Herr Stadtdekan Knecht, die katholische Kirche zerbröselt ja gerade, zerlegt sich auch selbst. Wie geht es Ihnen damit, dass Ihnen der ökumenische Partner abhandenkommt?
Knecht: Ich bin sehr froh, dass ich hier vor Ort als Partner Johannes zu Eltz habe. Er zerbröselt nicht, sondern er hält in diesen für die katholische Kirche schwierigen Zeiten einen beeindruckenden Kurs und geht konstruktiv mit den berechtigten Kritikpunkten an der Kirche um. Manche strittigen Themen der katholischen Kirche sind für uns Evangelische ja weniger relevant. Mit Johannes zu Eltz kann man sehr offen reden.
Herr Stadtdekan zu Eltz, auch die evangelische Kirche schrumpft ja. Vielleicht aus anderen Gründen und in anderer Weise, es ist mehr die Verdunstung von Glauben und Kirche – auch Ihnen schwindet der ökumenische Partner. Wie geht es Ihnen damit?
Zu Eltz: Wir sind gemeinsam dem Säkularisierungsdruck in den westlichen Gesellschaften ausgesetzt und können gar nicht so viel richtig machen, dass wir uns diesem Megatrend wirksam in den Weg stellen oder gar ihn umdrehen könnten. Ich habe gelernt, diesen Trend nicht als Niedergang zu bejammern, sondern ihn als ein Zeichen der Zeit zu sehen und da und dort auch als ein aufregendes Zeichen von Sättigung einer säkularen Gesellschaft mit Evangeliumssubstanz. Ich habe ein fröhlich-ambivalentes Verhältnis zu diesen Prozessen und sehne mich nicht nach Zeiten zurück, in denen beide Kirchen Vormachtstellungen in der Gesellschaft hatten und damit die Leute auch gegen deren Willen bestimmen konnten. Einen besonders dramatischen Resonanz- oder Relevanzverlust der evangelischen Kirche hier im Raum Frankfurt kann ich nicht wahrnehmen. Von konservativen oder reaktionären katholischen Glaubensgeschwistern wird uns bisweilen vorgeworfen, wir würden das katholische Proprium aufgeben und es an die Evangelischen veräußern, und die seien doch auch nicht besser dran als wir – darauf habe ich einmal unseren Bischof leise sagen hören: „Aber vielleicht ehrlicher“. Auch deswegen werden Sie mich nicht auf der Seite derer sehen, die mit Wohlgefallen auf das Verblassen des Evangelischen in der deutschen kirchlichen Landschaft schauen.
2019 veröffentlichte eine ökumenische theologische Arbeitsgruppe das Papier „Gemeinsam am Tisch des Herrn“. Man verfolgte darin als nächstes Ziel nicht die vollständige Vereinigung der Kirchen mit nur einer Eucharistie, sondern eher die eucharistische Gastfreundschaft zwischen zwei weiterhin selbstständigen Kirchen, die in ihrer Weise mit ihren Amtsträgern weiterhin Abendmahl beziehungsweise Eucharistie feiern und sich gegenseitig gastlich einladen. Welche Argumente sprachen aus Ihrer Sicht für dieses Vorangehen?
Knecht: Wichtig bei dem Papier und für unsere ökumenische Verständigung ist das grundlegende Vertrauen – einzelne Argumente sind im Vergleich dazu weniger wichtig. Man vertraut, dass in beiden Feiern Christus angerufen wird, dass er gegenwärtig und der Einladende ist. Was wir uns in unserer Abendmahlsfeier erhoffen, ist – so dieses grundlegende Vertrauen – auch in der katholischen Eucharistie zu finden; das ist der Schlüssel für das Verständnis dieses Papiers. Es rannte hier in Frankfurt offene Türen ein, weil dieses Vertrauen schon über Jahrzehnte gewachsen und heute sehr fruchtbar ist. Hier in Frankfurt gab es eine lokale ökumenische Arbeitsgruppe, die sich zur gleichen Zeit an uns Dekane mit demselben Anliegen und mit vergleichbaren Argumenten wandte: Vertrauensvoll wahrzunehmen, dass die Taufe das grundlegende Sakrament ist und uns einen Schlüssel für den Umgang mit Eucharistie und Abendmahl gibt.
