Rezensionen: Theologie & Kirche

Werbick, Jürgen: Christentum – kann das weg? Glauben in Zeiten der Kirchen-Erschöpfung.
Ostfildern: Grünewald 2023. 235 S. Gb. 29,50.

Was kann weg, was muss bleiben? Vor welchen Herausforderungen stehen Christ:innen, die nach wie vor oder immer noch der Kirche angehören? Jürgen Werbicks jüngster Publikation geht die These voran, dass unsere Zeit, eine Zeit der Kirchen-Erschöpfung ist. Dem emeritierten Münsteraner Professor für Fundamentaltheologie gelingt es, einen umfangreichen Bogen über einen großen Teil der aktuellen Frage- und Problemstellungen, welche sich in Bezug auf das (katholische) Christentum im deutschen Sprachraum stellen, zu spannen und mit kritischem Blick auszuwerten. Seine Ausführungen gliedert er in zehn Abschnitte, die nicht nur Genese und Historie, sondern jeweils auch eine persönliche Einschätzung der gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklungen beinhalten. Neben Themenfeldern wie der Soteriologie, der Gotteslehre, der Eschatologie und v.a. der Ekklesiologie finden sich auch Überlegungen zur Gebetspraxis, der Liturgie und zur Partizipation als zukunftsweisendes Modell für kirchliche Entscheidungsprozesse.

Werbick plädiert für eine verschärft biblische Sichtweise auf die aktuellen Entwicklungen innerhalb des Christentums. Die Theologie sollte sich nicht „daran abarbeiten, zu retten, was nicht zu retten ist, sondern das humane Potential des Glaubens ans Licht zu bringen“ (57). Darüber hinaus regt er dazu an, den Akzent von einem ekklesiozentrischen – bis herauf zum Vorabend des Zweiten Vatikanischen Konzils befeuerten – Blickwinkel hin auf eine theozentrische Sichtweise zu setzen: „Gott sollte uns als er selbst glaubwürdig sein, nicht deshalb, weil uns die Kirche mit ihrer Selbstinszenierung so sehr für sich einnimmt“ (73).

Werbick nimmt mit vorliegendem Werk die Zweifel und das Ringen von vielen Gläubigen ernst und spricht den Graben, der sich für viele Christ:innen zwischen dem eigenem Glauben und der Zugehörigkeit zur „ruinöse[n] Institution“ (109) Kirche auftut, an. Er vertröstet nicht mit floskelhaften Wendungen, sondern weist auf Problemfelder hin und erörtert dieselben anhand seiner theologischen Expertise. Dies wird bspw. in Blick auf die Ausführungen zur Liturgie ersichtlich: In der Liturgie „wird nicht nur die Krise der Ortsgemeinden, sondern auch das Unglaubwürdig-Werden kirchlicher Verlautbarungen alltäglich greifbar“ (183). Werbick lädt in seinen Ausführungen ein, die Eucharistie als Feier des Brotbrechens, wie sie in den biblischen Texten überliefert wird, verstärkt am jesuanischen Handeln zu orientieren. Eucharistie ist communio und participatio und nicht Schaubühne einer „hierarchisch-ekklesialen Egozentrik“ (195).

Es ist nicht zu leugnen, dass der Katholischen Kirche größeres Misstrauen denn je entgegengebracht wird, andererseits scheint es so, dass es viele Christ:innen „in dieser Kirche aus[halten]“ (226), obwohl es manchmal den Anschein hat, als wolle sich die Kirche selbst abschaffen (Werbick spricht mehrmals von kirchlicher Selbst-Relativierung). „Ob diese Kirche Zukunft hat, wird man sehen“ (46).

Tobias Simonini

Von Sass, Hartmut: Atheistisch glauben. Ein theologischer Essay.
Berlin: Matthes & Seitz 2022. 151 S. Kt. 14,–.

Der Theismus sei mausetot, so Hartmut von Sass, evangelischer Professor für systematische Theologie und Religionsphilosophie in Berlin. Im Theismus sei Gott dem Menschen ein Gegenüber, ein „Sein“, mit folgenden „Zutaten“: Gott ist Person, er steht als Herr über Zeit und Raum und über den Dingen, er ist perfekt, er ist absolut souverän, und er ist Schöpfer der Welt. Denkerisch, metaphysisch sei dieser Theismus nicht zu halten – von Sass bringt bekannte theologiekritische Argumente.

