Russland und die UkraineDivergenz zweier Gesellschaften

Die russische Bevölkerung scheint den Kriegszustand bisher zu ertragen, aber die Mobilisierung hat die Lage verändert. Um das zu verstehen, müssen wir die Allgegenwart der Gewalt und die Aufwertung der "Männlichkeit" in der russischen Gesellschaft berücksichtigen. Das kennzeichnet den Unterschied zur ukrainischen Gesellschaft: Zwischen beiden Ländern wird die Kluft immer größer. Anna Colin Lebedev doziert Politikwissenschaft an der Universität Paris Nanterre. François Euvé SJ, Chefredakteur von Études, der französischen Kulturzeitschrift der Jesuiten, stellte die Fragen. Der Beitrag, von dort übernommen, wurde von Stefan Kiechle SJ übersetzt.

François Euvé: Ende September 2022 verfügte Wladimir Putin eine Teilmobilisierung, um die Zahl der russischen Soldaten zu erhöhen. Dies betrifft einen größeren Anteil der Bevölkerung als die vorherige Rekrutierung, die hauptsächlich periphere Bevölkerungsgruppen betraf. Hat dies die Unterstützung der russischen Bevölkerung für die sogenannte militärische Spezialoperation in der Ukraine verändert?

Anna Colin Lebedev: Als die Mobilmachung verfügt wurde, war das für mich die schlechteste Entscheidung, die der Kreml treffen konnte, wenn er in den Augen der Bevölkerung seine Legitimität wahren wollte. Meine Analyse war, dass ein Fundament der Russen, ihre Staatsmacht zu unterstützen, in der Fähigkeit lag, sich vom Staat fernzuhalten. Dies ermöglichte es den Russen auch, wohlhabend zu werden und sich ein Leben vorzustellen, das ihnen richtig und akzeptabel erschien: ein vorhersehbares Morgen für sie und ihre Kinder.

Diese Unterstützung bestand in meinen Augen keineswegs im Festhalten an altruistischer Opferbereitschaft für das Vaterland. Die Grundlage des Gesellschaftsvertrags bestand darin, dass die Russen weiterhin offen – und ohne zu viele Fragen zu stellen – jede Politik unterstützten, die der Staat von ihnen verlangte, solange er sie ihr Leben leben ließ. In meiner Analyse behaupte ich, dass der Staat tatsächlich die eigene Macht auf die Probe stellt, mehr als bei jeder anderen politischen Strategie bisher. Selbst die stark umstrittene Rentenreform oder das problematische Management der Covid-Pandemie haben die Unterstützung für die Staatsmacht nicht so sehr beeinträchtigt. Wir stehen hier vor einer Entscheidung, die nicht nur fast die gesamte Bevölkerung in allen Schichten betrifft, sondern die eine Frage von Leben und Tod ist. Wir können sehen, dass die Indikatoren, wie so oft in Russland, nicht auf der Seite von Meinungsumfragen oder erklärten Überzeugungen zu finden sind, sondern auf der Seite des Verhaltens; nicht darin, was die Leute sagen, sondern in dem, was sie tun. Die Spitze des Eisbergs ist die massive Flucht der Russen ins Ausland, auch wenn es unter ihnen einige gibt, die fliehen und gleichzeitig die sogenannte militärische Spezialoperation unterstützen. Letztere sind nicht unbedingt gegen die Staatsmacht, sondern sie sagen: „Das ist vielleicht ein gerechter Krieg – aber ohne mich“. Was wir nicht abschätzen können, ist die zahlenmäßige Bedeutung derer, die der Mobilisierung entgehen. Wenn ihre Motivation darin besteht unterzutauchen, werden sie das verständlicherweise nicht öffentlich zeigen. Die Quantifizierung wurde noch schwieriger, als die Militärbehörden mit der Mobilisierung fortfuhren, ohne unbedingt einer strengen Liste zu folgen. Am Anfang gab es zwar eine Liste von Leuten, die mobilisiert werden sollten, aber dann ging man größtenteils mit Razzien vor. Wir wissen nicht, wie viele Personen eine Vorladung erhalten haben.

