Klarheit und Konsequenz kennzeichnen den Entwurf der Kirche Maria Regina Martyrum. Klar wirken die ausnahmslos rechtwinkligen Formen, konsequent die Geschlossenheit der Wände. Die Architekten Hans Schädel und Friedrich Ebert umfriedeten ein Rechteck mit einer hohen Betonmauer und unterteilten es der Länge nach mit einer weiteren Mauer in zwei Bereiche unterschiedlicher Breite. Im linken Teil des Areals entstand ein Gemeindezentrum, bestehend aus Gemeindehaus, Pfarrhaus, Pfarrgarten sowie Kindergarten und Spielhof. Im rechten, größeren Teil errichtete man die Gedenkkirche, die geradezu majestätisch über dem großen, weiten Feierhof lagert.
Es gibt zwei Zugänge zum Feierhof. Einer von ihnen führt durch den Glockenträger, der aus der Umfassungsmauer herauszuwachsen scheint, über den Feierhof, dessen flach abfallende Terrassierung Achtsamkeit einfordert und den Schritt entschleunigt. Mehr als 50 Meter sind zurückzulegen bis zum Eingang der Kirche und damit eine Strecke, auf der die fensterlose Wand der Kirche mit jedem Schritt an Monumentalität gewinnt. Ihre Oberfläche aus hell leuchtenden Carraramarmor-Kieseln überstrahlt die dunklen Innenwände der Umfassungsmauer, die mit Platten aus Basaltkieselplatten verkleidet wurden. Dieser Dialektik aus Licht und Dunkel folgt auch die Kunst: Die strahlend helle Fassade trägt über dem gläsernen Eingang der Kirche eine vergoldete Bronzeplastik von Fritz Koenig: Sie zeigt die „Apokalyptische Frau“. Demgegenüber steht an der Ostwand des Feierhofes der dunkle, gleichfalls in Bronze gegossene Kreuzweg des Bildhauers Otto Herbert Hajek, der „in zeichenhaft verstrickten Stationen aus Dornen- und Kreuzesmotiven“1 zum großen Außenaltar unterhalb der Kirche führt.
Die Kirche selbst ist zweigeschossig, wobei die Aufmerksamkeit bei der Annäherung an das Bauwerk zunächst einzig der zum Hof quergelagerten Oberkirche gilt. Denn sie allein ist sichtbar, wenn man den Hof überquert. Getragen wird dieser „leuchtende, schwebende Schrein der Kirche“2 von zwei Wandscheiben innerhalb des Feierhofes und der östlichen Umfassungsmauer. Zwischen den Wandscheiben führt der Weg durch die gläserne Treppenhalle hinauf in die Oberkirche. Am oberen Treppenabsatz angekommen, steht man vor dem niedrigen Raum der Taufkapelle. Ihre Wände sind aus Stahlbeton; die schalungsraue Struktur des Materials wurde mit einer Goldfassung nobilitiert.
Armierter Beton ist das Hauptmaterial dieser Kirche. Er prägt auch die Ästhetik des Kirchenraumes: dort als Sichtbeton, dessen Oberfläche die Abdrücke der Holzschalungen tragen. Aufgrund eines gelungenen Zusammenspiels von Licht und Struktur wirken die Wände gleichwohl nicht grob. Das Licht dringt ausnahmslos auf indirekte Weise durch Lichtbänder über der eingehängten Flachdecke und zu Seiten der Stirnwände ein. Denn diese sind gleichsam ausgeschnitten und in den Raum hineingezogen – und zwar dergestalt, dass beiderseits schmale Wandteile am Ende des Kubus verbleiben und hinter den ausgeschnittenen Stirnwänden durch Glaswände mit diesen verbunden sind. Diesem so einfachen wie wirkungsvollen Kunstgriff verdankt sich nicht nur die indirekte Beleuchtung; durch ihn gewinnt die Altarwand auch etwas Schwebendes, Unbestimmtes, nämlich zwischen einer den Kirchenraum abschließenden Wand und einem Altarbild.
