Wo das Wort „Kirche“ nach Vergangenheit schmeckt, in seiner Bedeutung brüchig, subjektiv, unstet geworden ist, wo es sich kaum mehr behaupten kann gegen innere Widersprüche und äußeren Druck, suche ich nach seinen Bild- und Sinnwurzeln in mir – das ist das Handwerk des Dichters, verbunden mit der Hoffnung, mehr zu finden als Persönliches. Bemerkenswerterweise sind meine frühesten Berührungen mit der „Kirche“ in meiner Kindheit in der DDR verbunden mit Leseerfahrungen. Dies ist kein Zufall. Verse waren mir über die Schläfen gestrichen in der Nacht,
„...wenn verlassen sind
die Räume, in denen Antworten erfolgen, wenn
die Wände stürzen und Hohlwege, aus den Bäumen
fliegen die Schatten, wenn aufgegeben ist
unter den Füßen das Gras,
weiße Sohlen betreten den Wind ...“
Ich hatte jenes Gedicht am Abend zigfach gelesen und nichts verstanden. Niemanden hatte ich jemals so sprechen hören. So etwas gab es nicht im Literaturunterricht, nicht im Radio, nicht in den Büchern, die ich sonst las. Ich war vierzehn Jahre alt und hatte mir einen Band von Johannes Bobrowski aus dem elterlichen Bücherschrank genommen. Zaubersprüche hatten mich eingeholt, unverstandene Vokabeln, die ein Flirren erzeugten, das mich tief verunsicherte. Was die Verse bedeuteten, konnte ich nicht im mindesten sagen, kein Zusammenhang erschloss sich zwischen den Geheimnissen, „Hohlwegen“, „weißen Sohlen“, „aus den Bäumen / fliegen die Schatten“.
Die Worte hallten im Schlaf wider. Am Morgen wachte ich auf und hatte eine Frage bestimmend im Kopf, die mit den Versen zunächst nichts zu tun hatte und ihnen doch unerklärlich entsprungen war: Ist ein Gott?
Ich wusste, dass es keinen gab. Die Frage war hundertfach in der Schule erörtert worden: Kirche war eine Vertröstung auf ein Jenseits, um Menschen niederzuhalten in Unterdrückung. Religion hatte keinen Ort im Sozialismus, unter den freien Besitzern der Produktionsmittel, die hier und heute eine bessere Welt bauten. Aber das Wort „Gott“ war an diesem Morgen doch wie ein Splitter da in meinem übermüdeten Kopf, so wie die Verse Bobrowskis, die mir nichts sagten und mich nicht losließen, Echos,
„... der Dornbusch flammt,
ich hör seine Stimme,
wo keine Frage war, ein Gewässer
geht, doch mich dürstet nicht.“
Wenn ich von meinen ersten Kirchenkontakten in meiner Jugend erzählen soll, greife ich oft auf bestimmte Muster zurück, höre mich sagen: Ich interessierte mich plötzlich für die Kirche, weil sie eine Gegenwelt war zu den engen Denk- und Sprachformen in der realsozialistischen Schule. Oder: Kirche war so fern wie New York oder das Amazonasdelta, und ich konnte doch hin. Nur über die Straße musste ich gehen in das baufällige Backsteinhaus, versteckt hinter hohen Bretterwänden, und durch das Gittertor hinein in die zwielichtige Zone. Der Hauch des Verbotenen und der Gefahr verlieh den muffigen Gemeinderäumen einen besonderen Reiz. Hier begann das Andere.
Aber ich war doch längst vertraut mit der Kirche, war aufgewachsen in strengen gottesdienstlichen Formen, nur ohne es zu wissen. Wenn ich mit meinen Freunden auf dem Schulweg mit der Straßenbahn über die Brücke des Elbflutgrabens in den Dresdener Stadtteil Übigau fuhr, wenn wir die kleine Plattensiedlung dort auf ewig schlammigen Wegen durchquerten und die „42. Polytechnische Oberschule“ näherkam, war uns unausgesprochen klar, dass wir uns selbst zurückließen. Noch als die lärmend über den Schulhof jagenden Jungen würden wir Rollen ausfüllen. Die Wirklichkeit war hier eine Liturgie, ein subtiler, feingliedriger und unentrinnbarer Kult vor dem Altar der Partei, als der „Vorhut“ einer „neuen Zeit“, die mitten unter uns wachsen sollte.