Wer den theistischen Gott abschafft, wird zum A-Theisten. Wie aber geht ein Glaube ohne Gott? Dieser Glaube glaubt nicht an etwas oder jemanden, er ist keine Tätigkeit und keine Beziehung, sondern: Glauben heißt, „etwas glaubend/im Glauben tun“ (42). Von Sass spricht vom „Glauben als Adverb“, vom modalen Verständnis, vom Glauben als Operator aller Tätigkeiten, von einer anderen Sicht auf alles. Glauben heißt: Im menschlichen Leben ist Gott wirksam – von Sass postuliert ein Ineinander beider, eine strenge Gleichsetzung (60). Gottes Existenz wird „atheistisch dekliniert“; das heißt, „dass Gott für Menschen wirklich wird, indem er an ihnen wirkt und dadurch für sie alles anders und neu wird. An Gott zu glauben, bedeutet, dass Gott wirklich ist, indem sich seine Wirkungen am Menschen entfalten… Gott ist die Wirklichkeit des Glaubens“ (65).

Von Sass entfaltet diesen Ansatz an klassischen theologischen Fragen: Anfechtung gehört wesentlich zu diesem Glauben. Die Schöpfungslehre ist kein neues, zusätzliches Wissen, sondern eine neue Sicht, ein neuer Aspekt von allem. Zum Bösen kann man nicht die klassische Theodizeefrage stellen, das wäre zynisch, sondern der Glaube gibt dem Schmerz einen Ort und lehrt einen neuen Umgang mit dem Bösen. Es gibt keine Tatsünden, wohl aber die Erbsünde als Implikat dieses Glaubens. Man betet nicht um etwas, sondern das Gebet gibt Anteil an Gottes Wirken, das Gott selbst ist. Glaube ist keine Hoffnung auf etwas, das zukünftig sein wird, sondern eine durch Hoffnung qualifizierte Weise des Lebens; sie drängt zur Tat und zum Engagement im Hier und Jetzt.

Ein spannender Neuansatz, der radikal die alte Theologie erneuern will, ohne Scheuklappen, in einem schmalen Buch eher essayistisch dargeboten. Er will den alten Christus-Glauben für die säkulare Gegenwart anschlussfähig machen und der atheistischen Kritik den Wind aus den Segeln nehmen. Darf man ein paar erste Fragen stellen? Leben wir wirklich ständig in Gott, so dass Glaube nichts als eine neue Perspektive auf eine nicht veränderte Wirklichkeit ist? Ist also, wo kein Glaube ist, kein Gott? Ist Gott nicht vielmehr bisweilen fern, schmerzhaft fern, und daher doch – im Bild gesprochen – auch ein an- und abwesendes Gegenüber, im Modus von Nähe und Entzug? Dürfen wir ihn als Du ansprechen? Gott sei die Liebe, aber dann ist das Böse doch Abwesenheit von Gott/Liebe – bringt der Glaube nur einen besseren Umgang mit dem Bösen oder nicht auch die endzeitliche Hoffnung auf dessen Überwindung? Ist dieser atheistische Glaube nicht sehr innerlich, sehr präsentisch, ohne Geschichte, ohne Himmel? Wo bleiben die Opfer der Geschichte?

                Stefan Kiechle SJ

Höllinger, Stephanie / Goertz, Stephan: Sebastian. Märtryer, Pestheiliger, Queere Ikone.
Freiburg 2023. 240 S. Gb. 30,–.

Das vorliegende Buch verdankt sich einer Seminarveranstaltung zu Geschlechterordnungen, die die beiden Autoren, Stephan Goertz, Professor für Moraltheologie in Mainz, und Stephanie Höllinger, seine wissenschaftliche Mitarbeiterin, in Rom durchgeführt haben. Facettenreich skizzieren beide in sechs Kapiteln den Aufstieg eines eher unbekannten Märtyrers zu einem der populärsten Heiligen der Kirche und seine bleibende Bedeutung. So belegen sie, dass erst eine politische Entscheidung Sebastian zum Patron gegen die Pest gemacht hat (56) und der Heilige am Ende seiner Karriere sogar die am häufigsten dargestellte Heiligengestalt der italienischen Renaissance wurde (59).

