Ulrich von Willamowitz-Möllendorf (1848-1931), dem einflussreichen preußischen Wissenschaftsorganisator und vor allem dem „großen alten Mann“ der klassischen Philologie des 20. Jahrhunderts, steht es zu, über die Sprache von Paulus zu befinden. Er bescheinigt ihr eine „erquickende Formlosigkeit, die doch den Gedanken und Empfindungen ganz adäquat ist“, und er ergänzt: „Dieses Griechisch hat mit gar keiner Schule, gar keinem Vorbild etwas zu tun, sondern strömt unbeholfen in überstürztem Gesprudel direkt aus dem Herzen“ (Willamowitz-Möllendorf: Die griechische Literatur des Altertums. Berlin 1907). Und gerade so findet Paulus Formulierungen, die bleiben, Mantras, an denen man ein Leben lang kauen und dabei immer wieder neuen Geschmack finden kann: „Allen alles werden“ (1Kor 9,22). Oder: „Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“ (2Kor 12,10), oder: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (Gal 5,1).
Besonders beliebt bei Paulus sind auch Wortfolgen, die bis heute die Sprache der Christenheit prägen. Am berühmtesten wohl: „Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei“ (1Kor 13,13). Wenn auch die Liebe „am größten unter ihnen ist“, so stehen die drei doch nicht bloß unverbunden nebeneinander. Sie durchdringen sich gegenseitig: „Glaube, der in Liebe vollzogen wird“ (Gal 5,6); „Gerecht gemacht aus Glauben … rühmen wir uns unserer Hoffnung … Denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unseren Herzen“ (Röm 5,1.2.5).
Hoffnung, diese adventliche unter den Tugenden, steht im 5. Kapitel des Römerbriefes ihrerseits am Ende einer bemerkenswerten Wortfolge, die typisch ist für Paulus: „Bedrängnis bewirkt Geduld, Geduld Bewährung, Bewährung Hoffnung“ (Röm 5,3). Vermutlich meinte Paulus mit den Bedrängnissen (thlipseis) vor allem die Anfeindungen, denen sich die ersten Christengemeinden ausgesetzt sahen, und die er ja auch aus seinen autobiografischen Bemerkungen „rühmend“ bezeugt (vgl. die „Narrenrede“ 2Kor 11 f.). Es ist aber erlaubt, aktuelle Bedrängnisse hinzuzufügen, die nichts mit spezifischen Anfeindungen der Neokonvertiten in den frühen Christengemeinden zu tun haben: die drängenden Nöte unserer Zeit.
Sie drängen, da sie nach schnellen Reaktionen rufen – seien es anstehende Reformvorhaben in Kirche und Gesellschaft, oder seien es notwendige Reaktionen auf kriegerische Eskalationen oder drohende Naturkatastrophen. Ein Blick auf das zu Ende gehende Jahr 2023 bietet reichhaltiges Anschauungsmaterial. Doch hier stutzt der Betrachter der paulinischen Wortfolge: „Bedrängnis bewirkt Geduld.“ Warum ausgerechnet Geduld, zumal dann, wenn die Uhr tickt und die Zeit immer mehr drängt?
Im schönen deutschen Wort Geduld steckt das Wort dulden, oder auch: erdulden, wörtlich aus dem Griechischen eigentlich: „drunter bleiben“ (hypoménein). Das klingt zunächst passiv. Aber das ist ein Missverständnis. Panisches Hantieren mit schnellen Lösungen, die den Problemdruck für kurze Zeit mindern, aber nicht nachhaltig wirken, verstärken auf Dauer das Problem. Drunter bleiben – das bedeutet zunächst: sich stellen, sich auf einen langen Weg einstellen, der Panik widerstehen, sich nicht am Unmöglichen überheben, sondern das Mögliche tun. Das hat auch etwas mit dulden und erdulden zu tun, ist aber keineswegs nur eine passive Haltung.
Solche „Geduld“ soll sodann Bewährung bewirken. Philipp Erlebach (1657-1714) übernimmt in seiner Kantate „Die Liebe Gottes ist ausgegossen …“ (meine persönliche musikalische Entdeckung in diesem Jahr) für den griechischen Begriff (dokimé) überraschend das Wort Erfahrung. „Geduld bewirkt Erfahrung“. Das ist ein anregender Zugang zu dem schwierigeren Wort „Bewährung“. Angesprochen ist damit gerade auch die Erfahrung, die viele machen, wenn sie mit vielen guten Ideen und Absichten Verantwortung in Politik und Gesellschaft übernehmen: Nach dem ersten Aufbruch folgen die Mühen der Ebene, Widerstände, Rückschläge, Querschläge, Desillusionierungen, Erschöpfung. Erst in der Verantwortung entstehen auf diese Weise Selbst- und Problemerkenntnisse, die vorher so gar nicht zugänglich waren. Eine Erfahrungs-Expertise wächst heran, die über das hinausgeht, was Beratung von außen, und sei sie noch so kompetent, leisten kann.
Aber nicht nur Selbst- und Problemerkenntnisse wachsen in der Bewährungszeit, sondern auch neue Sinnerkenntnisse. „Bewährung bewirkt Hoffnung.“ Václav Havel, der für ein Leben in Bedrängnissen steht, hat den ermutigenden Satz geprägt: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“ Wer so hofft, der bleibt drunter unter den Bedrängnissen, statt sie bloß abschütteln zu wollen, und gewinnt so Ausdauer, in der sich tatsächlich eine Perspektive über die Bedrängnisse hinaus zeigt, „in überstürztem Gesprudel direkt aus dem Herzen“. So öffnet sich dann auch das geistliche Gehör für den Ruf des Evangeliums: „Wenn all das geschieht, dann richtet euch auf, und erhebt euer Haupt, denn es naht eure Erlösung!“ (Lk 21,28).