Rezensionen: Wissenschaft & Bildung

Hirblinger, Heiner: Paulus und Freud. Ein Diskurs über Religion, Gewalt und Unbewusstes in der Kultur.
Gießen: Psychosozial-Verlag 2021. 392 S. Kt. 49,90.

Heiner Hirblinger beschäftigt sich als ehemaliger Lehrer und Publizist vor allem mit psychosozialen Themen aus dem Bildungsbereich. Als er sein Paulusbuch geschrieben hat, hat er vermutlich noch nicht geahnt, wie aktuell es durch den Krieg würde, den Russland der Ukraine aufgezwungen hat. Beide politische Führungen fundieren ihre Solidaritäts- und Durchhalte-Appelle oft in religiösen Botschaften mit christlichem Hintergrund. Paulus könnte nun nach Hirblinger für eine Tradition stehen, die Religion nicht für Gewalt in Anspruch nimmt, sondern fähig ist, sie einzudämmen. Der Autor verortet Paulus mit Erikson in einer „klaren, reinen Atmosphäre (…), wie sie nur nach einer Unwetterkatastrophe herrscht.“ Mit solch „einer Katastrophe“ sei „das Leiden Christi zu vergleichen, der sich für die Menschheit geopfert hatte“ (33).

Dieses Zitat lässt bereits erahnen, dass Hirblinger in seinem Buch Themen abhandelt, die in der Theologiegeschichte hoch kontrovers und mit großem Rezeptionsballast behandelt worden sind. So spricht er etwa im zweiten Kapitel über „den Gottesmord und das Unbewusste“ (57) und im vierten Kapitel über „das Schweigen Gottes“ (185). Eigentlich geht es ihm aber darum, den Glaubensakt aus einer Methodenkombination von Phänomenologie und Psychologie heraus neu zu bestimmen, die er selbst als „Metapsychologie“ bezeichnet. Den „Glaubensakt“ sieht Hirblinger nämlich als das eigentlich paulinische Moment. Im ersten Kapitel analysiert er den Glaubensakt im Damaskuserlebnis und entwickelt von dort aus alles Weitere. Dieser Glaubensakt ermögliche als Fortwirkung von Jesus her den Sprung aus einem potenziell gewalttätigen Religionsverständnis in ein „Containment“ (39), das Aggression und Wut transformiert. Paulus Selbsteinsicht bei der Begegnung mit dem erhöhten Christus habe zu einer „depressiven Position“ (38) geführt. Sie hat ihm Fähigkeiten zur Anteilnahme und zur Hoffnung gegeben, außerdem einen „zuversichtlichen Glauben an Zukunft“ und „vertrauende Beziehung(en)“ (38).

Diese menschlichen Werte und Haltungen entsprechen tatsächlich dem Bedeutungsspektrum, das das ursprüngliche Verb für „glauben“ pisteuô im Griechischen hat. Glauben ist als pistis in der Lage „Ambivalenz und Vergänglichkeit“ (38) anzunehmen. Hirblinger ordnet Paulus Bekehrung dann psychologisch als „Contaiment-Erfahrung“ (39) ein und kommentiert: „Es ist vermutlich für Theologen nicht ganz einfach, die progressive Entwicklung des Saulus zum Paulus“ (39, Hervorhebung AW) in diesem Sinne zu verstehen. Schwierigkeiten ergeben sich für den Neutestamentler tatsächlich schon damit, dass der Namenswechsel in der Apostelgeschichte gar nicht mit der Bekehrung vor Damaskus verbunden ist. Erst auf Zypern, als Saulus den Prokonsul Sergius Paulus bekehrt und dem jüdischen Magier Elymas ziemlich rüde das Handwerk legt, wird er das erste Mal Paulus genannt (Apg 13,9). Auch hinter andere Aussagen Hirblingers wäre aus neutestamentlicher Perspektive ein Fragezeichen zu setzen. Dennoch zeigt sein Buch, wie Paulus auch nach 2000 Jahren mit aktuellen Themen in ein einsichtsreiches Gespräch gebracht werden kann. Solche Bücher würde man sich aus theologischer und exegetischer Perspektive häufiger wünschen.