Der Appellplatz: Stillstand, die kindlichen Körper, winters umschwirrt von Schneeflocken, sommers von Mücken. Die winzigen Glieder von Insekten, Außenskelette, und die von halbwüchsigen Menschen, innere Gerüste, bildeten zusammen einen summenden Chor. Wir warteten auf den Parteisekretär oder den Direktor der Schule. Still – der Nacken, der Hals, der Schultergürtel. Wir Schüler waren geordnet nach Größe. Disziplinierte Geometrie unter strömenden
Faltern und Fahnen. Wir schrumpften.
Kinder fielen in eins,
schwenkten den Kopf in dem dumpfen
Tanz des Kindergebeins.
Die anfängliche lange Stille war ein stummes Bekenntnis unserer Schuld – der verletzten Disziplin, der Faulheit, der Einflüsterungen des Klassenfeindes, des mangelnden Glaubens. Dann wurde gesungen, ein Introitus: „Brüder zur Sonne zur Freiheit, Brüder zum Lichte empor...“ Die Lehrer zogen ein, in ihrer Mitte der Schulleiter. Er trat ans Pult und sprach eine Grußformel: „Seid bereit!“ Aus Hunderten Kehlen dröhnte es: „Immer bereit!“
Hinter dem Kollegium war ein Hochaltar aufgebaut. Dort stand eine Fahnenwand mit einem großen Bild des Genossen Erich Honecker, blumengeschmückt. Wortverkündigung, Reden und Reden folgten. Ich erinnere sie kaum, wir waren damit beschäftigt, still zu halten. Das Gefälle war enorm: Hier unsere zappeligen Körper, dort der strenge Priester „ohne Gott“, der uns den Weg wies in eine andere Welt. Zu Hochfesten gab es Sakramente: Urkunden und kleine Abzeichen aus Gold, Silber oder Bronze für die besten Schulleistungen und die meisten gesammelten leeren Flaschen und Stapel Altpapier. Man war stolz, man war verwandelt.
Zur sozialistischen Doktrin gehörte eine ausgefeilte Liturgie, das ist mir heute klar. Die Diktatur des Proletariats glich in ihrem Aufbruch zum Kommunismus einem religiösen Weg, sie war eine säkularisierte Transzendenzgestalt (wie es sie bis heute in einer Politik gibt, die auf Ängste wie auf überschießende Hoffnungen setzt), und so nahm sie religiöse Formen an, die denen der Kirche ähnelten. Warum aber taugten die gottesdienstlichen Formen so vorzüglich, um Macht zu demonstrieren?
Ich weiß nicht, wie ich dazu kam, an einem herbstlichen Spätnachmittag in der frühen Dunkelheit bei dem mir ganz fremden Ortspfarrer zu klingeln und ihn unvermittelt zu fragen, ob ich konfirmiert werden könnte – ohne dass ich wusste, was genau das sei, ja, nicht einmal, was ich ihn eigentlich hätte fragen wollen, denn das Wort „Konfirmation“ war nur eine Chiffre für das mir noch ganz Unbekannte. Und wäre ich damals am Abend nicht rechts, sondern links herum die Straße gelaufen, hätte ich beim katholischen Pfarramt geklingelt, und meine Biografie wäre eine andere geworden. Waren Verse von Bobrowski über die Straße vorausgeweht? Aber ich verstand sie doch gar nicht. Mittler ohne Botschaft waren sie, nur Auslöser für das plötzliche Gefühl, in mir nicht zu Hause zu sein. Eine „Stimme / wo keine Frage war“. Wie konnte die „Kirche“ mir damals so diffus und doch als bestimmende Sehnsucht begegnen, wo ich sie doch gar nicht kannte?