An der Schwelle zur Neuzeit kommt es zu Transformationen in der Deutung des Heiligen. Er gibt sein ursprüngliches Patronat ab und wird zunehmend eine Identifikationsgestalt und Ikone queerer Identität. Auf diese Weise behält er jedoch bleibende Bedeutung. „Zuletzt überlebt Sebastian gar die Kritik der Aufklärung am Heiligen- und Reliquienkult und den Prozess der Entzauberung der Welt“ (75). Detailliert zeigen die Autoren auf, wie Sebastian in der darstellenden Kunst zur Identifikationsgestalt für Homosexuelle (80) oder HIV-Infizierte (120) wird. In der künstlerischen Fortschreibung wird deutlich, wie Sebastian jeweils seine neuen Patronate rezipiert und transformiert. Exemplarisch machen dies die Autoren an den Werken des polnischen Künstlers David Wojnarowicz deutlich (121 ff.). Eine eindrucksvolle Wandlung der Heiligengestalt identifizieren die Autoren auch in der Selbstinszenierung des Boxidols Muhammed Ali als Sebastian, der sich auf diese Weise einen neuen (moralischen) Status sichert (155). Sebastian wird dadurch zugleich der Frontmann einer politischen Freiheitsbewegung. Höllinger und Goertz machen vor allem deutlich: „Sanctity is a fluid category“ (113). Welche Identität ein Heiliger wie Sebastian besitzt, wird vor allem an (künstlerischen) Darstellungen sichtbar, die sowohl Deutungen einer vorhandenen Wirklichkeit sind und zugleich Identifikationsangebote für reale Personen in ihrer spezifischen Lebenssituation. Die Autoren bieten auf diese Weise eine spannende und gut belegte Reise durch die Rezeptionsgeschichte der Gestalt des hl. Sebastian durch nahezu alle Jahrhunderte.

Daran ändert auch der bisweilen etwas redundante Leseeindruck nichts. Die Ausführungen zeigen, dass der neuzeitliche Kontrollverlust von Kirche und Moral hinsichtlich der Deutungen des Heiligen einen Kontaktverlust zu neuen Deutungen zur Folge hat (9). An der Gestalt des Heiligen Sebastian zeigen die Autoren auf, dass der Emanzipierungsprozess von alten Zuschreibungen Ausdruck eines neuen freiheitlichen Selbstbewusstseins ist. Dass dies für die Verehrung von Sebastian nicht nachteilig sein muss, legen Höllinger und Goertz eindrucksvoll dar.

Jenseits kirchlicher und kirchenpolitischer (Selbst-)Deutungen wird Sebastian Projektionsfläche und Matrix einer queeren Community, von marginalisierten Gruppen in Gesellschaft und Kirche. Es kommt zu einem unerwarteten Kontakt, zu einer Identifikation mit einer Gestalt, die in der Kirche deutlich und sichtbar gegenwärtig ist. Auf diese Weise repräsentiert Sebastian Personen, die bislang (noch) nicht sichtbar werden (können). Er wird so zum Fürsprecher derer, die – sozialethisch gesprochen – noch nicht gerechterweise den sichtbaren Platz einnehmen können, der ihnen zusteht. Die Identifikationsgeschichte des hl. Sebastian ist noch nicht zu Ende erzählt (158). Seine Gestalt hat „hohes subversives Potential“ (166) und eröffnet Raum für weitere Narrative und immer neue Identifikationen.

                Dirk Gärtner

Hoyeau, Céline: Der Verrat der Seelenführer. Macht und Missbrauch in Neuen Geistlichen Gemeinschaften.
Freiburg: Herder 2023 (Paris 2021). 296 S. Gb. 30,–.