Herr zu Eltz, von katholischer Seite kommen ja die stärkeren Widerstände gegen diese Praxis. Kardinal Müller sagt weiterhin, es gebe keine Eucharistiegemeinschaft ohne volle Kirchengemeinschaft. Was sind Ihre Argumente für die Praxis der Gastfreundschaft?
Zu Eltz: In Ergänzung zu den Argumenten meines Amtsbruders sage ich: Gegensätze sind keine Widersprüche! Sie vorschnell zu Widersprüchen zu erklären, ist ein schwerer Kategorienfehler, den wir immer wieder gemacht haben aus Angst, sonst die markierten Positionen oder die Unterscheidbarkeit gegenüber den anderen zu verlieren. Das sind, individualpsychologisch gesehen, Auflösungsängste einer schwachen, identitätsunsicheren Persönlichkeit. Wenn aber Gegensätze klug gemanagt werden und lebensspendend sein dürfen, wenn sie das Leben bunt und spannend und schön machen, dann sollte dies auch ekklesiologisch gelten. Immer wenn die katholische Kirche gut und stark und selbstbewusst war, hat sie solche Gegensätze ausgehalten. Das klassische katholische et – et hat etwas mit der Liebe zu Gegensätzen zu tun. Wenn sie umgekehrt schwach war und anämisch und angstbeißerisch, dann entwickelte die katholische Kirche eine intellektuelle und spirituelle Homophilie – die Neigung zu ihresgleichen –, die sie nicht besser gemacht hat.
Dies vorausgeschickt, ist zu sagen: Das evangelische Abendmahl und die katholische Eucharistie, jeweils im vollen Ernst und mit ihren besten Überzeugungen und Traditionen gefeiert, sind offensichtlich nicht das Gleiche, ihre Gestalten sind kräftig unterschiedlich, aber sie sind dasselbe. Das ist für mich der Kern der Sache. Wären sie nicht dasselbe, könnte man Christus in der jeweils anderen Tradition nicht wirklich wiederfinden und seine Einladung, dort hinzuzutreten, nicht wirklich hören. Die Selbigkeit muss festgestellt werden, und ich glaube sie im Widerspruch zu Kardinal Koch, der sie ausdrücklich in Abrede gestellt hat. Aus der Anmaßung der Kompetenzkompetenz, also dass wir von uns aus das Maß der Vollständigkeit bemessen, und von daher Defekte beim anderen ausmachen, aus dem hermeneutischen Absolutismus müssen wir raus. Wir müssen lernen, auch unsere eigene Lehre für unvollständig zu halten und die systemischen Defekte der eigenen Praxis zuzugeben. Dadurch werden wir nicht schwächer, sondern stärker.
Für den Ökumenischen Kirchentag (ÖKT) im Mai 2021 war geplant, diese Praxis im großen Rahmen zu leben. Was ist daraus geworden?
Knecht: Bei mehreren Gottesdiensten wurde die eucharistische Gastfreundschaft praktiziert: so im katholischen Dom, zelebriert von Stadtdekan zu Eltz, im Beisein des katholischen Bischofs und der evangelischen Präsidentin des ÖKTs; außerdem unter anderem in einer evangelischen Kirche am Frankfurter Riedberg, im Beisein des evangelischen Kirchenpräsidenten und des katholischen Präsidenten des ÖKT. Wir waren froh, dass dies möglich war und dass alle sich eingeladen fühlten und Erfahrungen mit der anderen Kirche machen konnten. Für mich war es auf diese Weise gut möglich, die Einladung – oder das Nicht-Abgewiesenwerden – wahrzunehmen und in einer Reihe mit den Repräsentanten beider Konfessionen zur Kommunion zu gehen.
Verborgen gibt es diese Praxis schon lange, an kleineren Orten.
Knecht: Nicht nur verborgen, und auch an zentralen Orten.
Wie war der Widerstand – von Bischof Bätzing und aus Rom?