Die Ekklesia
Das deutsche Wort Kirche steht für ekklēsia in der griechischen Sprache, und ich beginne im Neuen Testament zu graben. Paulus hat das Wort wohl zuerst konsequent verwendet. Das Wort hat es in sich. Es reagierte auf die merkwürdigen Eigenarten jener antiken Bewegung, die wir heute als „christlich“ bezeichnen und von anderen abgrenzen. Aber das entstehende Christentum hatte ein geringes Interesse, neue Kulträume oder besondere Sphären des Heiligen zu schaffen. Die ersten Christen holten ihre spirituelle Kraft aus der Alltäglichkeit, aus den Gebräuchen des Essens und Trinkens, des Waschens, der Geselligkeit. Sie setzten das einfache Leben in einen neuen Zusammenhang. In kleinen körperlichen Gesten sprach sich ihr Glauben aus – in einer Fußwaschung und der tröstenden Handauflegung, in einem Weinkelch an den Lippen und im Brot auf der Zunge. Nichts Höheres wurde über den profanen Alltag gebaut, sondern der Alltag selbst verwandelt. Die Unaufdringlichkeit, ja vordergründige Unsichtbarkeit des christlichen Glaubens bei einer gleichzeitigen Aufhebung gültiger Normen und Gesetze verstörte und faszinierte die Zeitgenossen der neuen Bewegung. Hier war etwas am Werk, das keine Partikularität zuließ, keine Abgrenzungen in Raum und Zeit, in Schicht und Volk, keine Interessenzuordnung, ja nicht einmal Priester waren erkennbar, und die innere Gesetzlosigkeit war Programm. Was war geschehen?
Paulus sagte ekklēsia dazu. Geschehen war ekklēsia. Das war in der unsicheren Geste eines ersten Benennens gesagt. Menschen fielen aus ihren Lebensentwürfen, aus ihren Schicksalen heraus und wurden andere. Sie sagten dazu, sei seien „in Christus“, in dem Messias. Das war ein plötzliches Geschehen, eine Strömung, von der auch Paulus selbst erfasst war. Noch sah er keine Form. Was hätte für Paulus sonst näher gelegen, als die entstehenden Gemeinden synagōgē zu nennen? Synagōgē umfasste in seiner Bedeutung alles, was man in der Mitte des ersten Jahrhunderts als Selbstverständnis einer jungen religiösen Bewegung auf jüdischem Boden hätte vermuten können. Synagōgē war eine gängige griechische Übersetzung der hebräischen Worte qahal und ´eda – Bezeichnungen der Gemeinde Gottes, ihrer Versammlung im Namen des Herrn, erwähltes Volk. Und fühlten sich die ersten Christen nicht genau so? Als wahre Versammlung der Heiligen? Als neues Gottesvolk?
Aber Paulus sagte nicht synagōgē. Paulus sagte ekklēsia. Das Wort klingt, als suche es erst seinen Sinn. Bei den Griechen hieß ekklēsia die Versammlung der freien Bürger, das gesamte Volk, wenn es von einem Herold aus den Häusern gerufen wurde – ein profanes Wort: Herausgerufene. Die ekklēsia konnte im griechischen Sprachempfinden keinen besonderen Verein darstellen, keine Gruppe Glaubender, auch keine Kultgenossenschaft. Das alles meinte Paulus nicht. Paulus redete ja auch nie von „den Christen“, als präge diese ein Attribut, ein „christliches“ Unterscheidungsmerkmal von anderen religiösen Gruppierungen. Nein: ekklēsia ist nichts unter anderem, sie ist etwas anderes, eine plötzliche Veränderung, nichts, was man kennt. Wenn Paulus eine einzelne Gemeinde als ekklēsia anspricht, schwingt immer auch mit, dass eigentlich eine Gesamtheit gemeint ist – die ganze ekklēsia. Es gibt sie nur so. Wo auch immer sie geschieht, ist sie ganz, egal wie viele es sind, die in Christus versammelt sind, Denn es sind immer alle, und auch die Toten und die Kommenden gehören dazu. Es handelt sich um keine teilbare Menge. Das Geschehen ekklēsia ist nicht zu verstehen im Sinne einer Quantität oder eines abgrenzbaren Phänomens. Ekklēsia ist am ehesten die Beschreibung einer Unterbrechung, wie einer Bewusstseinsstörung. Sie ähnelt dem Nachbild eines grellen Lichtes, wenn man geblendet die Augen schließt und Ringe zerfließen, gelb und orange, nunmehr ohne Entsprechung in der äußeren Wirklichkeit. Etwas geschah, und was bleibt?