Die Journalistin Céline Hoyeau war nach eigenen Angaben Opfer religiösen Machtmissbrauchs. Die Autorin war selbst Teil der charismatischen Erneuerungsbewegung Frankreichs. Als junge Journalistin hatte sie euphorisch manche Gründer geistlicher Bewegungen porträtiert. Heute fragt sie selbstkritisch, warum sie sich habe täuschen lassen. Mit ihrem sorgfältig recherchierten Buch will sie Wahrheiten über die Täter innerhalb ihrer Kirche ans Licht bringen, an der sie trotz aller Kritik festhält. Durch die Analyse von Fehlentwicklungen bei geistlichen Vätern und Müttern der französischen Kirche zeigt ihr Buch gravierende Irrwege auf und trägt dazu bei, dass religiöser Machtmissbrauch aufgedeckt wird und dringend notwendige Vorbeugungsmaßnahmen ergriffen werden.

Startpunkt von Hoyeaus persönlicher Geschichte war die Erfahrung, dass weder die Pfarrei noch die Schulseelsorge ihre drängenden Existenzfragen beantworten konnten. Ihre Sinnsuche trieb sie damals populären „heiligen Männern“ und Gemeinschaften in die Arme. Hoyeau analysiert in ihrem Buch, dass die charismatischen Gründer damals viele Katholik:innen mitreißen konnten, weil sie dem zeittypischen Modell der Evangelisierung entsprachen, das Papst Johannes Paul II. verkörperte.

Das gesamte Buch zeichnet eine gute Lesbarkeit und flüssige Schreibweise aus, wie man das von einer erfahrenen Journalistin erwarten kann. Die lebendige Sprache macht die fehlende Systematik wett. An prägnanten Einzelgeschichten verdeutlicht Hoyeau, dass nicht jeder spirituelle Missbrauch zwangsläufig zu einem sexuellen Übergriff führe. Aber in einer Kirche sei sexueller Missbrauch immer zuerst spiritueller Missbrauch. Eine Person benutze ihre moralische oder religiöse Autorität und Aura, um Macht über das Gewissen des Gegenübers auszuüben und die Kontrolle über sie zu erlangen. Missbrauchstäter nähmen damit den Platz Gottes in der Seele des anderen ein.

Die zahlreichen Beispiele sind authentisch, schonungslos und detailliert. Mit psychologischem Gespür analysiert sie die Täter als Persönlichkeiten mit zwei Gesichtern. Auf der einen Seite seien sie aufrichtige Heilige und charismatische Leitungspersonen, auf der anderen Seite unreife Charaktere, die ihre Autorität selbstsüchtig ausnutzen würden. In einem eigenen Buchkapitel untersucht sie die gefährliche Macht der Mystik. Auf der Suche nach intensiven Gottesbegegnung käme dem geistlichen Seelenführer eine besondere Macht zu, die dieser manchmal zum Eigennutz verwende. Zu Recht fordert die Autorin eine kritische Analyse der Mystik und ihre Rolle beim Missbrauch und beim Vertuschen durch die wissenschaftliche Theologie. Den betroffenen Organisationen will die Autorin die Augen dafür öffnen, mehr Verantwortung für die Opfer zu übernehmen und endlich Schutzmaßnahmen einzurichten.

Es ist dem Verlag und der Herausgeberin Hildegund Keul zu danken, dass dieses Buch nun in deutscher Übersetzung vorliegt. In ihrem pointierten Vorwort hebt Keul hervor, dass wegen des strikten Laizismus in Frankreich die Laiengemeinschaften einen höheren Stellenwert hätten als in Deutschland. Eine Besonderheit des Buches ist die von der Herausgeberin ergänzte Liste im Anhang. Darin werden tabellarisch die über zwei Dutzend geistlichen Gemeinschaften Frankreichs charakterisiert. Sie enthält Namen, Anklage, Art des Missbrauchs und Status des Gerichtsverfahrens der im Buch vorkommenden gestürzten Gründerinnen und Gründer. Eine solche Übersicht über die Täter und Gruppen geistlichen Machtmissbrauchs im deutschsprachigen kirchlichen Umfeld steht noch aus und ist dringend erforderlich.

