen, wobei die Ursache solcher Erkrankungen meist in punktuellen Veränderungen der genomischen DNA liegt. Die Zahl von Erkrankungen, die auf Veränderungen in einem einzigen Gen zurückzuführen sind, steigt jedes Jahr, und die Erkenntnisse werden in einer Datenbank gesammelt, die Gregor Mendels Namen trägt: „Online Mendelian Inheritance in Man“ (OMIM, <www.omim.org>).

3. Verallgemeinerung des Mechanismus der Vererbung: Neben der von Mendel untersuchten Vererbung diskreter Eigenschaften, die entweder in der einen oder der anderen Ausprägung auftreten, hat sich eine zweite Forschungsrichtung mit der Vererbung von graduellen Eigenschaften wie der Körpergröße beschäftigt. Dabei versucht man heute mit anspruchsvollen statistischen Methoden, den Zusammenhang zwischen Variationen an einzelnen Positionen der DNA-Sequenz und der Ausprägung solcher Eigenschaften zu verstehen. Auch wenn die individuelle Ausprägung einer graduellen Eigenschaft durch das Zusammenwirken verschiedener Gene und die Kombination verschiedener Varianten von Genabschnitten verursacht wird, folgt die Vererbung jedes einzelnen DNA-Elements doch dem gleichen Mechanismus, den Mendel beschrieben hat.

4. Genetik in der Landwirtschaft: Die Erkenntnisse Mendels erlaubten es Züchtern, ihre Erfahrungen und praktische Ratschläge durch ein theoretisches Modell zu ergänzen und manche unverstandenen Beobachtungen zu erklären. Nachdem der Zusammenhang zwischen Veränderungen der genetischen Anlage und veränderten Eigenschaften erkannt worden war, begann man, die Vielfältigkeit der Erbanlagen durch künstliche Eingriffe zu erhöhen (z.B. durch Bestrahlung der Samen), die daraus erhaltenen Pflanzen einzeln zu untersuchen und jene mit gewünschten Eigenschaften durch gezielte Rückkreuzungen zu kombinieren. Später ermöglichten gentechnologische Methoden die gezielte Veränderung der genetischen Anlage von Pflanzen, wobei entweder einzelne Gene inaktiviert wurden (z.B. das Gen, das die Gewebezersetzung von Tomaten auslöst) oder ein zusätzlicher Genabschnitt eingeführt wurde (z.B. ein Gen, das Resistenz gegen bestimmte Unkrautvernichtungsmittel vermittelt). In der modernen Pflanzenzüchtung wird auch versucht, den Zusammenhang zwischen kleinen Variationen zwischen den Genomen etablierter Pflanzen und deren Eigenschaften quantifizierend abzuschätzen. Ein besseres Verständnis solcher Unterschiede soll gezielte Kreuzungen bereits etablierter Pflanzen schneller und zielgerichteter machen. Ergänzend bieten moderne gentechnische Methoden, wie die so genannte „Genschere“ CRISPR-CAS9 (Nobelpreis 2020), auch die Möglichkeit, einzelne Genabschnitte sowohl gezielt als auch rasch zu verändern.

Genetik und Gesellschaft

Die gesellschaftliche Relevanz jener Entwicklungen, die mit den Experimenten Gregor Mendels begonnen haben, ist vielfältig und kann aus Platzgründen nur angedeutet werden. Das Verständnis der Erblichkeit pflanzlicher, tierischer und menschlicher Eigenschaften hat sich stark weiterentwickelt und ist im Bildungskanon fest verwurzelt. Gleichzeitig gibt es zum Teil hitzige Diskussionen über den Beitrag erblicher Einflüsse auf komplexe menschliche Eigenschaften und Fähigkeiten. Dabei scheinen Extrempositionen, die entweder erbliche oder soziale Faktoren als einzig relevanten Beitrag ansehen, langsam weniger einflussreich zu werden, wenngleich eine wirklich interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den Lebens- und Sozialwissenschaften oft noch in den Kinderschuhen steckt.

Die Anwendung von Technologien, die auf genetischen Erkenntnissen beruhen, wird gesellschaftlich allerdings zwiespältig aufgenommen, was nicht zuletzt auch als Echo der politischen Vereinnahmungen der Vererbungslehre während des 20. Jahrhunderts gedeutet werden kann. Während der Fortschritt im Verständnis von Erbkrankheiten und die Entwicklung neuer Therapien weitgehend positiv gesehen werden, ist die Skepsis gegenüber der Verwendung gentechnologischer Methoden in Landwirtschaft und Lebensmittelherstellung groß. Bei näherer Betrachtung besteht allerdings in beiden Bereichen, wie bei allen neuen Technologien, breiter Diskussionsbedarf, der Chancen und Risiken abschätzt und gegeneinander abwägt. Das betrifft sowohl Gefahren von medizinischen und ökologischen Folgeschäden als auch die Abschätzung von sozialen Folgen und die Kompatibilität mit Menschen- und Grundrechten. Dabei könnte eine vielstimmige öffentliche Diskussion, die die Beiträge verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen wertschätzt und miteinander ins Gespräch bringt, den gesellschaftlichen und politischen Austausch begleiten und unterstützen.

Mendels naturwissenschaftliche Erkenntnisse wurden durch persönliche Begabung, vielfältiges Interesse, eine gute Ausbildung in einem wissenschaftlich interessierten Umfeld, aber auch durch die günstigen Forschungsbedingungen mit einem abgesicherten Leben im Kloster möglich. Dabei zeigt Mendels Lebensgeschichte auch, dass religiöse Überzeugungen mit den Idealen systematischer und unvoreingenommener Forschung gut vereinbar sind, und dass in den „fortschrittlichen“ Bereichen der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts wissenschaftliche Forschung nicht nur möglich war, sondern sogar gefördert wurde. In zahlreichen europäischen Ländern herrschte in liberal eingestellten Klöstern und Orden eine forschungsfreundliche Einstellung, die sich seit dem 18. Jahrhundert in großen Naturaliensammlungen, aber auch Sternwarten und Türmen für meteorologische Untersuchungen widerspiegelte. Diese Forschung war oft Ausdruck einer auch im katholischen Bereich vorhandenen Aufklärungsbewegung,20 die in der Überzeugung gründete, die Glaubwürdigkeit und Anschlussfähigkeit des christlichen Glaubens an neue wissenschaftliche Entwicklungen zeigen zu können. Darüber hinaus wurde Mendels Forschung neben seinem wissenschaftlichen Interesse auch vom Wunsch getrieben, den lokalen Züchtern und Bauern zu helfen, indem er ihre züchterischen Aktivitäten durch gut begründete Regeln effektiver und langfristig ertragreicher machte. Er verband auf diese Weise Traditionen von christlich unterlegter Wissenschaft und pastoraler Zuwendung mit den Erfordernissen einer sich modernisierenden Landwirtschaft in der Habsburgermonarchie des 19. Jahrhunderts.

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