Was Kirche ist, kann sie letztlich nicht wissen, denn sie gründet nicht in sich selbst.
Ekklēsia – ein suchendes Wort. Anders können Christen wohl nicht von sich sprechen, denn sie wissen noch nicht, wer sie sind: „Auch ich, liebe Brüder, als ich zu euch kam, kam ich nicht mit hohen Worten und hoher Weisheit, euch das Geheimnis Gottes zu verkünden. Denn ich hielt es für richtig, unter euch nichts zu wissen als allein Jesus Christus, den Gekreuzigten. Und ich war bei euch in Schwachheit und in Furcht und in großem Zittern …“ , so artikuliert das Paulus in seinem Ersten Korintherbrief. Was Christen von sich wissen können, ist ein Nicht-Wissen. Sie können an nichts anknüpfen. Denn alle Erklärungen des Neuen würden doch dem Zusammenhang der Wirklichkeit vor dem Christusereignis entstammen, und von dort her kann es gar nicht verständlich werden, denn es war nicht denkbar, bevor es geschah. Das betrifft aber auch die Zukunft: Solange „danach“ noch Zeit vergeht, führt sie nicht weiter, sondern im Grunde immer zurück – auf den Christus, kommend und gekommen.
Wie konnte solche Christusverstörung haltbar werden? Was die „Kirche“ sei, verfestigt sich in der Bibel, indem unterschwellig die dauernde Fraglichkeit über die eigene Identität mitklingt: Was Kirche ist, kann sie letztlich nicht wissen, denn sie gründet nicht in sich selbst. Sie verdankt sich einem unverfügbaren Ruf: Heraus! Deshalb bestimmt sie auch über ihre Grenzen nicht, weiß nie sicher, wer dazugehört und wer nicht. Sie fällt fortwährend nach vorn, stolpert, ohne ins Gleichgewicht zu finden, durch die Zeit. Treu gegenüber dem Christusereignis ist, wer diesen prekären Zustand aufrechterhält. Er spricht von dem Gott und widerspricht sich; er sagt, was er nicht sagen kann; er schweigt, und er kann doch nicht schweigen. Er versucht zu verstehen, was da gewesen sei, als Christus geschah – ein Riss in der Wirklichkeit, und die Worte stocken. Sie haben keinen Sinn mehr, und sie haben noch keinen Sinn, sie nähern sich erst tastend ihrem Gegenstand, der sie notwendig macht. Menschen bitten, lallen und bitten (ganz egal ob in Zungenrede oder in vermeintlich klarer Überlegung): „Komme bald! Komm in die Silben! Komm in unsere Herzen, in die Riten, in die Bilder, in die Begriffe…“ Das ist Kirche.
Wie die Kirche wächst, wo sie schrumpft
Ich betrat einen abgedunkelten Raum. Eine Gruppe Jugendlicher saß an einem langen Tisch. Die meisten waren so alt wie ich, fünfzehn oder sechzehn. Es wurde, als ich eintrat, plötzlich still. Der Tisch endete vor einem Fenster, das mit einem schwarzen Rollo verhängt war und im ersten Augenblick aussah wie ein Loch in der Wand. Heute würde man das Haus, wo dieses hohe Zimmer im Erdgeschoss lag, eine Ruine nennen. Es stand einzeln auf einem weiten Hinterhof. Hier in der zweiten Reihe war Dresden noch Mitte der 1980er-Jahre eine Schutthalde. Ich wusste nur vage, was beten ist. Als kleines Kind hatte ich heimlich Zuckerstückchen oder Straßenbahnfahrscheine aufs Fensterbrett gelegt und erwartet, eine fremde Macht würde sie an sich nehmen. Mir erschien alles, was mit dem alten Wort „Gott“ zusammenhing, als etwas, vor dem man sich besser durch Schweigen schützte.
