Achtet man auf seelische Schwingungen in Gesellschaft und Kirche, so ist derzeit vor allem Weltuntergangsstimmung zu spüren. Irgendetwas kippt gerade: Die Pandemie hat die frühere Gewissheit, dass Naturwissenschaft und Technik die Natur und ihre Gefahren in Griff kriegen, nachhaltig erschüttert. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine weckt den Westen aus dem naiven politischen Dornröschenschlaf, dass alles im Frieden und mit immer mehr Wohlstand weitergehe. Die Klimaveränderungen sind kaum mehr zu händeln und wirken immer bedrohlicher. Neue Flüchtlingsströme – aus politischen und klimatischen Gründen verlassen Millionen ihre Heimat – erscheinen am Horizont und ängstigen uns Reiche. Inflation frisst die Vermögen auf. Das Vertrauen in die Staaten und ihre Ordnungskompetenz schwindet weithin. In der Politik nimmt der Hang zum Autoritarismus zu, auf Kosten von Demokratie und Menschenrechten – in China und in Russland, in Indien und in vielen Ländern Afrikas. Auch in Europa, etwa in Polen, Ungarn, Italien schafft der rechtsgerichtete Populismus Wahlsiege. In den USA wurde der MAGA-Populismus gerade etwas gebremst, aber für wie lange? Und die Kirchen in Europa? Sie verbeißen sich in Richtungskämpfe; sie schaffen es nicht, alte Lasten aufzuarbeiten, sie verstummen und schrumpfen.
Die Krisenphänomene sind so massiv, dass viele Menschen sie nicht mehr gut verarbeiten können. Die Stimmung kippt, aber wohin? Alles scheint zu Ende zu gehen: Kirche und Staat und Welt. Apokalyptische Phantasien haben Konjunktur. Viele Menschen leiden unter Angst. Psychische Erkrankungen nehmen zu. Viele fliehen in den Konsum, solange das Bankkonto noch gefüllt und das Genießen noch erlaubt ist: Der Frankfurter Flughafen erwartet in diesem Jahr wieder 50 Millionen Fluggäste – war da etwas mit Klimakrise? Andere sorgen sich um die Zukunft, insbesondere die jüngere Generation, und sie protestieren – das wirkt irgendwie verständlich und bei der Wahl der Mittel doch auch verzweifelt. Einige ängstigen sich vor dem kalten Winter: In den Komfortwohnungen – 48 qm, zentralgeheizt, bewohnt der Deutsche im Durchschnitt – wird auf sehr hohem Niveau gejammert; in anderen Ländern verhungern Menschen. Manche engagieren sich, rackern sich ab, arbeiten sich kaputt; andere sind der Arbeit überdrüssig, ziehen sich zurück in ihr Paradiesgärtlein, wollen genießen: „Nach uns die Sintflut“. Lange könnte man weitererzählen von heroischen oder egoistischen, von verzweifelten oder irrationalen oder auch von absurden Reaktionen auf die Krise.
Manche stellen die Frage nach Gott: Wo ist er? Warum greift er nicht ein? Aber die klassische Theodizee-Frage kann auch eine bequeme Entlastungsfunktion haben. Gott hat die Menschen mit Freiheit, Vernunft und Würde erschaffen, und er schafft ihnen Freiräume, in denen sie selbst ihr Leben gut gestalten sollen – warum tun sie es nicht? Für viele Christen ist die Krise nicht nur Kirchen-, sondern Glaubenskrise: Weil Gott sich offensichtlich von uns abwandte, sind wir seiner überdrüssig und wenden uns von ihm ab. Frühere Generationen reagierten anders: Man lese etwa die Lieder Paul Gerhardts, mitten im Chaos des Dreißigjährigen Krieges geschrieben, voll Gläubigkeit und Herzenswärme. Oder die Glaubenszeugnisse eines Alfred Delp SJ oder eines Dietrich Bonhoeffer, geschrieben in der Verfolgung durch die Nazis: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag…“. Sie wandten sich nicht von Gott ab, weil sie meinten, er könne nicht helfen, sondern sie wandten sich Gott zu, weil sie überzeugt waren, er als einziger könne und werde helfen – auf seine Weise, wann und wie er es zu unserem Heil will.
Die Mönchsväter hatten für die Situationen der spirituellen Krise ein besonderes Wort: Acedia. Das aus dem Griechischen kommende, latinisierte Wort meint so etwas wie Schläfrigkeit (in der Mittagshitze), Faulheit und Mattigkeit, Antriebsarmut, Langeweile; auch Traurigkeit, Mutlosigkeit; schließlich Widerwille, Ekel, Bockigkeit; dann Verdruss, Überdruss, Gleichgültigkeit und Lustlosigkeit; letztlich Trübsinn, Schwermut, Melancholie, auch Gottferne. Acedia ist für den Mönch dann Krankheit der Seele, wenn sie seine Seele überfällt und niederzwingt, ohne dass diese sich wehren kann, und dann Sünde, wenn er sich ihr willentlich und vielleicht lustvoll hingibt und sich und andere damit schädigt. Wer sich der Acedia übergibt, vertraut Gott nicht und lässt ihn beiseite liegen. Acedia kann zu hektischem Reise-Aktivismus oder im Gegenteil zu totalem Chillout führen. Als deutsche Übersetzung eignet sich wohl am besten „Überdruss“: Da ist schlechte Stimmung ausgedrückt, Trägheit, aber auch Nervosität und Nicht-Wollen, Misstrauen und Rückzug, Negation – ist das die Stimmung unserer Zeit? Als Gegengift schlagen die Mönche vor, zu Hause zu bleiben und treu seine Arbeit zu tun.
Christgläubige vertrauen auf Gott. Gott erfüllt nicht alle unsere Wünsche, aber er erfüllt alle seine Verheißungen. Die multiple Krise unserer Zeit ist nicht das Ende. Auch für dieses anbrechende Jahr sind nicht Überdruss oder Weltmüdigkeit angesagt, sondern Hoffnung und Engagement.