Die Verankerung der Katholiken innerhalb der Rechten ist eine strukturierende Tatsache des politischen Lebens in Frankreich. Diese Verbindung wurde zur Zeit der Revolution geschmiedet, als die Rechts-Links-Spaltung entstand. Die Rechte, die die Monarchie befürwortete, verteidigte die Privilegien der Kirche, während die radikale Linke ab 1792 eine Politik der Entchristlichung verfolgte. Seitdem werden der Sinn und die Notwendigkeit des Bündnisses zwischen Katholiken und Rechten aufgrund der politischen Agenda der Linken regelmäßig erneuert. Tatsächlich hatten deren Emanzipationskämpfe häufig eine beschleunigte Säkularisierung der Gesellschaft zur Voraussetzung: 1905 mit dem Gesetz, das Kirche und Staat trennte, 1984 durch die Infragestellung der Schulfreiheit, 2012 durch die Legalisierung der Ehe für Homosexuelle. Diese manchmal starke Konfliktbereitschaft hat dazu beigetragen, dass rechtsextreme Strömungen wie die Action française des nationalistischen Denkers Charles Maurras unter den Katholiken einen festen Rückhalt fanden, wenn auch in bescheidenem Umfang. Papst Pius XI. war darüber besorgt und verurteilte diese Bewegung 1926. Aber erst nach der Diskreditierung durch das Vichy-Regime (1940-1944) wurde dieser Nationalkatholizismus dauerhaft an den Rand gedrängt. Die volle und ungestörte Integration der Katholiken in das politische Leben Frankreichs schritt seit den 1920er-Jahren voran und wurde in der Vierten und Fünften Republik vollendet.
Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern konkretisierte sich die Stellung der Katholiken Frankreichs innerhalb der Rechten nicht in einer bestimmten Partei. Die Christdemokratie strukturierte sich beispielsweise erst während der Vierten Republik (1946-1958) und nur für kurze Zeit. Katholiken haben also in erster Linie durch ihre Stimmabgabe Einfluss auf das politische Leben in Frankreich genommen. Die Soziologen Guy Michelat und Michel Simon haben gezeigt, dass praktizierende Katholiken in der Fünften Republik im ersten Wahlgang jeder Präsidentschaftswahl zu rund 75 Prozent die rechte Regierungspartei wählten.1 Ab den 1980er-Jahren kam eine zweite Beobachtung in Bezug auf praktizierende Katholiken hinzu: Ihre Verankerung auf der rechten Seite kam dem Front National, der rechtsextremen Partei von Jean-Marie Le Pen, nicht zugute, für den sie unterhalb des nationalen Durchschnitts wählten, im Gegensatz zu den Nicht-Praktizierenden, deren Stimmen diesen überstiegen.2 Lediglich die Gruppe der Traditionalisten, die an der alten Messe festhalten, bildete eine Wählerschaft der nationalistischen Partei; sie war jedoch quantitativ zu klein, um eine Rolle zu spielen. Jede Präsidentschaftswahl bestätigte diese Tendenzen. Im Jahr 2017 erhielt François Fillon, der Kandidat der rechten Regierungspartei, trotz der Finanzskandale, die ihn belasteten, immer noch 55 % der Stimmen von regelmäßigen Kirchgängern.3 Jedoch ließen bei den Präsidentschaftswahlen 2022 die Kräfteverhältnisse zwischen den Rechten und die Veränderungen der Stimmabgabe in Abhängigkeit von der Intensität der religiösen Praxis neue Trends erkennen:
Die Wahl 2022:
Ein Protestschub im Katholizismus.
Die erste Lehre aus dieser Wahl ist, dass die kirchlich praktizierenden Wähler4 der Rechten, die bislang überwiegend für die der Mitte nahestehenden Regierungsparteien stimmten, zu über 40 % für Protestkandidaten gestimmt haben, wenn man die Stimmen für die Nationalpopulisten Marine Le Pen und Eric Zemmour, für den Souveränisten Nicolas Dupont-Aignan und für den Agrarökonomen Jean Lassalle zusammenzählt.5 Zwar führt der liberale Zentrist Emmanuel Macron mit 25 % der Stimmen, aber ein Teil seiner katholischen Wählerschaft ist links, was den Rückgang der rechtszentristischen Stimmen seit der letzten Wahl unterstreicht.