Die Wände dieses weiten, stützenfreien Kirchenraumes sind fensterlos. Die Seitenwände sind von einem abstrakt-geometrischen, geradezu plastischen Ornament überzogen; die Altarwand trägt ein Wandbild von Georg Meistermann. „Die Lichtführung“, so formulierte es der Benediktinerpater Urban Rapp in anschaulicher Weise, „ist von so prägender Schönheit und Eigenwilligkeit, daß alle Materialien, Flächen und Körper von ihr Leben und Farbe erhalten. Das Symbol von Leben und Licht, das im Außenraum schon erfahren wurde, ist im Innern in zweifacher Weise gesteigert. Der Raum erscheint als überirdischer Lichtraum, und dann ist es ferner wieder das Licht, doch nun als Lichtfarbe, die als sieghaftes Element in dem Altarbild aufleuchtet“3. Dieses Altarbild, das die Vision des Himmlischen Jerusalem aus der Offenbarung des Johannes zeigt, ist Abschluss und Hinweis zugleich: Es schließt den Kirchenraum nach Osten ab und weist zugleich über diesen hinaus auf jenen Ort hin, der in der Achse liegt und Anlass zur Errichtung dieser Gedenkkirche war: die Gedenkstätte Plötzensee, die rund 1,5 Kilometer östlich der Kirche liegt. Sie bildet auch den Bezugspunkt für die Unterkirche, die sich jedoch nicht in der ursprünglichen Form erhalten hat, sondern Mitte der 1980er-Jahre umgebaut wurde.
Einst bestand die Unterkirche aus nur einem Raum, der – einer Krypta gleich – Ort des Gedenkens und Gebetes war: ein Raum mit dunklen Seitenwänden aus Basaltkieseln, der nach Norden mit einer raumhohen goldgefassten Sichtbetonwand abschloss und spärliches Licht durch seitliche Fensterbänder hinter der Goldwand empfing. Vor der Wand stand, wie jetzt auch, eine Pietà von Fritz Koenig. Zur Krypta wurde der Raum durch die drei in den Boden eingelassenen Gräber. Das linke von ihnen sollte die sterblichen Überreste von Domprobst Bernhard Lichtenberg bergen. Sein Leichnam wurde aber bereits 1965 in die Hedwigskathedrale transloziert. Das rechte Grab birgt die Asche von Erich Klausener. Beide, der Priester und der Laie, waren Blutopfer des Glaubens in der Zeit des Nationalsozialismus.
Mit der Errichtung des Karmel im Jahr 1984 wurde die Unterkirche nach Norden verlängert. Die Goldwand versetzte man nach Süden, wodurch der Gedenkraum verkürzt wurde. Diese Neugestaltung führte zur Umsetzung der Pietà von Koenig an den heutigen Ort. Die Goldwand dient heute als Trennwand zwischen dem Gedenkraum und der sich an diesen anschließende Kapelle, welche die Schwestern des Karmel zur Andacht nutzen. Ihr Kloster entstand – als Ausgründung des Karmel von Dachau – nach Plänen des Architekten Theo Wiegand auf dem Gelände des Gemeindezentrums, von dem heute nur noch das Gemeindehaus mit seinen charakteristischen Betonlamellen-Fassaden steht. Ein aus Gründen des Denkmalschutzes unterirdisch angelegter Gang verbindet das Kloster mit der Andachtskapelle und – über ein angebautes Treppenhaus – mit der darüber befindlichen Sakristei der Gedenkkirche.
Einst war das Kirchenareal vollständig von Gartenlaubenkolonien umgeben, von denen heute nur mehr jene auf der Nordseite des Kirchengeländes besteht. Denn gleichzeitig mit der Kirche entstanden in den frühen 1960er-Jahren die ersten der mehr- bis vielgeschossigen Wohnbauten der Paul-Hertz-Siedlung, die das Kirchenareal auf drei Seiten umgibt. Unmittelbar an das Kirchenareal angrenzend wurde östlich von Maria Regina Martyrum in den Jahren 1968-1970 das evangelische Gemeindezentrum Plötzensee errichtet. Dessen Formgebung ist der profanen Wohnhausarchitektur entlehnt und kontrastiert wirkungsvoll mit Maria Regina Martyrum, mit der nach Urban Rapp OSB „ein heiliger, abgesonderter Bezirk, ein Temenos“4 entstanden ist.
Der Weg zur Form
Angesichts der großen Bedeutung, die diese Kirche für den katholischen Sakralbau der Moderne besitzt, erstaunt es, wie wenig wir über Aufgabenstellung und Wettbewerb wissen. Erste Ideen datieren aus dem Jahr 1957: Vier Architekten wurden zum Entwurf einer Gedenk- und Gemeindekirche aufgefordert. Mit Reinhold Hofbauer und Willy Kreuer wählte man zwei Architekten, die bereits in Berlin gebaut hatten und über Berlin hinaus bekannt waren. Von Hofbauer standen zu jener Zeit St. Canisius in Charlottenburg (1954-1957), die den Auftakt moderner Sakralarchitektur im Nachkriegs-Berlin bildete, und St. Judas Thaddäus in Tempelhof (1957-1959). Willy Kreuer war der Architekt der Kirche St. Ansgar, die 1956/57 im Rahmen der Interbau im Hansaviertel errichtet wurde. Hinzu kamen Rudolf Schwarz und Hans Schädel. Schwarz blickte bereits zu jener Zeit auf ein großes Œuvre zurück und prägte wie kein zweiter den katholischen Kirchenbau des 20. Jahrhunderts als entwerfender Architekt, Lehrer und Theoretiker. Hans Schädel verantwortete nicht nur den Wiederaufbau des Würzburger Domes und etlicher Pfarrkirchen, sondern realisierte auch zahlreiche Umgestaltungen und Neubauten vor allem in der Diözese Würzburg. Dabei fand er große Unterstützung durch den Würzburger Bischof Julius Döpfner, der ihn 1948 zum Leiter des Bischöflichen Bauamtes bestellt hatte. Döpfner engagierte sich schon dort in besonderem Maße für den Kirchenbau. Auch in seiner Zeit als Bischof von Berlin brachte er sich intensiv in Planungen ein – genannt sei etwa die zwischen 1952 und 1963 wiedererrichtete St. Hedwigs-Kathedrale – und setzte die Zusammenarbeit mit Schädel als begutachtendem und planendem Architekten nahezu bruchlos fort.