Ich denke, dass wir uns derzeit in einer Zwischenphase befinden, in der das Schicksal der Mobilisierten die Wahrnehmung der Russen noch nicht massiv erreicht hat. Die Angehörigen der Mobilisierten klagen über Soldaten, die ohne Ausrüstung oder ohne Vorbereitung an die Front geschickt wurden. Aber anstatt der Staatsmacht die Schuld zu geben, schreiben sie diese Situation einem lokalen Versagen zu: Wie kommt es, dass Putins Anordnungen vor Ort nicht umgesetzt werden? Darüber hinaus setzt die russische Regierung die üblichen Maßnahmen um: Sie versucht, den Protest in Geld zu ertränken, indem sie den Mobilisierten riesige Gehälter und ihren Familien eine Reihe von Sachleistungen gewährt. In den ersten Monaten der Mobilisierung verbrachten die Familien der Mobilisierten ihre Zeit damit, in den Büros der verschiedenen Verwaltungen herumzulaufen, um ihre Rechte geltend zu machen. Aber anders als die unter Vertrag stehenden Soldaten werden die Mobilisierten ihre Stimme erheben und protestieren. Diejenigen, die lebend zurückkommen, werden erzählen, was mit ihnen geschehen ist. Es ist also eine tickende Zeitbombe, die sich der russische Staat unter die Füße gelegt hat.

Haben die Mobilisierten nicht angefangen zu reden?

Es kursieren bereits viele Erfahrungsberichte. Andererseits wenden die russischen Behörden seit Beginn der Invasion dieselbe Strategie an: Sie bergen die Leichen auf den Schlachtfeldern nicht, und eine große Zahl der Getöteten wird als vermisst erklärt. Das gelingt recht leicht, da viele Mobilisierte abreisen, ohne zu wissen, welcher Militäreinheit sie zugeteilt werden. Manche fahren sogar ohne persönliches Identifikationszeichen weg. Wenn sie fallen, sind sie anonyme Körper.

Machen die Soldatenmütter mobil, wie es während des Krieges in Afghanistan und in Tschetschenien der Fall war?

Zwei Dinge haben sich seit diesen Jahren verändert. Zunächst der Kontext: In den 1990er-Jahren konnte Kritik noch im öffentlichen Raum formuliert werden. Gewöhnliche Menschen konnten sich zu Wort melden und manchmal einige Rechte gegenüber dem Militär geltend machen. Heute bestraft das Gesetz jede Kritik an der russischen Armee. Um strafrechtlich verfolgt zu werden, reicht es schon, wenn eine Mutter oder Ehefrau andeutet, dass das Militär ihr die wahren Tatsachen verheimlicht – der Vorwurf lautet dann, dass sie die russische Armee diskreditiert habe. Das Militär droht den Familien manchmal auch damit, den Soldaten als Deserteur oder Vermissten zu erklären, was den Angehörigen die Möglichkeit auf finanzielle Entschädigung verwehrt.

Das zweite Unterschied zu heute ist, dass zur Zeit des Tschetschenienkriegs Wehrpflichtige eingezogen wurden, das heißt sehr junge Männer. Mütter wagten es damals, ihre Kinder zu verteidigen. Dies entsprach der Rolle, die Frauen in der Öffentlichkeit sowohl in der Sowjetunion als auch in Russland zugeschrieben wurde: Sie waren die Personen, die mit der Pflege und dem Schutz der Kleinen beauftragt waren. Der Wehrpflichtige fiel in diese Kategorie. Er galt umso mehr als minderjährig, als ihm während seines Militärdienstes die Ausweispapiere entzogen wurden. Wenn eine Mutter zum Telefon griff, um einen Beamten zu erreichen, weil sie sich Sorgen um ihr Kind machte, war sie in einer gesellschaftlich akzeptierten Rolle, auch bei den Militärbehörden. Heute sind die eingezogenen Männer und die vertraglich verpflichteten Soldaten Erwachsene. Ihre Situation betrifft viel weniger ihre Mütter als ihre Ehefrauen.