An zweiter Stelle steht Marine Le Pen mit 21 % (gegenüber 12 % im Jahr 2017), was auf eine allmähliche Angleichung an den nationalen Durchschnitt und darauf hindeutet, dass die Wahlberechtigten ihre Zurückhaltung ihr gegenüber aufgegeben haben.
Die zweite Lektion ist, dass die praktizierenden Katholiken sich übermäßig für Valérie Pécresse (8 % gegenüber 4,6 % der registrierten Wähler) und Eric Zemmour (16 % gegenüber 7,1 %) mobilisiert haben. Pécresse profitierte vom Trägheitseffekt der langen Treue regelmäßiger Kirchgänger zur Regierungsrechten, Zemmour, Kandidat der neuen rechtsextremen Partei Reconquête, profitierte von einer spezifisch religiösen Dynamik, die hinterfragt werden muss.
Im März 2022 zeigte die Umfrage IFOP-La Vie dies bereits deutlich: 71 % der praktizierenden Katholiken, die Eric Zemmour wählen wollten, legten bei der Wahl Wert auf ihre religiösen Überzeugungen, gegenüber 42 % derjenigen, die Valérie Pécresse wählen wollten, und 41 % derjenigen, die Emmanuel Macron wählten.6 Die IFOP-La-Croix-Umfrage vom April 2022 bestätigt dies (vgl. das Schaubild). Während nur 7 % der Nicht-Praktizierenden für Zemmour stimmten, waren es 10 % unter den gelegentlich und 16 % unter den regelmäßig Praktizierenden. Die Praxis sonntäglicher Eucharistie prädisponiert also dazu, für den Kandidaten dieser neuen extremen Rechten zu stimmen. Zweifellos nuancierte der zweite Wahlgang diese Feststellung, denn Emmanuel Macron behielt einen klaren Vorteil und erhielt 61 % der Stimmen der regelmäßigen Kirchgänger, aber mit 39 % erzielte auch Marine Le Pen ein historisches Ergebnis in der katholischen Wählerschaft. Wie ist dieser Rechtsruck eines zwar minoritären, aber bedeutenden Teils der katholischen Wählerschaft zu verstehen, auf den die Ergebnisse von Marine Le Pen, aber mehr noch jene von Eric Zemmour hindeuten?
Säkularisierung und Entweltlichung
Zunächst ist zu sagen, dass dieser Rechtsruck für die ganze Rechtswählerschaft und nicht nur für Katholiken gilt. Im Jahr 2022 war Marine Le Pen erneut für die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen qualifiziert. Ihr Rassemblement national hat seitdem 87 Abgeordnete in der Nationalversammlung, was ein absolutes Novum ist und zeigt, dass diese Partei aus der Marginalität herausgewachsen ist. Die rechtsgerichtete Dynamik, die dem Katholizismus eigen ist, verstärkte diesen nationalen Trend.
In den letzten fünfzig Jahren hat der Katholizismus sein Format verändert, was nicht ohne politische Auswirkungen bleibt. Der Zusammenbruch der religiösen Praxis führte zum Verschwinden der katholischen Wähler, denn wie Guy Michelat und Michel Simon gezeigt haben, wählen nur die häufig praktizierenden Katholiken als Katholiken, d.h. sie lassen sich in ihrem Wahlverhalten von religiösen Überzeugungen leiten. Die allgemeine Verringerung der kirchlichen Praxis führte dazu, dass sich auch der katholische Einfluss in der Politik innerhalb der Rechten verringerte. In den 1970er-Jahren machten die regelmäßigen Kirchgänger noch 25 % der französischen Bevölkerung aus, nunmehr sind jene mit mindestens monatlicher Praxis nur noch etwa 4 %, jene mit wöchentlicher Praxis noch 1,8 % der volljährigen Bevölkerung.7
Der Rückgang der praktizierenden Katholiken wirkt sich auch auf die interne Zusammensetzung des Katholizismus aus. Der Pluralismus, den man unter Älteren findet, ist in der jüngeren Generation vermindert. Von einer Generation zur nächsten gelingt es bestimmten Strömungen im Katholizismus besser, den Glauben oder das Gefühl der Kirchenzugehörigkeit zu vermitteln, und sie gewinnen daher an Bedeutung. Der Katholizismus setzt sich aus den Verbliebenen neu zusammen. Tendenziell handelt es sich dabei um religiös und politisch konservativere Katholiken.