Über die Ziele der Wettbewerbsausschreibung, deren Text sich nicht erhalten hat, unterrichtet uns der Erläuterungsbericht von Rudolf Schwarz, der vor allem den Bezug zur Gedenkstätte Plötzensee hervorhob: „Jene ist zum Erinnerungsmal an die Macht des Bösen geworden, dem für eine Weile gestattet war, ‚alles zu beschädigen‘, und besagt nichts als die Schauerlichkeit des Mysteriums der Sünde. Daneben soll ein anderes Zeichen gesetzt werden, so dass beide mit einem Blick gesehen werden können. Dieses andere Zeichen muss die christliche Antwort geben, die lautet Sieg, Überwindung des Todes und Auferstehung“.5
Nur drei der vier Entwürfe haben sich erhalten:6 Willy Kreuer plante ein räumlich ausgreifendes Ensemble aus ineinanderfließenden, polygonalen und gerundeten Bauten unterschiedlicher Höhen sowie einem hohen, schlanken Glockenturm. Rudolf Schwarz dagegen entwarf ein geometrisch strenges Ensemble, in dessen Zentrum ein vierfacher Stufenberg stand. Vor diesem sollte sich ein muldenartiger Platz erstrecken, den ein Kalvarienberg mit drei Betonkreuzen sowie eine Sakristei und ein Pfarrgebäude umstehen sollten. Ein programmatischer Entwurf, der indes ebenfalls auf Ablehnung stieß.
Realisiert wurde der Entwurf von Hans Schädel und Friedrich Ebert in einer überarbeiteten Fassung. Die Entscheidung traf der Bischof selbst, beraten durch Urban Rapp OSB und Georg Meistermann. Mit letzterem hatte Schädel bereits in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre in Schweinfurt (Altarglaswand in St. Kilian) und Würzburg (Altarwand in St. Alfons) zusammengearbeitet – zwei Kirchen, in denen Schädel und Meistermann ebenso wie in Maria Regina Martyrum ein vollendetes Zusammenspiel von Bau und Bild gelang.
Maria Regina Martyrum in ihrer Zeit
In den 1950er-Jahren entwickelte sich der Kirchenbau zum Experimentierfeld moderner Architektur. Grundrissprägend wirkten Gemeinschaft und Liturgie; Individualität und Vielfalt der Formen resultierten in hohem Maße aus der Forderung nach Unterscheidbarkeit zwischen Sakral- und Profanarchitektur: „Es wäre falsch, den Außenbau des Gotteshauses in seinen Maßen und Umrissen, in seiner Gliederung und Dekoration den Profanbauten der Zeit und der Umgebung soweit anzugleichen, daß er wie ein weltliches Bauwerk anmutet“.7 Beide christlichen Konfessionen strebten nach einer modernen, zeitgemäßen Sakralität im Kirchenbau. So wurde für den katholischen Kirchenbau in Deutschland empfohlen: „Bei der Anknüpfung an die Tradition sind Formen, die eindeutig charakteristische Merkmale eines einzelnen historischen Stils sind, wie etwa der Spitzbogen, besser zu vermeiden. Dagegen können Formen von zeitloser Gültigkeit wie der Kreis, das Quadrat und der Rundbogen unbedenklich immer wieder verwendet werden“.8 Maria Regina Martyrum bildet hierfür ein hervorragendes Beispiel, da sich in ihr tradierte Anmutungsqualitäten wie die geradezu barock wirkende, indirekte Lichtregie im hohen, weiten, stützenfreien Raum mit einer modernen, gleichsam abstrakten Formensprache verbinden. Schädel verstand es, „die strenge, aber lebendige Einheit zwischen Raum, Gemeinde und Liturgie“9 zu verwirklichen.