Auch hier rückt die Frage nach gesellschaftlich akzeptierten Rollen für Männer und Frauen in den Mittelpunkt. Wenn wir die Worte der Männer hören, die an die Front gehen, dann gehen sie im Namen einer bestimmten Vision von Männlichkeit. Diese Männlichkeit ist nicht unbedingt kriegerisch. Das Rollenbild trägt die Idee einer gewissen Ehre in sich: Ich bin ein Mann, ich werde mich nicht entziehen, ich werde meine Pflicht als Mann tun. Diejenigen, die für Propaganda empfänglich sind, gehen mit der Idee, dass sie ihre Heimat verteidigen. Die Frauen denken dementsprechend: Selbst wenn sie die Abreise ihres Mannes missbilligen, dürfen sie ihn nicht daran hindern, das zu tun, was seine männliche Pflicht vorschreibt. Sich heute der Mobilisierung des Ehemanns in einer Gesellschaft zu widersetzen, in der die Idee eines gerechten Krieges tief verwurzelt ist, bedeutet in gewisser Weise, ihm seine Männlichkeit zu nehmen. Andererseits, wenn Särge oder verwundete oder verstümmelte Männer in größerer Zahl zurückkehren, werden die Frauen wieder sprechen. Sie werden dies im Namen des Schutzes der Schwachen tun, was weiterhin ihre soziale Rolle ist. Im Moment fehlt ihnen dafür der Platz.

Man spricht von einer Militarisierung der russischen Gesellschaft. Auch wird von einer starken Dominanz der Männer gegenüber den Frauen gesprochen, wie die Debatte um häusliche Gewalt gezeigt hat.

Unterdrückung durch Männer ist eine Beobachtung, die von mehreren Kollegen geteilt wird, aber meine Lesart ist ein wenig anders: Das Geschlechterverhältnis basierte zu Sowjetzeiten wie heute auf der Kombination zweier Dinge: einem breiten Zugang von Frauen zu Bildung und Berufsleben und der Überzeugung, dass es einen biologischen Unterschied zwischen Männern und Frauen gibt, der ihre gesellschaftlichen Rollen definiert. Frauen arbeiten heute und verfolgen Karrieren wie zu Sowjetzeiten. Männer und Frauen haben die Pflicht, in den öffentlichen Raum zu investieren und sich dort zu entfalten: Frauen werden nicht in den häuslichen Bereich verbannt. Dies ist jedoch verbunden mit einer Ideologie grundlegender biologischer Unterschiede, die die Rollen bestimmen, die Männer und Frauen in der Gesellschaft spielen sollen. Es gibt eine Liste von Berufen, die Frauen seit der Sowjetzeit verschlossen sind. Beispielsweise können Frauen erst seit Kurzem U-Bahn-Fahrerin werden, was früher als zu gefährlich für sie galt. Anders als in der Ukraine gibt es in der russischen Armee noch immer keine Frauen in Kampfrollen. Die Männer ihrerseits sind zu Sowjetzeiten wie heute aufgefordert, sich in ihrem Beruf einzusetzen und gleichzeitig ihren Platz als potenzielle Verteidiger des Vaterlandes einzunehmen.

Ich glaube nicht, dass die russische Gesellschaft militarisiert wurde, aber ich denke, dass die männliche Fassade der Männer verstärkt wurde. Ein Grund dafür ist, dass Russland in den letzten Jahrzehnten fast ununterbrochen Krieg geführt hat. Der Staat versuchte, ein gewisses Image des Militärs wiederherzustellen, das in den 1990er-Jahren beschädigt worden war. Auch wenn die Fassade viriler wurde, spreche ich nicht von einer tiefen Militarisierung der Gesellschaft. Ein großer Teil der Mobilisierten leistete keinen Wehrdienst oder hat schlechte Erinnerungen daran.

Was häusliche Gewalt betrifft, so denke ich, dass sie eher mit der allgemeinen Gewalttoleranz in der russischen Gesellschaft zusammenhängt, die extrem hoch ist. Häusliche Gewalt ist gesellschaftlich genauso akzeptiert wie andere Formen von Gewalt, zum Beispiel in Schulen, im Gesundheitswesen, in der Kinder- oder Behindertenbetreuung und natürlich in der Armee.

Gibt es bei diesen Fragen Unterschiede zwischen Stadt und Land oder zwischen den Generationen?

