Konfrontative Religionsbekundungen

In Berlin-Neukölln wurde im Herbst vergangenen Jahres eine „Stelle gegen konfrontative Religionsbekundungen“ eingerichtet, eine Anlauf- und Registrierstelle für religiös begründetes „Dominanzverhalten“ von Jugendlichen in der Schule. Damit ist gemeint: Mobbing von Schweinefleisch essenden Mitschülern, Beschimpfung von als christlich wahrgenommen Mitschülern als „Kreuzfahrer“, Gewalt gegen Mädchen, die kein Kopftuch tragen, und so weiter. „Experten“ sollen nun auf Grundlage der Meldungen gezielt die entsprechenden Fälle aufarbeiten. Die Stelle wird mit Bundesmitteln gefördert und ist vom DEVI e.V. (Verein für Demokratie und Vielfalt in Schule und beruflicher Bildung) getragen, der sich „schon mehrere Jahre lang erfolgreich in der Prävention von konfrontativen Religionsbekundungen in Berliner Schulen engagiert.“ (Bezirksamt Neukölln, Pressemitteilung vom 9.9.2021).

Gegen das Projekt meldete sich im Januar 2022 ein Bündnis von rund 120 Wissenschaftlern, Mitgliedern der Zivilgesellschaft und Organisationen in einer Stellungnahme zu Wort. Aus pädagogisch-praktischer Sicht drohe das Vorhaben „entgegen dem erklärten Ziel, zum Schulfrieden beizutragen“, die Konflikte zu verschärfen. Es lägen keine „belastbaren Kriterien“ für die Einordnung von Verhaltensweisen als „konfrontativ“ vor. Dies erhöhe das Risiko von Fehleinschätzungen aller Art. Selbstverständlich: „Auch in Neuköllner Klassenzimmern sind – wie in der gesamten Gesellschaft – Fälle von Antisemitismus, Homo- und Transfeindlichkeit oder Sexismus ein ernst zu nehmendes Problem. Diese Fälle sind hinlänglich bekannt und werden besonders im Hinblick auf muslimisch wahrgenommene Schülerinnen und Schüler medial breit verhandelt.“ Aber wenn nun Lehrkräfte aufgefordert werden, nicht näher definierte Vorfälle „konfrontativer Religionsbekundungen“ an eine externe Stelle zu melden, werde das bloß eine Kultur der Denunziation etablieren und damit das Vertrauen zwischen Lehrern und Schülern zerrütten. Stattdessen fordern die Unterzeichner die Einrichtung einer unabhängigen Beschwerdestelle für Diskriminierungen in Schule und Kita, die in Diskriminierungsfällen für Rechts- und Handlungssicherheit sorgen soll.

Schaut man beim DEVI e.V. näher nach (Darstellung des Projekts in der Vorabversion für das Bezirksamt Neukölln, Dezember 2021), so fällt einerseits die Konzentration auf Islamismus-Prävention auf, mit Seitenblick auf vergleichbare Probleme und auf  Lösungsversuche in Frankreich, insbesondere in den Pariser Banlieux. Der Verein wehrt sich in diesem Zusammenhang gegen den Vorwurf der Islamophobie. Andererseits will er mit der Prämisse der gängigen Präventionsphilosophie und -praxis aufräumen, wie sie etwa auch im 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung (Berlin 2020) vorherrsche. Dort nähere man sich dem Phänomen der religiösen/islamistischen Radikalisierung „nahezu ausschließlich über strukturellen Rassismus und strukturelle Diskriminierung“ in der Aufnahmegesellschaft. Die Jugendlichen würden so „auf die Opferrolle abonniert“. Diskriminierungsdiskurse in der Aufnahmegesellschaft, Markierung als Muslime (= Islamophobie) sowie  tief schlummernder Rassismus würden dann als die eigentlichen Ursachen für religiöse Radikalisierung unter Schülerinnen und Schülern angesehen, nicht die Religion selbst.

Mit Rückgriff auf die Entwicklungspsychologie von Erik H. Erikson stellt der Verein die Gegenthese auf. Religiöse Herkunftswelten seien tief eingewoben in das Gewebe der jugendlichen Psychologie. Diese nicht ernst zu nehmen bedeute, die Jugendlichen selbst nicht ernst zu nehmen. „Die Behauptung, dies alles habe mit dem Islam nichts zu tun, verweigert den Jugendlichen in letzter Konsequenz jegliche Ernsthaftigkeit – und zwar sowohl als Personen als auch im pädagogischen Prozess selbst. Prävention, die die Jugendlichen wesentlich entlang von Opfernarrativen wahrnimmt, begegnet ihnen in einer bevormundenden Haltung, die ihnen die wenigen verbleibenden Mittel zur Lösung der existentiellen Krise, als die Jugend mit Erikson beschrieben werden kann, aus der Hand nimmt“ (52).

Dem kann ich nur zustimmen. Aber das führt dann auch die Gesellschaft als Ganze vor eine sehr grundsätzliche Frage: Anerkennt sie die „Frage nach Gott“ überhaupt noch als eine ernsthafte Frage? Man kann ja die religiöse Frage – nicht nur die von religiös geprägten Kindern und Jugendlichen aus allen möglichen Konfessionen, sondern auch die aus agnostischen und religionslosen Elternhäusern – als handelnde Lehrkraft oder als von außen intervenierende Expertin nur dann ernst nehmen, wenn man sie für sich selbst ernst nimmt, das heißt: für diskurswürdig hält. Die „Frage nach Gott“ ist eben nicht nur bedeutsam für Präventionskonzepte. Sonst nimmt man nämlich nicht nur diejenigen Jugendlichen nicht ernst, die durch konfrontative Religionsbekundungen auffallen, sondern auch alle die anderen nicht.

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