Zu Eltz: Der Bischof und Vorsitzende der Bischofskonferenz hat eine andere Verantwortung als ich. Dass wir an jenem Samstagabend gewissenhaft miteinander kommunizieren konnten, das hat er uneingeschränkt mitgetragen und mitvollzogen. Aber dass wir uns mit Rom nicht auseinanderdividieren lassen, auch wenn wir über „Gemeinsam am Tisch des Herrn“ noch nicht einer Meinung sind, das muss der Bischof ebenfalls im Auge behalten. Dann ist es klug, nicht unnötig Angriffsflächen zu bieten, schon gar nicht im Scheinwerferlicht. Eine alte Praxis der Ökumene ist ja, dass Amtsträger, die im Ornat an der Mahlfeier des anderen teilnehmen, nicht kommunizieren. Darauf haben wir uns schließlich verständigt. Ich persönlich hätte mir das auch anders vorstellen können, weil für mein ziemlich evangelisch gewordenes Bewusstsein hier nicht gar so viel Vor- und Rücksicht nötig wäre.
Übrigens: Den evangelischen Stadtdekan und überhaupt evangelische Christen, die zur Kommunion hinzutreten, kommunizieren zu lassen, ist für mich viel mehr als ein Nicht-Abweisen nach dem Grundsatz, dass man in dieser Lage niemanden blamieren darf. Meine „Einladung“ an sie ist die gleiche wie an katholische Christen: „Seht das Lamm Gottes…“ unmittelbar vor und „Der Leib Christi“ während der Kommunion, beides gleichsam mit Fragezeichen, als Frage an den Glauben der Kommunikanten an den gegenwärtigen Herrn. Und wenn sie das mit ihrem „Amen“ bejahen und bekräftigen, dann gebe ich mit Freude die Kommunion dem evangelischen Christen ebenso wie dem katholischen, denn ich glaube ihm das „Amen“, wie ich meines von ihm auch geglaubt haben möchte.
Knecht: Bischof Bätzing stand für mich nachvollziehbar in einem Dilemma. Ich war übrigens um die Predigt gebeten worden, und da ich dies immer im Talar mache, gab ich in dieser Situation die Predigt zurück, hörte stattdessen gerne der Predigt meines geschätzten Kollegen zu und ging dann zur Kommunion. Es wäre das falsche Zeichen gewesen, wenn ich, gerade nach aller intensiven Vorbereitung, im Dom nicht zur Kommunion gegangen wäre.
Wie ging nach dem ÖKT die Sache weiter? Gab es Reaktionen, Entwicklungen?
Zu Eltz: Es gab nach dem Gottesdienst starke und auch emotionale Reaktionen, besonders von evangelischer Seite. Das hing wohl noch mehr zusammen mit dem Schuldbekenntnis zu Beginn der Feier, aber dieses gehörte ja mit Predigt und Eucharistie in den einen Gottesdienst. Ich hörte keine einzige vorwurfsvolle oder abträglich kritische Stimme dazu. Nur vorher beklagte um den Dom herum ein anonymes Flugblatt den Ausverkauf von katholischem Eigenstand.
Was kam von Rom?
Zu Eltz: Zu mir kam nichts. Was der Bischof zu hören bekam, weiß ich nicht, aber ich nehme an, dass ich es mitbekommen hätte, wenn er stark unter Druck geraten wäre.
Knecht: Ich bekam viel positive Rückmeldung. Im Vorfeld hatten wir uns mit der Kirchenleitung gut abgestimmt. Die Feier selbst in „versöhnter Verschiedenheit“ – ein evangelischer Begriff, der hier gut passt – fand dann viel Anerkennung. Die Praxis der Gastfreundschaft gibt es ja schon lange, in vielen Gemeinden – im Dom kann man davon ausgehen, dass jeden Sonntag ein Drittel der Kommunikanten nicht katholisch sind. Neu ist nun, dass wir jetzt öffentlich und theologisch reflektiert diese Gastfreundschaft praktizieren und sie damit aus der Grauzone herausführen. In ökumenischer Freundschaft schätzen wir beide die Gegenwart Christi, wir nehmen sie wahr und vertrauen auf sie. Was beide Seiten beim anderen in der Liturgie so nicht formulieren würden, ertragen wir. Manches in „großen Messen“ ist für uns ein wenig widerständig, darf es auch bleiben, wenn ich etwa an das eindrucksvolle Karls-Amt, das jährlich im Frankfurter Dom gefeiert wird, denke... Aber wir vertrauen auf das Wesentliche.