Sie bezeichnen sich selbst als „Generation Johannes Paul II.“ oder „Generation Benedikt XVI.“ und strukturieren die Kirche auf einer mehr integralen und kompromisslosen Linie um im Vergleich zu ihren älteren, vom „Atem des Zweiten Vatikanischen Konzils“ geprägten Mitchristen. Diese Katholiken, die ich als Observanten bezeichnen möchte,8 betonen eine ritualistische Orthodoxie, die sie für ein dauerhaftes Glaubensleben für unerlässlich halten. Sie interpretieren das Zweite Vatikanische Konzil zurückhaltend und sind der Ansicht, dass ihr fortdauernder Erfolg die Wahrheit ihres Glaubens manifestiere. Sie sehen sich im Widerstand gegen die Säkularisierung der Kirche und der Gesellschaft. Sie kämpfen für die Wiederherstellung der sakralen Dimension der Liturgie und wehren sich gegen die Entzauberung der sexuellen Differenz.
Obwohl sie in der Minderheit sind,9 gewinnen sie an Einfluss, da sich andere katholische Strömungen zurückziehen. Da sie die meisten Priesterberufungen hervorbringen, können sie sich vorstellen, die rituelle Macht in Frankreich zu erobern – es sei denn, die Art und Weise, wie die religiöse Autorität übertragen wird, wird radikal reformiert. Doch schon vor dieser Möglichkeit, allein durch ihre Fähigkeit, ihre Identität zu bewahren und den Glauben weiterzugeben, verändern sie den Katholizismus und tragen eine Konterrevolution in sich. Das Tragen der Soutane durch junge Priester und die Rückkehr der Mundkommunion bei jungen Menschen sind Anzeichen dafür. Die Säkularisierung der Gesellschaft führt also paradoxerweise zu einer inneren Entweltlichung des Katholizismus: Der Stil des Katholizismus – Liturgie, Ausübung der Autorität und Beziehung zur Gesellschaft – wird im Vergleich zur nachkonziliaren Zeit mit Sakralität aufgeladen.
Konservative Widerstände
und politische Marginalisierung
Diese interne Neuformierung erklärt, warum der katholische Einfluss in der Politik trotz des Schwindens der praktizierenden Katholiken aufrechterhalten werden kann. Konservative Katholiken nehmen das politische Engagement als doppelt notwendig an: für ein authentisches Glaubensleben, aber auch, um den sozialen Wert ihrer Ethik zu verteidigen, während die Gesellschaft sich immer weiter von ihr entfernt. Die Mobilisierung gegen die Homo-Ehe von 2012 bis 2017 veranschaulicht dies.10 Die katholische Militanz ist in dieser Hinsicht stark gegen die von Linken vertretenen Projekte zur Umgestaltung der Gesellschaft gerichtet. Die drei größten von Katholiken organisierten Kampagnen folgten auf drei Wahlen, bei denen die Linke an die Macht kam: 1984 mit dem Protest für die Schulfreiheit, 1999 mit dem Protest gegen die für homosexuelle Paare günstige Verpartnerung und 2012 mit der Opposition gegen die Homo-Ehe.
Dieser Widerstand gegen den sozialen Wandel verleiht den katholischen Aktivisten Sichtbarkeit, trägt aber ebenso dazu bei, sie an den Rand zu drängen. In den letzten Jahrzehnten haben die rechten Regierungsparteien die gesellschaftlichen Entwicklungen, die von links kamen, immer akzeptiert. Dieser Trend zwingt konservative Katholiken dazu, immer größere Kompromisse mit ihren Überzeugungen einzugehen, um in diesen Parteien einflussreich zu bleiben – oder sie werden marginalisiert. Derzeit enttäuscht zum Beispiel den konservativen Teil der rechtsgerichteten katholischen Wähler, dass die Rechten nur schwach gegen die Legalisierung der Sterbehilfe opponieren oder dass sie die Abtreibung erleichtern. Dies führt dazu, dass sie sich von der Politik abwenden oder sich radikalisieren.
Der Erfolg, den der nationalpopulistische Kandidat Eric Zemmour unter ihnen hatte, hat seinen Grund zum Teil in dieser Enttäuschung über die rechten Parteien. Am 6. Dezember 2021, als Eric Zemmours Anhänger zum ersten Mal in Villepinte zusammenkamen, fanden Zweige des konservativen Katholizismus zusammen, die bis dahin zwischen dem Rassemblement National und den Republikanern gespalten waren. Eric Zemmour profitierte auch von einer Vertrauenskrise zwischen der militanten Basis und den Parteiapparaten der Rechten.
