Bewegt sich die Kirche bei der Aufarbeitung von Missbrauch in einem „Kreislauf des Scheiterns“? Oder kann man stattdessen das Bild einer Spirale wählen, die sich langsam aber sicher nach oben schraubt. „Katholische Kirche“, das ist jedenfalls ein so großes, „auf der ganzen Erde ausgebreitetes“ soziales Gebilde, dass man von Ortskirche zu Ortskirche genauer wird unterscheiden müssen. Die Spirale als Ganze wird durch die Unterspiralen, die sich vor Ort drehen, bewegt. Von oben, also vom Vatikan aus lässt sich der Gesamtprozess nur wenig beeinflussen oder gar steuern. Dazu geht er zu sehr in die Tiefe der einzelnen kirchlichen Subsysteme bis in die Familien und Gemeinden hinein. An die Möglichkeit zentral gesteuerter Aufarbeitung glaubte man im Vatikan vielleicht noch Ende der 1990er-Jahre, als die US-amerikanische Bischofskonferenz in Rom antreten musste. Damals verfügte Johannes Paul II., dass alle Vorgänge, die Missbrauch durch Kleriker betreffen, direkt nach Rom gemeldet werden sollten. Rom war aber und ist Teil des Problems. So konnte es nicht funktionieren.
Thomas Großbölting hat nun eine Gesamtschau der jüngeren Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche vorgelegt: Die schuldigen Hirten – Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche (Freiburg 2022). Der Autor leitete im Auftrag des Bistums Münster seit Oktober 2019 ein Team, das die Studie über Fälle sexuellen Missbrauchs erarbeitete, die in den Jahren 1945 bis 2018 von katholischen Priestern und anderen Amtsträgern im Bistum Münster begangen wurden. Die Studie wurde am 13. Juni 2022 veröffentlicht und zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass sie mehr als „nur“ das Einzelversagen von verantwortlichen Personen in den Blick nimmt. Vielmehr beschreibt sie den systemischen, kulturellen Kontext, insbesondere das Phänomen der „Bystander“ in Gemeinden, Familien, Medien und Justiz (vgl. dazu 141-151) und dessen begünstigende Faktoren. Das ist ein Gewinn gegenüber den bisher vorgelegten Studien, eine Drehung der Spirale nach oben.
Die begleitende Gesamtschau beginnt nach einem kurzen historischen Rückblick (51-67) mit dem „deutschen Wendepunkt“ namens „Canisius 2010“, gemeint: mit den Vorgängen am Canisius-Kolleg in Berlin im Januar 2010. Sie fielen bekanntlich mit dem Priesterjahr zusammen, das Benedikt XVI. für 2009/2010 ausgerufen hatte, zufällig, nicht absichtlich, wie andere unterstellten: „Es war das Projekt einiger Jesuiten und Gleichgesinnter, den entsetzlichen Missbrauchsskandal zu einem Instrument zu machen, um in der Kirche endlich das in Bewegung zu bringen, was den Achtundsechzigern im Klerikerstand seit Jahrzehnten auf der Seele brennt: die sogenannten Reizthemen, die an dieser Stelle nicht mehr aufgeführt werden müssen“ (Guido Horst in der Tagespost, 28.9.2011).
Was im Januar/Februar 2010 in Berlin genauer geschah, wäre auch eines Tages noch einmal einer genaueren Darstellung von außen wert, einschließlich einer historischen Aufarbeitung der Aufarbeitung seit 2010 im Jesuitenorden. Großböltings Darstellung ist an einigen Stellen, was die Ereignisse um 2010 betrifft, ungenau, aber das schadet dem Gesamteindruck nicht. Der Überblick über die folgenden Jahre hilft insgesamt, die Folge der Ereignisse zu ordnen. So lassen sich dann auch Linien für die Zukunft zu erkennen. Erfolge und Fehler liegen oft nah beieinander – auch dies gehört zum Spiralen-Charakter der Aufarbeitung des Megaphänomens Missbrauch in einer Mega-Institution wie der Kirche. Daraus lassen sich dann auch neue Perspektiven entwickeln. Niemand jedenfalls kann und konnte von Anfang an wissen, wie es richtig zu laufen hat. Im Gegenteil: Wer immer noch mit diesem Gestus auftritt, hat nicht verstanden, dass er nicht oder nur fragmentarisch verstanden hat.
