Staatsrecht nach 1945Ernst-Wolfgang Böckenförde und Carl Schmitt

Carl Schmitt (1888-1985) und Ernst-Wolfgang Böckenförde (1930-2019) sind ohne Frage die bekanntesten deutschen katholischen Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts; und sie stehen in hohem Maße konträr zueinander. Schmitt, der antisemitische „Kronjurist des Dritten Reichs“ (Waldemar Gurian), der den Souveränitätsgestus päpstlicher Unfehlbarkeit als Musterbeispiel des Politischen begrüßte, positionierte sich zeitlebens dezidiert antiliberal. Nach dem Krieg lebte er ohne öffentliche Reuebekundungen als Privatier im sauerländischen Plettenberg, konnte jedoch in der politischen Theorie und dem Staatsrecht der Bundesrepublik noch erhebliche Resonanz entfalten. Böckenförde, 1967 in die SPD eingetreten und von 1983 bis 1996 Richter des Bundesverfassungsgerichts, stand dagegen von Anfang an auf dem Boden der freiheitsrechtlichen Ordnung des Grundgesetzes und war ein entschiedener Anhänger des Zweiten Vatikanischen Konzils. Jahrzehntelang bemühte er sich darum, den demokratieskeptischen Katholizismus mit dem bundesrepublikanischen Staatswesen zu versöhnen und die Traditionen der Katholischen Soziallehre, etwa in der Frage des Eigentums und der Kapitalismuskritik, in die öffentliche Debatte einzubringen.

Die jahrzehntelange enge Beziehung zwischen Schmitt und Böckenförde – Böckenförde bezeichnete Schmitt oft als „verehrten Lehrer“ und „väterlichen Freund“, hatte ihn zu seiner Hochzeit eingeladen und war Taufpate des einzigen Enkelkindes Schmitts – ist irritierend, aber sie gehört zur Theoriegeschichte des deutschen Staats- und Verfassungsrechts, und weit darüber hinaus. Mit dem von Reinhard Mehring herausgegebenen Briefwechsel zwischen Böckenförde und Schmitt (Baden-Baden 2022) wächst nun die Hoffnung, dass endlich mehr Licht auf diese befremdliche „katholische Beziehungskiste“ fällt.

Der gewichtige Band, den Mehring allzu bescheiden als „Lesebuch ohne historisch-kritischen Anspruch“ präsentiert, enthält 468 zwischen 1953 und 1984 verfasste Briefe. Die Korrespondenz, deren treibende Kraft der junge Böckenförde war, auf den Schmitt zunächst reserviert reagierte, ist nicht vollständig erhalten, aber zu mehr als zwei Dritteln in diesem Band dokumentiert. Besonders in den 1950er- und 1960er-Jahren wurde der Briefwechsel mit einer oft wöchentlichen Frequenz geführt, während er seit den 1970er-Jahren verstärkt durch Telefongespräche ersetzt wurde. Dazu finden sich in den Briefen leider nur vage Andeutungen.

Insgesamt muss man – mit einer gewissen Enttäuschung – feststellen, dass zwischen Böckenförde und Schmitt kaum inhaltliche Debatten geführt wurden. Vielmehr wurden die strittigen Themen konsequent gemieden, geradezu ängstlich ausgeklammert. Schmitts Antisemitismus etwa, der ihm auch nach 1945 noch in die Feder floss, wird von Böckenförde nur einmal sehr vorsichtig angesprochen, als er zu Schmitts Hobbes-Buch aus dem Jahr 1938 schrieb: „Ihre Stellung zu den Juden ist mir, wenn ich das sagen darf, immer noch ein Rätsel; aber es kommt mir nicht zu, Ihnen dieserhalb irgendeine Frage zu stellen“ (Brief v. 21.11.1956). Schmitt hat darauf nicht geantwortet. Bekanntlich verweigerte er jegliches öffentliche Schuldeingeständnis und reagierte auf Kritik mit hoher Empörungsbereitschaft („Jeder anständige Deutsche, der nicht Kommunist oder Marxist war, ist damals irgendwie mitgelaufen“ Brief v. 13.04.1961).