Maria Regina Martyrum ist einer jener Kirchenbauten, die zeitgemäß und zeitlos zugleich sind. Zeitgemäß ist vor allem die Verwendung schalungsrauen Sichtbetons. Er verweist auf den Brutalismus in der Architektur der späten 1950er- und 60er-Jahre – ein Begriff, der sich aus der Verwendung rohen Materials (béton brut) herleitet. Angesprochen ist damit aber auch „die Tendenz, Raumgefüge, Konstruktionen und Baustoffe durch Betonung ablesbar zu machen, [die] begleitet [wird] von einem Streben nach Schwere. Es geht nicht um die grazile, leichte Form, sondern um den Ausdruck lastender Körperlichkeit“10. Eben diese Wirkung geht auch von Maria Regina Martyrum aus, deren Materialität, Oberflächentextur und die scheinbar frei schwebende Anordnung der monumental anmutenden Oberkirche Elemente brutalistischer Architektur sind.
Richtungweisend für den Brutalismus war – um nur ein Bauwerk zu nennen – das Kloster La Tourette bei Lyon, das nach den Plänen Le Corbusiers errichtet und 1958 geweiht wurde.11 Die Klosterkirche ist als ein hoch aufragender kubischer Baukörper, ein flach gedeckter Kastenraum ausgebildet, dessen ästhetisches Erleben maßgeblich durch das Material geprägt wird: rohe Sichtbetonwände, die nur geringe Lichtmengen einlassen durch eine schmale Lichtfuge unterhalb der Decke und zwei vertikale farbige Fensterschlitze. Dieses Bauwerk war, wie auch Le Corbusiers kurz zuvor errichtete Wallfahrtskapelle Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp, Gegenstand eingehender zeitgenössischer Berichterstattung in Fach- und Tagespresse. Dass Hans Schädel und Friedrich Ebert Ronchamp gekannt haben, ist äußerst wahrscheinlich. Dass sie sich mit La Tourette auch auseinandersetzten, kaum weniger. Sind doch Parallelen in Grundform, der Anmutung des Materials, in Lichtführung sowie dem mystischen Halbdunkel des Raums zu naheliegend. Zeitgemäß ist das in Maria Regina Martyrum verwendete Material, zeitlos dagegen erscheinen die geometrische Grundform und die Wandscheibe als raumkonstituierendes Element. Schädel und Ebert entwarfen keine assoziative, bildhafte Großform wie etwa die in jenen Jahren häufig anzutreffende Zeltform. Stattdessen schufen sie einen Körper aus vier miteinander nicht direkt verbunden erscheinenden Wandscheiben. Diese umgeben das Volumen des Kirchenraums, dessen Grenzen durch die eingestellten Stirnwände scheinbar unbestimmt sind. So gelang den Architekten eine abstrakte architektonische Komposition, welche die Entgrenzung zum Thema hat. Das gilt für Architektur und Kunst in gleichem Maße: Denn beide, das Bauwerk und Meistermanns Altarbild, haben ihren Referenzort außerhalb des Raumes: in der Gedenkstätte Plötzensee.
Neben dem Ort
1967, vier Jahre nach der Weihe von Maria Regina Martyrum, wurde auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau die evangelische Versöhnungskapelle des Architekten Helmut Striffler eingeweiht. Sie ist die wohl bedeutendste Interpretation eines Gedenkortes am Schauplatz selbst. Im Unterschied zu den Architekten der Berliner Gedenkkirche vermied Striffler jeden Anschein von Monumentalität ebenso wie den rechten Winkel. Stattdessen entwarf er ein Bauwerk, das sich als gewundene Furche in die Erde gräbt. Als Material wählte er schalungsrauen Sichtbeton. Sowohl Schädel und Ebert als auch Striffler reagierten mit den gewählten Formen auf die Umgebung: Erstere begegneten der Heterogenität des Umfeldes mit strenger Geometrie, letzterer schuf mit der organisch-fließenden Raumform ein Gegenbild zur rechtwinkligen Barackenarchitektur.
„Erinnerung braucht Orte mit der Aura des Geschehenen als Kristallisationskerne des Verstehens“12. Im ehemaligen KZ Dachau entstanden in den 1960er-Jahren vier Stätten des Gedenkens am authentischen Ort: die katholische Todesangst-Christi-Kapelle (1960), das Kloster Karmel „Heilig Blut“ (1964), die evangelische Versöhnungskirche (1967) und die jüdische Gedenkstätte (1967). Diese räumliche Identität ist in Maria Regina Martyrum nicht gegeben, so dass vorrangig der Architektur die Vermittlerfunktion zukommt. Aber es gelang mit ihr die Verweisung auf den jenseits von Kirche und Feierhof liegenden Bezugspunkt: Plötzensee als Gefängnis und Hinrichtungsstätte ist ein an dieser Stelle stets mitgedachter Erinnerungsort.