Ich sehe vor allem einen Unterschied zwischen den sozialen Milieus. Ein junger Mann aus bescheidenen Verhältnissen ist viel stärker von diesen Modellen durchdrungen. Da Russland sowohl territorial als auch beruflich sehr disparat ist, lebt dieser Russe eher am Stadtrand und in ländlichen Gebieten. Anders verhält es sich in der Bevölkerung der Großstädte und vor allem in wohlhabenden Kreisen, die viel auf Reisen waren. Diese Generation war die erste, die nun das Land verließ.

Können wir von einem massiven, sogar endgültigen Exodus sprechen?

Vermutlich planen die, die jetzt gehen, nicht, für immer zu gehen, genauso wenig wie jene es planten, die nach 1917 gegangen sind; aber letztere blieben doch im Exil. Die Exilanten von heute ziehen es vor, dieses Szenario nicht in Erwägung zu ziehen. Es wäre für sie unerträglich zu glauben, dass Russland für lange, dunkle Jahre ins Unglück stürzt; sie hoffen lieber, dass die Dinge bald wieder ihren normalen Lauf nehmen. Darüber hinaus gehören diejenigen, die heute ausreisen, anderen sozialen Milieus an als die Emigranten nach 1917. Die politischen Eliten sind bisher kaum ausgereist, weder jene, die sich um den Kreml scharen, noch die regionalen politischen Eliten. Vor allem die intellektuellen Eliten haben das Land verlassen und eine gewisse Anzahl von Unternehmern, nicht so sehr aus Opposition gegen den Krieg, sondern weil der Krieg das Geschäft verdirbt. Diese Verluste destabilisieren zwar nicht die politische Macht, aber bestimmte Bereiche der Wissenschaft oder der Bildung. Menschen, die auswandern, bleiben je nach den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln unterschiedlich lange im Ausland. Diejenigen, die ohne ausreichende Sprachkenntnisse und berufliche Bildung wegen der Mobilisierung geflohen sind, können sich im Ausland schlecht integrieren und werden wahrscheinlich bald zurückkehren. Diejenigen, die bereits Verbindungen ins Ausland hatten und sich sagen, dass die Zukunft ihrer Kinder außerhalb Russlands liegt, haben vielleicht andere Pläne.

Um auf die Geschlechterfrage zurückzukommen: Ist der Platz von Männern und Frauen in der ukrainischen Gesellschaft dem in Russland vergleichbar?

Es ist in der Tat interessant, Russland und die Ukraine in dieser Dimension zu vergleichen. Beide Länder gehen vom gleichen Modell aus. Die gesellschaftlich akzeptablen Geschlechterrollen sind ziemlich gleich. Auch die Beziehung zum öffentlichen und militärischen Bereich ist in etwa gleich. Das war besonders heikel, als 2014 der Krieg ausbrach. Ukrainische Frauen schlossen sich den Freiwilligenbataillonen an, weil das Gefühl der Bedrohung stark war. Aber die Rollen waren scharf getrennt: Die Frauen bekleideten offiziell nicht-kämpfende Positionen als Krankenschwestern oder als Buchhalterinnen, obwohl sie in Wirklichkeit in den Kampf gingen. Außerdem waren sie sehr zahlreich im Hinterland, in all den Verbänden, die das Militär unterstützten, auch um Geld zu sammeln, um Ausrüstung zu kaufen, um die Streitkräfte zu versorgen usw.

Die Trennung besteht immer noch, aber da die gesamte Gesellschaft in den Krieg verwickelt war, versuchten die Frauen sofort, weiterzugehen. Die Partnerschaft mit westlichen Armeen und der Wunsch der ukrainischen Armee, auf NATO-Standards umzusteigen, haben eine bereits latent vorhandene Dynamik der Inklusion von Frauen beschleunigt. Infolgedessen fand zwischen 2014 und 2022 ein radikaler Wandel statt. Heute sind alle rechtlichen Barrieren für die Teilnahme von Frauen am Kampf aufgehoben. Frauen können sich in Kampfpositionen einschreiben. Es gibt bereits Offizierinnen, auch in den Spitzenrängen. Ich denke, dass die Auswirkungen dieses Umbruchs nachhaltig sein und auf andere Bereiche der Gesellschaft abfärben werden, in denen noch immer eine traditionelle Vision herrscht, die der zu Sowjetzeiten ähnelt. Der Krieg verändert die ukrainische Gesellschaft, die sich ohne ihn nicht so schnell verändert hätte.