Auch Schmitts Parlamentarismuskritik oder seine defätistische Überzeugung, dass die „Epoche der Staatlichkeit“ im mediatisierten Sozial- und Verbändestaat der Bundesrepublik irreversibel zugrunde gegangen sei, werden kaum angesprochen. Dafür fällt auf, dass sich Böckenförde nicht selten um eine typisch schmittianische Spott- und Verachtungsdiktion bemühte. So streute er knappe abfällige Kommentare zu einzelnen Staatsrechtlern, Publizisten und Philosophen ein, die das Staats- und Politikkonzept Schmitts nicht verstanden hätten – etwa Positivisten, Pluralisten und die „Political science-Männer“, denen man einen „Schwund an juristischer Substanz“ und eine chronische „historische Unbildung“ attestieren müsse. Oder er mokierte sich über den modernen Sozial- und Verwaltungsstaat (etwa über die schwerfällige „Post im Sozialstaat“), an dessen Aufbau und Profilierung er zur gleichen Zeit aber – nicht zuletzt durch seine Arbeit in der SPD – engagiert mitwirkte.

Schmitt, der kräftig Werbung für die zwischen 1958 und 1964 erschienenen Qualifikationsschriften Böckenfördes machte, reagierte seinerseits inhaltlich kaum auf dessen zahlreiche Texte. Er lobte sie zwar gerne für ihre ausgefeilte Sprache, enthielt sich aber zumeist jeder eigenen Positionierung. So blieb schon Böckenfördes früher Hochland-Aufsatz über „das Ethos der modernen Demokratie und die Kirche“ (1957) unkommentiert, in dem er sich nachdrücklich für das Säkularitätsprinzip und gegen den „christlichen Staat“ aussprach. Und auch der programmatische Stimmen-der Zeit-Beitrag über „Religionsfreiheit als Aufgabe der Christen“ (1964) wurde in der Sache ignoriert, obwohl der vom Autoritätspathos des vorkonziliaren Macht- und Herrschaftskatholizismus faszinierte Schmitt in der Frage der Religionsfreiheit dezidiert anderer Auffassung war.

Böckenförde machte sich jahrzehntelang für Schmitt stark, führte ihn in das Münsteraner Ritter-Kolloquium ein, versorgte ihn mit Büchern und Kopien, übernahm die Korrektur von Druckfahnen und entwickelte eine schon fast penetrante Nachdrücklichkeit, wenn es darum ging, das Werk Schmitts publizistisch zu fördern, Neuauflagen und Textsammlungen vorzubereiten und ihn mit Festschriften zu ehren. Reinhard Mehring bezeichnet ihn mit Recht als „Chefredakteur des Spätwerks von Schmitt“.

Was Böckenförde, der von allen restaurativ-revanchistischen Motiven der bis heute sehr agilen Schmitt-Schülerschaft denkbar weit entfernt war, dazu getrieben hat, Kontakt zu Schmitt aufzunehmen, bleibt im Dunkeln. Ob es zunächst schlicht jugendlicher Übermut und die leicht verbotene Neugier auf den verfemten Mann aus der sauerländischen Nachbarschaft war (die Familie Böckenförde lebte damals in Arnsberg)? Wie auch immer: Im Laufe der Zeit hat Böckenförde jedenfalls viele staatsrechtliche Motive des antiliberalen Autoritäts-Etatisten Carl Schmitt rezipiert, ohne darüber selbst zum Schmittianer zu werden. Dies gilt nicht zuletzt für seine klare Absage an das katholische Naturrechtsdenken und die treffende Kritik an der vermeintlichen Verpflichtungskraft der „Werte des Grundgesetzes“, da es in einem freiheitlichen Rechtsstaat nur um die faktische Achtung vor der geltenden Rechtsordnung gehen könne und dürfe.

Die eigenartige Faszination, die Schmitt auf Böckenförde und dessen rechts- und sozialstaatliche Positionen ausgeübt hat, müsste noch weiter aufgeklärt werden. Der jetzt vorliegende Briefwechsel weckt die Hoffnung, dass vielleicht jemand auf die Idee kommt, sich nach den vielen Büchern zu Carl Schmitt einmal an einer umfassenden Werkbiografie Ernst-Wolfgang Böckenfördes als einem der prägendsten, eigensinnigsten und produktivsten public intellectuals der Bundesrepublik zu versuchen. An der Zeit wäre es.

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