Ansgar Wucherpfennig SJ

Beck, Wolfgang / Nord, Ilona / Valentin, Joachim (Hgg.): Theologie und Digitalität – ein Kompendium.
Freiburg: Herder 2021. 528 S. Gb. 39,–.

Yuval Harari schreibt am Ende seines Bestsellers „Homo Deus“: „Wenn wir in Monaten denken, sollten wir unser Augenmerk vermutlich auf unmittelbare Probleme wie die Wirren im Nahen Osten, die Flüchtlingskrise in Europa und die Abschwächung der chinesischen Wirtschaft richten. Wenn wir in Jahrzehnten denken, spielen der Klimawandel, die wachsende Ungleichheit und der Zusammenbruch des Arbeitsmarktes eine zentrale Rolle. Wenn wir aber das Leben im Großen und Ganzen in den Blick nehmen, werden alle anderen Probleme und Entwicklungen von drei miteinander verknüpften Prozessen überschattet“, nämlich dass 1. die Wissenschaft behauptet, Leben sei Datenverarbeitung, dass sich 2. Intelligenz von Bewusstsein abkoppelt, und dass 3. nicht-bewusste, aber hochintelligente Algorithmen uns bald besser kennen könnten als wir uns selbst (ebd. 536). Damit ist gerade auch die Theologie herausgefordert, und zwar auf mehreren Ebenen. Wer dazu mehr wissen will, kann in dem vorliegenden Kompendium nachschlagen und reichlich Stoff und Anregung finden.

Das Kompendium ordnet insgesamt 26 Beiträge von Fachleuten aus den unterschiedlichsten Fachrichtungen nach fünf Gesichtspunkten: 1. Die Kultur der Digitalität, oder: wie sich unser gesamter privater und beruflicher Alltag durch die Digitalisierung verändert. 2. Die anthropologische Frage, oder: Wie die digitale Transformation radikale Fragen an unser Verständnis vom Menschen stellt, bis hin zu den seiner Überwindung (Stichwort Transhumanismus). 3. Die ekklesiologischen Folgen, oder: Wie die Digitalisierung die Situation der Verkündigung und auch die Sozialform von Kirche verändert. 4. Das Sprechen von Gott, oder: Wie die Digitalisierung Verheißungen erschafft, die die Rede von Gott (scheinbar) ersetzbar machen. Und schließlich 5. die ethischen Herausforderungen im Umgang mit Digitalisierung und digitalen Medien. Das Herausgeber-Trio ist überzeugt, dass die Corona-Pandemie sowie die weltweiten Maßnahmen zum Infektionsschutz „für viele Menschen und Institutionen die allgegenwärtige Bedeutung von Digitalität für das Privatleben, die Arbeitswelt, die wissenschaftliche Forschung und auch das kirchliche Leben noch sichtbarer gemacht haben“ (17). Dem wird man sicherlich zustimmen können, wenn man ergänzt, dass damit auch viel Ernüchterung einhergegangen ist. Ein Freund schwärmte mir am Anfang der Pandemie: „Wir brauchen noch zwei weitere Pandemien, dann sind die Schulen endlich voll digitalisiert.“ Ich zweifle, ob er das heute noch mit der gleichen Begeisterung sagen würde.

Das Kompendium eignet sich seinem Wesen weniger zur durchgehenden Lektüre von der ersten bis zur letzten Seite. Vielmehr lohnt es sich, die einzelnen Beiträge, im Wesentlichen entstanden in zwei Jahrestagungen (2019/2020) der Arbeitsgruppe „Frankfurter Digitale“, nach Interessensgesichtspunkten auszuwählen. So kann man längere Zeit mit dem Buch leben – und mit dem Thema der Digitalität, das wir alle vermutlich auf die eine oder andere Weise in seiner Tiefendimension immer mehr durchdenken werden müssen.

Klaus Mertes SJ

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