Mich führte in dieses Zimmer eine Anziehungskraft, die lange gewachsen war. Bis eben war ich nach außen hin ein strammer Verfechter der marxistischen Parteilinie gewesen, fügsam, ein Hundertprozentiger. Zugleich war ich ausgehungert von sprachlichen Formeln, Dunkelzellen des Empfindens. Jetzt stand ich in dieser Raumkapsel. Sie schwebte. Ihr Triebwerk war das Licht eines Diaprojektors, der ein Bild an eine Wand warf. Darauf sah man zwei gefaltete Hände. Wovon der Pfarrer sprach, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich auch nicht, wie ich an dem Tisch Platz fand. Ich weiß nur noch, wie sich mein Gehirn in einer Sprache festbiss, in der die Worte eine ganz ungewöhnliche Bedeutung hatten – ein Vibrieren, als ob nichts Benanntes es selber blieb, und etwas sprang mich an, drehte mich immer schneller um eine unbekannte Achse. Was das Wort „Frieden“ hier meinte, hatte nichts mit atomarer Bedrohung aus dem Westen zu tun. Wenn von „Wahrheit“ die Rede war, stand keine wissenschaftliche Weltanschauung drohend im Raum – nur ein nebulöser Sog, tastende Worte, die magischen klangen: „Dreieinigkeit“ und „zwei“ in den „Naturen“ und immer wieder das Rätselwort: „Gott“. Von da an war nichts mehr eindeutig. Kirche war zunächst eine Dauerirritation.
Der „Glaube an das Wort“ ähnelt heute einer schwindenden Eisscholle, die im Frühjahr auf der Elbe treibt. Sprache erscheint in ihrer Widerstandskraft bedroht, vor allem durch wuchernde Sekundärdiskurse, durch unverhohlene Lüge, durch Abschottung und durch die gezielte Flutung einer jeden bemerkenswerten Aussage durch eine Legion anderer. Alles darf man sagen – aber es verschwindet sofort in den zahllosen Strudeln, den wirren Schnellen umher. Enger, kanalisierter und damit reißender wird der Strom des uns Sagbaren.
In meiner Jugend in der DDR hatte ich über den Lektüren von Bibel, Meister Eckart, Rudolf Bahro und Friedrich Nietzsche (eine seltsame, dem Zufall der ankommenden Westpäckchen geschuldete Kombination) das bedrückende und ausweglose Gefühl, wie mir seit Kindergartentagen mit der Sprache das Denken deformiert worden sein muss. Ich lag stundenlang im Bett und las die Evangelien oder die verbotene Alternative, las den Zarathustra und war dann merkwürdig lebensuntauglich, nicht mehr gewappnet für das Tageslicht, für den Blick auf die Fassaden der Wohnblocks vor dem Fenster, die wehende Wäsche auf den Balkonen, die Hosen und Jacken, die sich wie die Blumentöpfe und Gardinen überall glichen, Bildsequenzen, als spränge der Arm eines Plattenspielers an einem Kratzer immer wieder zurück in dieselbe Rille. Die Lektüren irritierten so sehr, dass ich fast verstummte.
Kirche ist die Gestalt des Unaussprechlichen, ein dauerndes Krisengeschöpf.