Perspektiven zu entwickeln, gelingt Großbölting ganz hervorragend in dem analytischen Teil, der mit „Tätersystem Kirche?“ überschrieben ist (151-208). Die Lektüre hat mir neue Einsichten gebracht: Wie die Bischöfe nach 1945 zu den finanzstärksten pastoralen Akteuren wurden (168) und was das für die Gestalt der Kirche in Deutschland heute bedeutet; wie die mangelnde Rollendifferenzierung beim Bischofsamt zu Überforderungen führt (169 f.); wie die Tendenz zur kirchlichen Paralleljustiz (Stichwort privilegium fori) mit einem „unbearbeiteten historischen Systembruch“ im 19. Jahrhundert zusammenhängt (175 f.) und untergründig weiterwirkt; wie sich das Priesterverständnis so wandeln konnte, dass es sich als eine Form von „Täterideologie“ eignete (179 ff.).
Auch das abschließende Kapitel „Resümee und Ausblick“ (209-238) gibt wichtige Hinweise, durchaus kritisch – und wie ich finde: erfrischend – auch in Bezug auf die Entwicklungen der Aufarbeitung nach der Veröffentlichung der MHG-Studie 2018. „Aufarbeitung“ ist für Großbölting ohnehin nur ein Containerbegriff, der noch kein klares Konzept beinhaltet (vgl. 216). Ich frage mich nach der Lektüre dieses Kapitels noch mehr als davor, ob die Aufarbeitung spätestens nach 2018 nicht doch auf falsche Gleise gestellt wurde, bei allem Respekt vor den Bemühungen und guten Intentionen nicht nur der Bischöfe, sondern auch des UBSKM (Unabhängiger Beauftragter der Bundesregierung): „Statt auf Partizipation von Betroffenen muss die Kirche daher auf Selbstermächtigung dieser Gruppe setzen“ (218), schreibt Großbölting. Ich stimme ihm zu. Oder: „Wissenschaft kann einen substantiellen, aber nur begrenzten Beitrag zur Aufarbeitung leisten ...;“ sie muss nämlich auf „epistemische Distanz beharren“ (220). Das ist übrigens auch eine Frage an das Selbstverständnis der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, nicht nur an diejenigen Instanzen, die sie mit Studien beauftragen. Und schließlich ganz wichtig, zumal diese Erkenntnis immer mehr Beteiligten und Beobachtern dämmert: „Eine zumindest flankierende Rolle … müsste in Deutschland der Staat einnehmen – tut es aber nicht“ (221). Weil dies bis jetzt unterlassen bleibt, steht inzwischen das Staat-Kirche-Kooperationsmodell in Deutschland insgesamt auf dem Prüfstand (vgl. 222). Der diesbezüglich von Politik, Kirche und Staat gemeinsam zu verantwortende Schaden für die ganze bundesdeutsche Gesellschaft ist noch nicht absehbar.
Schon die MHG-Studie stellte fest, dass „Aufarbeitung“, je nachdem wie sie verstanden wird, die Probleme zementieren kann, statt sie zu lösen: „Die Sanktionierung einzelner Beschuldigter, öffentliches Bedauern, finanzielle Leistungen an Betroffene und Etablierung von Präventionskonzepten und von einer Kultur des achtsamen Miteinanders sind dabei notwendige, aber keineswegs hinreichende Maßnahmen. Wenn sich die Reaktionen der katholischen Kirche auf solche Maßnahmen beschränken, sind solche grundsätzlich positiven Ansätze sogar geeignet, klerikale Machtstrukturen zu erhalten, da sie nur auf Symptome einer Fehlentwicklung abzielen“ (zitiert nach 226). Muss man angesichts dieser Diagnose verzweifeln? Keineswegs. Man muss sie nur immer im Hinterkopf haben für ein Konzept der Aufarbeitung, das sich spiralenförmig nach oben dreht. Es wird einerseits notwendig werden, Elemente von Aufarbeitung zu benennen, hinter denen man einen Punkt setzen kann, wenn sie abgearbeitet sind. Sonst bleibt es beim „Kreislauf des Scheiterns“, zumal die Betroffenen auch nicht warten können, bis sich das ganze System verändert hat. Andererseits ist mit Themen, hinter denen man einen Punkt setzen kann, die Aufarbeitung noch nicht zu Ende, nicht nur aus Gründen der strukturellen Prävention, sondern aus Gründen der Selbstachtung.