Ein Element, das den Krieg zumindest in den Augen des Moskauer Patriarchen Kirill rechtfertigt, ist der Kampf gegen die Verdorbenheit des Westens, der Gay-Prides organisiert und die Vereinigung von Menschen gleichen Geschlechts akzeptiert. Wie wird die Frage der Homosexualität von der russischen Gesellschaft wahrgenommen?

Um die aktuelle Situation zu beurteilen, müssen wir kurz in die Geschichte schauen. Zu Sowjetzeiten war Homosexualität ein Verbrechen, das mit Gefängnis bestraft wurde. Seit dem Ende der UdSSR wurde Homosexualität entkriminalisiert, allerdings mit großer Gleichgültigkeit. Daher fand die Debatte über sexuelle Vorlieben nie statt. Tatsächlich war die Gesellschaft viele Jahre lang freizügig, aber eine Reihe von Fragen wurden nie gestellt. Für die Russen ist dies ein Thema, bei dem sie weiterhin völlig unwissend sind. Diese Ignoranz macht die Dämonisierung des Themas einfach: Die orthodoxe Kirche hat es heute ebenso wie der Staat an sich gerissen. Der Nährboden für die aktuelle Dämonisierung von Homosexuellen ist daher die Unwissenheit. In den 1990er- und 2000er- Jahren wurden in Russland viele Themen in öffentlichen Debatten aufgeworfen: Im Vergleich zur Sowjetzeit hat sich die Gesellschaft deutlich humanisiert. Aber dieses Thema ist völlig im Schatten geblieben.

Wie könnte man den Unterschied zwischen der russischen Gesellschaft und der ukrainischen Gesellschaft charakterisieren? Wie hat sich diese Divergenz vertieft?

Ich werde mich an das halten, was nach der gegenwärtigen menschlichen Erfahrung beurteilt werden kann. Wir gehen nicht von der gleichen Situation aus: Die historischen Erfahrungen sind für einen ukrainischen Bürger aus Lemberg und für einen russischen Bürger aus Wolgograd objektiv verschieden. Die Erfahrung des Krieges ist nicht die gleiche, ebenso wie die der stalinistischen Repression. Der Platz jeder Gesellschaft in der Sowjetunion – sind wir im Zentrum oder am Rand? – ist nicht der gleiche. Sowjetrussland hat sich nie die Frage seiner Identität im Verhältnis zu anderen Republiken gestellt. Das neue Russland hat die Unterdrückung, die es seinen Nachbarn möglicherweise zugefügt hat, nie hinterfragt.

Die Ukraine machte durch diese Zwitterhaftigkeit, die während der Sowjetzeit aufgebaut wurde, sofort eine andere Erfahrung. Wenn sich Gesellschaften trennen und zu zwei unabhängigen Staaten werden, haben sie bereits weder den gleichen Ausgangspunkt noch die gleiche Geschichte, die es wiederzuentdecken gälte. Außerdem waren die dreißig Jahre der Unabhängigkeit Zeiten eines ganz anderen Staatsaufbaus. Die Vergangenheit wurde auf andere Weise gedeutet. Auch die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Erfahrungen sind für die Ukraine und für Russland nicht dieselben. Aber mir ist wichtig, dass Unterschied nicht unbedingt Unterschied bedeutet. Die aus der UdSSR hervorgegangenen Staaten folgten jeweils einem bestimmten Weg. Diese fünfzehn Wege führten nicht zu fünfzehn widersprüchlichen Gesellschaften. Der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland ist in erster Linie mit einer politischen und nicht mit einer sozialen Dynamik verbunden. Um es klar zu sagen: Dieser Krieg hatte außerhalb der politischen Logik von Wladimir Putin keinen Grund. Es gab keinen grundlegenden Konflikt zwischen der russischen und der ukrainischen Gesellschaft, der erklären könnte, warum sie irgendwann gezwungen sein sollten, in Konflikt zu geraten. Vielmehr herrschte eine sanfte gegenseitige Gleichgültigkeit. Jeder ging seinen eigenen Weg. Was im Nachbarland passiert ist, ist Leuten passiert, die man gut kannte – Nachbarn, Freunden… –, aber es war ein anderer Staat. Diese Unterscheidung war in den 1990er-Jahren nicht sichtbar, ist aber in den letzten dreißig Jahren auf beiden Seiten alltäglich geworden.