Noch immer hallt mir auch der Klang alter Gebetstexte durch den Kopf, wie ich ihn bei meinen ersten ängstlichen Besuchen in einer Kirche wie niemals wieder hörte: völlige Neuheiten, Wendepunkte des Denkens, ohne dass ich hätte sagen können, worin sie bestanden. Der Unterschied zur Lektüre war einfach: Hier saßen lebende Menschen, die wirklich sangen und beteten und anders sprachen, als ich es je erfahren hatte: „Vater unser ...“ Bis heute ist mir, trotz einiger Enttäuschungen, die Kirche als Lebensform unentbehrlich geblieben, und ich hoffe auf sie – denn sie hat andere Kräfte als die stillen Schriften, aus denen sie sich nährt. Sie besteht aus atmenden Körpern, aus Stimmen und Augen, aus Lesenden und Hörenden und Betenden, die allemal mehr sind, als sie wissen, aus Lebenden und Toten. Die größte Gabe der Kirche ist aber, dass man in ihr gemeinsam schweigen kann. In der Stille wird das Wort, der Logos wieder beglaubigt.
Dass „Kirche“ macht- und ideologieanfällig ist, liegt womöglich in dieser Doppelnatur, die mir über meinen Erinnerungen einer religiös-areligiösen Kindheit aufscheint: Verstörtes Schweigen trifft auf ein öffnendes, lebendiges Sagen. Die Kirche rührt an die Grenzen der Wirklichkeit, ist mit unerreichbaren Sinnhorizonten befasst – und in allem Ausdruck davon lauert der Keim der Selbstüberhöhung, der Hybris letzter Sicherheit. Aber damit ist „Kirche“ noch nicht erfasst, sie ist auch das Eingeständnis, dass in jedem Ausdruck ein verstörendes Unsagbares ruht. Sie ist die Gestalt des Unaussprechlichen, ein dauerndes Krisengeschöpf.
Dies wird mir umso deutlicher, wenn ich von meinen frühen Erfahrungen her auf theologische Bestimmungen und Bildräume für die „Kirche“ schaue. „Leib Christi“ wird sie genannt, und das heißt doch: Sie ist ein Intervall zwischen dem Grundton des Logos, der in allem Gottes Liebe und Gegenwart ausspricht, und dem dunklen Schrei Christi am Kreuz in verzweifelter Gottesferne. Sie findet sich in der Fremde, im Vermissen Gottes, in unendlichem Abstand zu ihm – und zugleich steht sie in seiner Nähe, als Gefäß des Unsagbaren. In einem epigrammatischen Vers habe ich mich diesem Paradox ausgesetzt:
Der Gott, den es nicht gibt, in mir ein dunkler Riss,
ist meiner Seele nah, sooft ich ihn vermiss.
Manchmal scheint es, als würden die Kirchen in Europa in sich zusammenfallen wie Glasformen, die dem Außendruck nicht mehr standhalten. Ihre innere Leere ist vielerorts mit Händen zu greifen. Wo ist der Gott? Der Knall dieser Implosion ist heilsam. Erlöst wird ein fragliches Gefäß von seiner Form. Am Punkt höchster Verdichtung im Sturz nach innen – will man dem Bild folgen – kehrt sich die Richtung um, und der Druck schlägt nun nach außen, ins Offene. Wir sind zurück an dem Punkt, an dem Paulus stand und fragte: Wer sind wir?
Niemand weiß es, und das ist das Glück des Christentums. Wie froh bin ich manchmal über das Schrumpfen, das Schwinden! Sage dann heimlich zu mir: Gelobt seien die Statistiken des Niedergangs! Der dunkle Schatten des Abschieds: Er bringt die Wahrheit des Christentums zur Geltung, die nicht in einer Gestalt liegt, nicht in einer Volkskirche, nicht in einer wie auch immer gebauten Institution, sondern in einer unsichtbaren, unbenannten Existenzform, die nicht zu zählen und nicht abgrenzbar ist, ein Sog und Sehnen, ein Wehen in eine andere Welt. Die Wenigen sind die Vielen, die Letzten sind die Ersten, die Schwachen sind die Starken, die Niederen sind die Hohen. Verwirbelungen. Strudel. Der Gott ruft, und alles verliert sich, und so kommt Neues ans Licht: Auf in die Wahrheit der Verluste!