Zu Eltz: Ja, die schönen mittelalterlichen Huldigungsgesänge des Karls-Amtes sind auch für manche Katholiken befremdlich, mit ihrer Staatsnähe, ein bisschen wie beim Moskauer Patriarchen derzeit… Eines möchte ich noch dazulegen: Aus dem Sich-Öffnen dafür, dass der andere im Eigenen dasselbe, aber nicht das Gleiche wiedererkennt und sich von Christus angesprochen fühlt, liegt ein bedeutender, selbstkritisch wirksamer reformatorischer Impuls für die eigene Liturgie. Was kann und muss ich in meiner Liturgie stark machen, so dass ich dem anderen keine unnötigen Hindernisse in den Weg lege? Am Ende einer solchen gemeinsam besuchten Eucharistiefeier werden wir wahrscheinlich nicht „Wunderschön prächtige“ singen oder ein anderes emphatisches Marienlied. Und der evangelische Zelebrant, dem das freisteht, wird vielleicht die Epiklese doch laut beten, weil er den Hör- und Glaubensgewohnheiten der katholischen Mitchristen entgegenkommen will. Das ist mehr als Höflichkeit. Beide Liturgien werden sich verbessern zu ihrem Eigentlichen hin – das finde ich das Stärkste.
Knecht: Hier entwickelt sich eine konvergente Praxis, gemeinsam verantwortet. In unserer Gesellschaft können wir nicht gegeneinander, sondern nur gemeinsam evangelische oder katholische Kirche sein – jedenfalls nicht in dieser Stadt und in unserem Land.
Wo steht die Ökumene jetzt? Wo sehen Sie nächste Schritte? Wie kann die Kirche mehr zusammenfinden und zur Einheit in Christus gelangen?
Knecht: Ich beginne mit den Steinen, mit dem gemeinsamen Haus: Die Gebäudefrage beschäftigt beide Kirchen sehr stark, aufgrund des drastischen Rückgangs der Mitgliederzahlen. Wir sind auf einer Schwelle zu einer neuen Form von Kirche, und die Präsenz durch Gebäude ist neu fraglich. Wunderbar, wenn die evangelische Gemeinde in einen katholischen Raum einzieht und diesen mitbenutzt – und umgekehrt. Wir kennen das von Büros und auch Wohnhäusern: Gebäude gemeinsam zu nutzen, trägt viel zum gegenseitigen Verstehen bei. Im selben Raum Eucharistie und Abendmahl zu feiern, fördert das Miteinander und die Ökumene.
Zu Eltz: An allen Schnittstellen, an denen es gemeinsame kirchliche Interessen gibt, die aber nicht nur von den Glaubensgründen der jeweiligen Kirche her zugänglich sind, da müssen wir besonders intensiv zusammenarbeiten, weil dort verstärkt gesellschaftliches Interesse an den Angeboten der Kirche wach wird. Ästhetisch und geistlich ist zum Beispiel die Musik so eine Schnittstelle. Seit gut zehn Jahren gibt es in Frankfurt ein mit zwei Lungenflügeln atmendes kirchenmusikalisches Großprojekt, die „Frankfurter Jugend-Kirchenmusik“. Diese Sing- und Bläserschule, in der Hunderten von Kindern gratis Chorarbeit, Instrumentalunterricht und Stimmbildung angeboten werden, will demnächst in ein gemeinsames Haus einziehen. In diesem Bereich, der Evangelischen mindestens so teuer ist wie uns Katholiken, wollen wir „die Schätze tauschen“, wobei sich auch andere gesellschaftliche Akteure stark interessieren für das, was wir da gemeinsam tun. Das andere Beispiel – hier in Frankfurt schon immer stark – ist die soziale und die sozialpolitische Arbeit der Diakonie und der Caritas. Die beiden großen Träger sind unterschiedlich geprägt, da rappelt es auch schon mal, aber immer mit Wertschätzung und mit dem Wunsch, dass es dem anderen gut gehe. Das Feld ist so weit wie die Armut und die Nöte in der Stadt, und wir können die Zusammenarbeit sicher noch weiter vertiefen.