Nach dem Scheitern von Bruno Gollnisch und dem Rückzug von Marion Maréchal, beide katholisch, haben die Traditionalisten den privilegierten Platz verloren, den sie innerhalb des Front National seit dessen Gründung eingenommen hatten. Innerhalb des konservativen Katholizismus folgt die Wahl von Eric Zemmour daher klar einer befreienden Logik: Das Scheitern von Marine Le Pen und Valérie Pécresse würde es ermöglichen, die Rechte auf der Grundlage neuer Netzwerke und neuer ideologischer Hierarchien, die einem gesellschaftlichen Konservatismus zuträglicher sind, neu aufzubauen. Eric Zemmour schien in diesem Universum der beste Kandidat zu sein, um die Erneuerung der Rechten nach dem von Patrick Buisson, dem einflussreichen Strategen der konservativen Rechten, propagierten Szenario zu verwirklichen: die Verbindung der verarmten Mittelschicht mit der konservativen Bourgeoisie.11
Die Kandidatur von Eric Zemmour war für viele Katholiken auch insofern beruhigend, als er die Herausforderungen, denen sich Frankreich zu stellen hat, in religiösen Begriffen denkt und versucht, das symbolische Gewicht des Katholizismus in der nationalen Identität wiederherzustellen. In seiner Weihnachtsbotschaft 2021 pries er die christliche Zivilisation und erklärte, dass eine Integration in die okzidentale Identität – unabhängig vom Glauben – die Aneignung katholischer Sitten erfordere.12
Gefühl der Deklassierung
und Angst vor dem Islam
Der Zulauf zu Eric Zemmour kann nicht nur unter organisatorischen Gesichtspunkten analysiert werden, denn seine offen fremdenfeindliche Rhetorik stellt für Katholiken ein ideologisches Hindernis dar, umso mehr unter dem Pontifikat von Papst Franziskus. Wie lässt sich erklären, dass die Besessenheit dieses ehemaligen Journalisten des Figaro von dem „großen Austausch“ (in Frankreich „grand remplacement“) – in Europa würden Christen langfristig durch Muslime ersetzt – die Zustimmung von Katholiken nicht bremst? Wie reduzieren sie diese kognitive Dissonanz? Diese ist potenziell umso stärker, als Renaud Camus, der Theoretiker des „großen Austauschs“, eine Figur der homosexuellen Szene war, bevor er zum Verächter der nationalen Dekadenz wurde. Sich für die Rezeption seines Werkes zu interessieren, wäre jedoch eine falsche Fährte. Tatsächlich hat sich das Thema bereits seit langem in bestimmten Vorstellungswelten des Rechtskatholizismus etabliert. Die Migrationsströme seien deshalb so beunruhigend, weil sie eine Schwäche des Christentums aufzeigten, die konservative Katholiken zu verhindern suchen.
1894 legte Charles Maurras in der Erzählung „Die Diener“ (Les serviteurs) einem klassischen Ordnungshüter eine unheilvolle Vorhersage in den Mund: „Ein hebräischer Christ wird auf die Welt kommen, den Sklaven erlösen und, indem er den Starken vom Thron stößt, die Ersten niedriger stellen als die Letzten, damit sein Ruhm im ewigen Leben besungen wird“13. Und in „Evangelium und Demokratie“ (1920) erklärt der Denker der Action Française rückblickend, dass er diese Warnung geschrieben habe, um die Verbreitung des Jesus der Reformation und der Revolution zu verhindern. Er bekämpfe die Verherrlichung der individuellen Sensibilität, die den Triumph des Mitleids über die Vernunft begünstigen würde: „‘Gott ist Liebe‘, sagte man. Was wäre aus der Welt geworden, wenn man den Wortlaut dieses Prinzips umgedreht und daraus abgeleitet hätte, dass ‚alle Liebe Gott ist‘? Viele Seelen, die von der Zärtlichkeit des Evangeliums berührt werden, neigen zu dem schmeichelhaften Irrtum dieses Pantheismus, der, indem er alle Handlungen gleich macht, alle Wesen verwechselt, alles legitimiert und erniedrigt. [...] Hätte er gesiegt, hätte eine kurze Zeit genügt, um die Ersparnisse der schönsten Generationen der Menschheit zu vernichten“14. Es ist die Angst, dass eine sakralisierte Nächstenliebe letztendlich die Bedingungen für den Fortbestand der nationalen und katholischen Ordnung zerstören könnte.