Wenn der erste Grund für den Konflikt die Politik des russischen Staates ist, so konnte diese doch Fuß fassen, weil der russische Staat eine gewisse russische Vorstellungswelt mobilisierte. Das Bild, das Russland vom Zweiten Weltkrieg entwickelte, erleichterte das Eindringen der Idee, dass die Ukraine von einer Neonazi-Macht regiert werde. Dass die russische Gesellschaft auf die Unterdrückung, die sie an ihren Rändern ausgeübt hatte, nicht mehr zurückgriff, begünstigte die Idee, dass die Ukraine zu Russland gehörte. Ignoranz, Amnesie, falsche Gewissheiten und von Schulbüchern vermittelte Klischees wurden durch Putins Staat mobilisiert, um sein Land in den Krieg zu ziehen und sicherzustellen, dass die zum Militär eingezogenen Menschen eine bestimmte – dämonisierte – Vision davon haben, was ein Ukrainer sei.

Im Winter 2013-2014, zur Zeit der Maidan-Ereignisse, gelang es dem russischen Staat, die russische öffentliche Meinung in wenigen Wochen vollständig umzustürzen. Die Ukraine wurde als vage minderwertig angesehen, dazu fähig, großen politischen Unsinn zu machen, aber sie war ein fremder Staat. Was mit den Ukrainern geschah, beunruhigte einen gewöhnlichen Russen nur entfernt. Der russische Staat nutzte den Verweis auf den Zweiten Weltkrieg und auf den Nationalsozialismus geschickt, um Empörung und Angst zu erzeugen. Für den zentralen Platz von Kiew hoben die russischen Medien die Präsenz nationalistischer Aktivisten hervor, die Porträts von Stepan Bandera schwangen, einem der Gründer der nationalen Bewegung. Aufgrund seiner Beziehungen zur Nazi-Macht ist er für den durchschnittlichen Russen eine teuflische Figur. Verbindungen wurden problemlos hergestellt. Da der Zweite Weltkrieg für die Russen ein zentraler Einschnitt ihrer Geschichte ist, bekamen die Ereignisse des Maidan in ihren Augen eine ganz neue Bedeutung. Die Strategie, Angst zu erzeugen, war bei den Russen ebenso wirksam wie bei der Bevölkerung der Ostukraine. Die neuere Propaganda ist auch in tiefen und alten Vorstellungen verwurzelt.

Ist schon vor dem 24. Februar 2022 eine Veränderung der Sicht der Ukrainer auf Russland festzustellen?

Selbstverständlich. Aber es ist eine Vision, die seit 2014 aufgebaut wurde, also seit der Annexion der Krim im März 2014 – für mich der Wendepunkt. Zuvor hatten die Ukrainer keine Sympathie für den russischen Staat, allerdings auch kein Gefühl der Bedrohung durch ihn und keine Feindseligkeit gegenüber einfachen Russen. Ab März 2014 gerieten die Ukrainer in eine vorher unvorstellbare Situation: Ihr Nachbar führte Krieg gegen sie. Das war umso unvorstellbarer, als die Ukraine im Gegensatz zu Russland als unabhängiger Staat nie Krieg geführt hatte. Der letzte Krieg, den die Ukraine auf ihrem Territorium erlebt hatte, war der Zweite Weltkrieg. Dieses zutiefst friedliche Land baute nach und nach seine Armee ab, in die die Bevölkerung kein Vertrauen hatte. Als sich die Aufstände im Donbass in einen Krieg verwandelten, der unter anderem von der russischen Armee geführt wurde, waren es daher zunächst Bürger, die sich Freiwilligenbataillonen anschlossen, um zu kämpfen, da die Armee nicht in der Lage war, den Staat zu verteidigen. Eine solche Situation wäre in Frankreich undenkbar: Würde das Land angegriffen, verließe sich die Bevölkerung zweifellos auf die Armee, die das Territorium verteidigt. In der Ukraine griffen sofort die Bürger zu den Waffen. Die ukrainische Armee hat sich seither stark konsolidiert, aber die bürgerlichen Kämpfer haben sich nicht wirklich herausgelöst. Am Abend des 23. Februar 2022 lebten die Ukrainer ihr normales Leben, aber dieses Leben, an das sie gewöhnt waren, fand in einem Land im Krieg statt. Am 24. Februar änderte sich die Art des Krieges, aber die Ukrainer waren bereit.