                Michael Utsch

Lange, Christiane / Stahl, Andreas / Kerstner, Erika (Hgg.): Entstellter Himmel. Berichte über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche.
Freiburg: Herder 2023. 240 S. Gb. 26,–.

„Alle. Alle sind kontaminiert.“ So beginnt Peter Hundertmark einen Aufsatz über Missbrauch in der Kirche (<www.geistlich.net> – 23.4.2023). Und davon zeugt auch dieses Buch: Alle – eben auch alle Kirchen. Längst haben die protestantischen Kirchen die Naivität verloren, haben sich auch im evangelischen Raum Strukturen etabliert, um Betroffenen Anlaufstellen zu bieten und Schutzkonzepte aufzubauen. Schritte sind gegangen – immer noch zu wenige, immer noch zu zögerlich, aber dennoch: Das Thema wird sichtbar(er). Dazu dient auch ein Buch wie das vorliegende, das in einem ersten Teil aufzeigen, in einem zweiten Teil einordnen will: Den persönlichen Berichten von zehn Menschen werden drei vertiefende und weiterführende Aufsätze angefügt.

In den „Berichte[n] von Betroffenen“ werden Männer und Frauen mit ihrer Geschichte sichtbar. Sie berichten von bedrohtem Leben, im Kontext Kirchengemeinde, Pfarrhaus oder Kinderheim, und sie tun dies in ganz individuellem Stil, manche erzählend, andere mit Korrespondenzmaterial oder auf eher aphorismenhafte Weise. Was man da liest, tut im Herzen weh, lässt den Atem stocken, und manchmal auch richtig wütend werden – und es rückt nahe! Man liest von theologischen (Um-)Deutungen, die sprachlos machen, von blanker Gewalt gegenüber schutzbefohlenen Kindern und Jugendlichen, vom Wegducken der Täter, die – geschützt von der Institution Kirche – in keinem einzigen der geschilderten Fälle Schuld übernehmen! Man liest von zerstörtem Vertrauen – in Familie, in Gemeinde, ja: in Gott. Und zugleich spürt man Menschen, die „überlebt haben und ihr Leben gestalten können[, die] ihre Würde und ihre Wahrheit gefunden“ haben (7) – gerade auch diese Perspektive ist wichtig.

Und damit wird die dreifache Intention dieses Buches deutlich: Es will erstens Menschen ihre Stimme (zurück)geben, indem sie sich zeigen und selbstbestimmt ein Stück ihrer Geschichte mit uns teilen können. Es fordert zweitens auf, „sich zu Zeugen von Gewalt und Leid machen zu lassen und die Last derer, die unter die Räuber gefallen sind, mitzutragen“ (8). Und es will drittens einen Beitrag dazu leisten, dass Alle in Zukunft wacher sind und die Kirche ein Schutzraum werden kann.

Die zweite Hälfte des Buches bietet mit drei Aufsätzen einen interpretierenden Rahmen, der im Dialog mit den Berichtenden entstanden ist und damit zeigt, dass nicht nur über Selbstbestimmung der Betroffenen geredet wird, sondern dass dies auch ernstgenommen und umgesetzt wird. Daran teilzuhaben ist eine Stärke dieses Buches.

Christiane Lange, Mitglied in zahlreichen Aufarbeitungsinitiativen der EKD, schreibt im ersten Text vom (Wieder-)Aufstehen, Elisabeth Kerstner fächert mit ihrer langjährigen Begleiterfahrung im zweiten Text die verschiedenen Ausprägungen von Gewalt auf. Diese beiden Texte sind einander in Thema und Stil recht nahe, haben einige redundante Passagen, tragen aber auch dazu bei, Muster und Strukturen sichtbar zu machen und die Betroffenen damit aus der Vereinzelung und Vereinsamung zu holen. Im dritten Text wendet sich Andreas Stahl, ausgewiesener Fachmann in traumasensibler Seelsorge, dem Thema „Kirche und Glaube im Angesicht sexualisierter Gewalt“ zu. Dieser Abschnitt bietet eine Fülle an Wissen zu Themen wie religiöser Machtmissbrauch und theologische Umdeutungen. Darüber hinaus gibt er hilfreiche Informationen zur Seelsorge an traumatisierten Menschen – und lässt damit auch exegetische und liturgische/homiletische Herausforderungen anklingen.