Nach dem Mai 1968, als die Ansprüche des Westens auf die Welt vom jungen linken Klerus kritisiert wurden, veröffentlichte der Schriftsteller Jean Raspail „Le Camp des saints“ (Das Lager der Heiligen, 1973), einen Roman, in dem er sich den Zerfall Frankreichs angesichts der Landung von Kohorten von Migranten vorstellt. Die katholische Kirche sei aufgrund ihrer Moralvorstellungen, die sie ohne weitere Unterscheidung Partei für die Schwachen ergreifen lässt, an der „Invasion“ mitschuldig. Raspails Helden verabscheuen diese Haltung, die sie als Ausdruck eines dumpfen Selbsthasses interpretieren: „Die beklagenswerte, die abscheuliche, die hassenswerte Barmherzigkeit! Ihr nennt es Nächstenliebe, Solidarität, universelles Bewusstsein, aber wenn ich euch ansehe, erkenne ich in jedem von euch nur Verachtung für euch selbst und für das, was ihr repräsentiert“15. Wer kritisiert, dass derjenige sich Ausländern unterwirft, der sich aus Nächstenliebe verpflichtet fühlt, sie aufzunehmen, setzt dies in der Kritik an kirchlichen Autoritäten fort: Sie würden darauf verzichten, den christlichen Glauben als höhere Wahrheit und als Matrix einer höheren Zivilisation anzunehmen.
Im 21. Jahrhundert sind die Angst vor sogenannten „Migrationsströmen“ und der Verdacht, dass das christliche Mitgefühl überstrapaziert wird, auch außerhalb der reaktionären Rechten verbreitet. Sie finden sich unter Liberalen wieder, die als Leser Tocquevilles die Schicksale des Katholizismus und der Demokratie als eng miteinander verbunden ansehen, da die Verwerfungen des einen nur den Niedergang des anderen nach sich ziehen können. Der Philosoph Pierre Manent warnte 2006 in La Raison des nations (Die Vernunft der Nationen) vor den perversen Auswirkungen, die die Dynamik der Gleichheit, die die Demokratien trägt, mit sich bringen könne: „Es geht nicht mehr nur darum, die Menschlichkeit in jedem Menschen zu respektieren; wir werden aufgefordert, den anderen als denselben zu sehen. Und wenn wir nicht anders können, als das, was in ihm anders ist, zu sehen, dann werfen wir es uns als Sünde vor“16. In der Zeitschrift Commentaire prangerte der Historiker Alain Besançon die „humanitären“ Tendenzen des Katholizismus an: „Es ist wie ein Glaubensartikel: Niemand ist ein Feind. Die einzigen Feinde, die es noch gibt, sind diejenigen, die noch Feinde haben und die die imaginäre Metamorphose von Feinden zu Freunden als eine Verzerrung der Realität der Dinge betrachten“17. Manent und Besançon sind der Ansicht, dass eine Idealisierung des Gebots der Nächstenliebe dazu führen kann, dass man die für verantwortungsbewusstes politisches Handeln notwendige Vorsicht verliert. Pierre Manent wird aus diesem Grund die Interpretation des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter kritisieren, die Papst Franziskus 2020 in der Enzyklika Fratelli tutti vorgenommen hat.18
Diese doppelte Angst gewinnt bei den Jüngeren aus Gründen, die sich leicht benennen lassen, an Intensität. In der European Values Survey (EVS) von 2018 machten unter den 18- bis 29-Jährigen die bekennenden Katholiken nur noch 15 % aus, während die Muslime mit 13 % dicht hinter ihnen lagen.19 Angesichts der Trends ist es denkbar, dass sich die Kurven der Religiosität in der jüngeren Generation in einiger Zeit kreuzen werden. Dass der Islam den Katholizismus verdrängen könnte, wenn auch nur als Minderheits- und nicht als Mehrheitsreligion, ist wie eine Naturkatastrophe, deren Antizipation dazu führt, dass man der Idee eines bedrohlichen „Austauschs“ anhängt.