Seit dem 24. Februar hat sich eine dramatische Veränderung vollzogen: Präsident Wolodymyr Selenskyj hat eine erstaunliche politische Stärke gewonnen, und die Armee ist sehr populär geworden.

Die Popularität der Armee war seit 2015 unaufhörlich gewachsen, weil sie sich zu reformieren wusste. Sie war von zahlreichen, als pro-russisch erachteten Elementen gesäubert worden. Eine große Anzahl von Ukrainern hat in der Armee gedient, einige haben sich dauerhaft verpflichtet. In diesen Jahren hatte die Armee auch Partnerschaften mit anderen europäischen Armeen und mit der NATO geschmiedet – neue Praktiken wurden eingeführt. Gleichzeitig begannen die Ukrainer, ihren Streitkräften zu vertrauen, allerdings nur mäßig, denn sie waren sowieso immer misstrauisch gegenüber ihren Institutionen. Wer die Ukraine kannte, war nicht überrascht von der Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung und der ukrainischen Armee. Was jedoch überraschte, war die Resilienz des Staates, von der höchsten bis zur ganz lokalen Ebene. Nur wenige Bürgermeister oder lokale und regionale Beamten sind ausgefallen.

 Lokale Behörden und öffentliche Dienste haben eine unerwartete Widerstandsfähigkeit gezeigt. Die Ukrainer hatten ständig ihre kommunalen Strom- und Wasserversorgungen verunglimpft, die auf dem Land die Präsenz des Staates darstellten. Aber diese Institutionen haben sich als viel effizienter erwiesen, als man es ihnen zugetraut hätte. Das ist die große Überraschung: Der Staat ist nicht nur nicht zerfallen, sondern er hat sich im Krieg gefestigt, auch auf der lokalen Ebene, wo er direkt auf die Bürger trifft. Das wird die Bevölkerung nicht davon abhalten, ihre Institutionen gleich nach Kriegsende erneut zu kritisieren und so weit zu gehen, alle zu entlassen, mit denen sie nicht zufrieden ist, vielleicht sogar Selenskyj... Zu Unrecht wurde diese Unzufriedenheit als Zeichen der Schwäche des ukrainischen Staates interpretiert, insofern die Ukrainer ständig die Korruption des Staates und die Inkompetenz des politischen Personals anprangerten. Aber diese permanente Kritik entpuppte sich auch als mächtige Antriebskraft.

In gewisser Weise sind die Figuren von Selenskyj und Putin Antipoden. Wenn beide ihre Beliebtheit steigern konnten, ist es nicht die gleiche Art von Popularität.

Es gibt auch einen großen Generationenbruch, die nicht nur die Person von Selenskyj und die von Putin betrifft, sondern auch das politische Milieu in beiden Ländern. Ukrainische Politiker sind heute zwischen 40 und 50 Jahre alt. Das sind Menschen, die herumgekommen sind und Erfahrungen im Ausland gemacht haben, auch in Russland. Sie sind eindeutig eine postsowjetische Generation. Im Gegensatz dazu gleicht das russische politische System immer mehr einer Gerontokratie. Politische Persönlichkeiten bleiben auf unbestimmte Zeit an Ort und Stelle. So lässt dieses System keinen Raum für jüngere Generationen. Der jüngste ist Dmitri Medwedew… Russland wird heute von einer Staatsmacht regiert, die es demografisch nicht repräsentiert. Das ist ein großer Unterschied zwischen den beiden Staaten. Der Regierungsstil ist eindeutig nicht derselbe, die Werte, auf denen der Staat basiert, sind nicht dieselben, die Anpassungsfähigkeit und die intellektuelle Beweglichkeit sind nicht dieselben. Selenskyj ist ein typischer Unternehmer seiner Zeit, und seine Zeit erfordert vor allem eine außergewöhnliche Anpassungsfähigkeit unter ohnehin schon schwierigen Bedingungen; diese Fähigkeiten mobilisiert er heute. Ganz anders die herrschende Klasse um Putin, die viel starrer, ja eingerostet ist.

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