Knecht: Als wir zu Beginn des Gesprächs über den Relevanzverlust der Kirche sprachen, erwähnte Johannes zu Eltz die „evangeliumsgesättigte“ Gesellschaft. Dieser Teil der kirchlichen Wirklichkeit ist eng mit der Abendmahlsfeier verbunden: Das Teilen des Brotes mit den Armen, würde es ausfallen, würde das Abendmahl konterkarieren. Hier entfalten beide Kirchen eine große gesellschaftliche Wirkung und genießen das Vertrauen der Stadt und anderer Geldgeber – sie verwirklichen damit das Evangelium. Das geschieht nur, wenn die Kirchen nicht konkurrieren, sondern miteinander und mit anderen Menschen guten Willens gemeinsam agieren. Wegen der Krisen – vor allem, aber nicht nur der katholischen Kirche – wird von politischen Verantwortlichen viel nach der Glaubwürdigkeit der Kirche gefragt, aber das grundlegende Vertrauen, dass wir für die Menschen der Stadt arbeiten, wird nicht infrage gestellt. Ökumene darf nicht nur von der verfassten Kirche her konzipiert werden, sondern von der Wirksamkeit in die Gesellschaft hinein.
Welche Erwartungen und Hoffnungen haben Sie an die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Karlsruhe? Könnte die katholische Kirche endlich als Vollmitglied beitreten?
Zu Eltz: Wenn sie, wie ich eingangs beschrieben habe, weiterkäme im selbstkritischen Nachdenken über Definitionsmacht – von welchem Standpunkt aus wird eigentlich Kirche-Sein definiert? –, dann sollte das möglich sein! Früher verteidigte ich mit Lust, dass die katholische Kirche unmöglich Mitglied im ÖRK oder im Rat der Religionen sein könne, aber man ist ja nicht davor gefeit, schlauer zu werden. Mit anderen sich im ÖRK zusammen- und auseinanderzusetzen und das Gewicht der eigenen Glaubensaussagen argumentativ und nicht einfach durch Setzung zur Geltung zu bringen, das wäre eine gute Herausforderung. Jeder Rat verlangt den Diskurs, die Abstimmung, das Geben und Nehmen. Ich könnte mir Vollmitgliedschaft gut vorstellen. Nun sehe ich meinen Amtsbruder bedenklich mit dem Kopf wiegen und wüsste zu gerne, was er dazu meint.
Knecht: Ist der ÖRK nur ein Rat? Durch eine geschwisterliche Beratung entsteht ja durchaus eine eigene Wirklichkeit. Ich habe die Hoffnung, wenn man über das Evangelium und die Herausforderungen der Christen in der Welt spricht, dass dies die Gesprächspartner verändert und eine neue Realität setzt. Das gelingt nicht immer, wie man an der bisweilen fragwürdigen Rolle der orthodoxen Kirchen im ÖRK sieht. Ich hoffe, dass die Vollversammlung überhaupt präsentisch stattfinden kann und dass sie – gerade nach der Pandemie – die weltweite Ökumene und die Bedingungen des Christseins in anderen Weltregionen neu wahrnimmt. Aus der manchmal provinziellen Sicht gerade der deutschen evangelischen Kirche – der deutsche theologische Diskurs sei der allein maßgebliche – erhoffe ich mir eine Weitung des Horizontes.
Ergeben sich ökumenische Anliegen aus der derzeitigen Weltlage?
Zu Eltz: Ich bin mitgenommen von dem Riss, den der Ukraine-Krieg in die west-östliche Kirchengemeinschaft reißt. In gespannter Liebe verbunden, finden wir hier in Frankfurt und auch anderswo einen gemeinsamen westlichen Weg, um das gemeinsame Haus nicht zerfallen zu lassen. Aber mir ist so sternenfremd, was jetzt in Moskau gemacht wird, und es geht für mich so klar vorbei am Evangelium, dass ich grundsätzlich neu lernen müsste, was die Kirche dort bewegt und ob man dies für eine legitime Form von Kirche-Sein halten kann. Gerne würde ich mich in versöhnter Verschiedenheit neu an das Kennen- und Verstehen-Lernen der Orthodoxie, vor allem der russischen, herantasten.
Knecht: Der Krieg ist eine Art Schibboleth für das Verständnis des Christlichen – ähnlich wie früher die Apartheid in Südafrika, als wir evangelische Christen über recht abstruse Vorstellungen, was christlich oder unchristlich sei, diskutieren mussten. Ich bin insofern doch etwas zuversichtlich, als die Optionen der Orthodoxie in Russland hierzulande von orthodoxen Christen kaum übernommen werden und eine ökumenische Verständigung daher leichter möglich erscheint. Im Gespräch und im Gebet suchen wir Wege des Friedens.