Alle drei Texte zitieren ausführlich aus den voranstehenden Berichten, so dass sie auch denjenigen einen guten Einblick in die einzelnen Schicksale bieten, die sich die einzelnen Geschichten (noch) nicht zumuten können/möchten.

Fachliche Verweise und weiterführende Literatur werden sparsam und ausgewählt und angegeben, so dass, wer mag, sich vertiefen kann, es aber insgesamt ein Buch bleibt, das sich an ein breiteres Publikum wendet, um das brennende Thema auch über die Fachkreise hinaus zu öffnen. Ein Buch, das zu lesen sich lohnt – auch wenn einem dabei das Herz schwer wird. Aber genau darum geht es ja: Dass wir uns alle betreffen lassen und Alle an einer Kirche mitbauen, in der Menschen von Gott angesehen aufrecht leben können.

Katharina Rilling

Byrne SJ, Brendan: Gott, der die Last nimmt. Eine Begegnung mit dem Matthäusevangelium. Aus dem Engl. von Ralf Klein SJ.
Ostfildern: Grünewald 2022. 368 S. Gb. 36,–.

Brendan Byrne ist emeritierter Professor für Neues Testament an der University of Divinity in Melbourne, Australien. Hierzulande ist er ein weniger bekannter Name. Doch es wäre sehr zu wünschen, dass sich das ändert. Bereits 2020 erschien seine „Begegnung mit dem Lukasevangelium“ unter dem Titel „Die Gastfreundschaft Gottes“ in deutscher Übersetzung. Kürzlich, im September 2023, erschien Byrnes „Begegnung mit dem Markusevangelium“ unter dem Titel „Teure Freiheit“. Was das besondere dieser Reihe ist, kann exemplarisch an Byrnes vorliegender Darstellung des Matthäusevangeliums deutlich gemacht werden: Ein Fachexeget geht Schritt für Schritt, in verständlicher Sprache, mit theologischem Tiefgang und Sinn für sprachliche Details am Text des Evangeliums entlang. Er eilt nicht, trödelt aber auch nicht. Er breitet keine Gelehrsamkeit aus und gewährt doch an den entscheidenden Stellen kurze Einblicke in den Stand der innerexegetischen Debatte. So entfaltet sich ein erzählerischer Bogen – quasi eine exegetisch reflektierende Nacherzählung des Matthäusevangeliums, die man sogar, wenn man will, anderen Personen oder in Gruppen vorlesen und besprechen kann. Byrne hilft jedenfalls einem breiten Lesepublikum zu einem geistlichen Zugang zum Evangelium.

Im Vor- wie im Nachwort deutet Byrne an, welche Schwierigkeiten er selbst im Laufe der Jahre mit dem Matthäusevangelium hatte. Insbesondere die Spannung zwischen der matthäischen Betonung des Gerichts einerseits und der gleichzeitigen Betonung des Vorrangs des Barmherzigkeit-Kriteriums für Jesu Auslegung der Tora andererseits wird aufgezeigt und unter das Motto von Mt 11,30 gestellt: „Mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.“ So gelingt es ihm, deutlich zu machen, dass die Beschwörung des Gerichtes, wie sie besonders im Mt 25 auf den Höhepunkt kommt, zum Ziel hat, „die Gläubigen von ihrer Fixierung auf seine [Christi] zukünftige Anwesenheit als Richter zu lösen und stattdessen ihre Aufmerksamkeit auf seine Gegenwart in den Bedrängten und Notleidenden im Hier und Jetzt der Welt zu lenken. Das künftige Gericht entfällt nicht. Doch das barmherzige Handeln an den Bedrängten heute ist der bessere Weg, um im Reich Gottes aufgenommen zu werden“ (356). Eine sehr empfehlenswerte Lektüre, für erfahrene Bibel-Kundige ebenso wie für solche, die sich einen ersten Gesamteindruck von Matthäusevangelium verschaffen wollen.

                Klaus Mertes SJ

Anzeige: Traum vom neuen Morgen. Ein Gespräch über Leben und Glauben. Von Tomáš Halík

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