Konservative Katholiken haben bereits das Gefühl, dass der Ramadan zu einem wichtigeren sozialen Element als die Fastenzeit geworden ist. Alles, was dazu beitragen könnte, dieses gefürchtete Schicksal zu beschleunigen, wird angeprangert. Im Jahr 2006 äußerte sich der ehemalige Vorsitzende der Bewegung für Frankreich, Philippe de Villiers, besorgt über einen Plan der Vereinten Nationen, der die Notwendigkeit einer „Ersatzmigration“ nach Europa begründet.20 In seinem 2016 erschienenen Buch „Les cloches sonneront-elles encore demain?“ (Werden die Glocken morgen noch läuten?) theoretisiert er diesen „großen Austausch“, indem er behauptet, dass die Menschenrechte den Muslimen Ressourcen bieten, um ihre Kultur durchzusetzen.
In seinem Film zum Wahlkampfauftakt inszeniert Eric Zemmour die Dekadenz Frankreichs mit Bildern davon, wie die Kirche Saint-Jacques in Abbeville (Somme) wegen Baufälligkeit abgerissen wurde. Der Diskurs über den „großen Austausch“ hat also immer einen doppelten Einsatz, nämlich die Konstruktion einer opportunen äußeren Feindfigur, um den inneren Feind sichtbar zu machen. Der Druck von außen ist umso bedrohlicher, je mehr ein inneres Vakuum durch „nützliche Idioten“ organisiert wird. Denn in einem konservativen Gesellschaftskonzept ist die Religion ein notwendiges Bindemittel, und der Niedergang einer Spiritualität kann nur einen Aufwind für eine andere erzeugen. Nach den Gesprächen, die ich in diesem konservativen Universum führte, ist hinter dem moralischen Verfall als Matrix für den „großen Austausch“ die demografische Frage zweitrangig. Es ist der „Humanitarismus“ der Kirche und die Schwäche der „Werte“ der Republik, die man als moralische Abrüstung der Nation anklagt. Für konservative Katholiken schreibt die Annahme des „großen Austauschs“ ihre Angst vor dem Niedergang fort. Zielscheiben sind die Einwanderer, aber ebenso die Republik und der Papst.
Seit der Ermordung des Priesters Jacques Hamel in Saint-Etienne-du-Rouvray (Seine-Maritime) am 26. Juli 2016 befürchtet ein Teil der Katholiken, dass ihnen ein ähnliches Schicksal wie den Christen im Orient drohe. Diese Angst wird von der reaktionären Rechten umso leichter in eine bestimmte Richtung gelenkt, als die Gründe des Niedergangs des Katholizismus, obwohl es sich um eine wichtige soziale Tatsache handelt, auf kollektiver Ebene kaum reflektiert werden. Gleichgültigkeit und Langeweile verursachen die religiöse Entfremdung, machen sie aber gleichzeitig unsichtbar. Die symbolische und politische Kraft dieser Entwicklung, die bislang von den Parteiapparaten ignoriert wurde, erklärt die Begeisterung für Eric Zemmour an den konservativen und reaktionären Rändern des Katholizismus.
Doppelter Effekt der
Minorisierung des Katholizismus
Die Begeisterung für Eric Zemmour lässt sich durch die Anerkennung erklären, die er dem Christentum zu einem Zeitpunkt schenkt, an dem ein Teil der Katholiken von einem starken Gefühl der Deklassierung überwältigt wird. Dies ist der erste politische Effekt der Minorisierung des Katholizismus. Aber es gibt noch einen zweiten, ebenso bemerkenswerten Effekt: Der Kandidat, der diese populistische Verschiebung der konservativen katholischen Wählerschaft, die zuvor eher an Mitte-Rechts-Parteien gebunden war, ausgelöst hat, ist selbst nicht katholisch. Dies ist kein Einzelfall, denn in ganz Europa setzen sich Kandidaten ohne echte spirituelle Verankerung im Christentum für die Verteidigung der „christlichen Wurzeln“ ein.
Wenn der Populismus die Deklassierungs-Angst der Christen bedienen kann, kann das Christentum die Multikulturalismus-Angst der Populisten abwehren. Gegen den liberalen Schutz, der Minderheitskulturen gewährt wird, verteidigt der Nationalpopulismus den demokratischen Bezugspunkt, der zugleich verleugnet wird. Er stellt das Recht der Mehrheit, ihre Auffassung vom Guten per Gesetz durchzusetzen, der liberalen Logik der Gleichheit aller Auffassungen vom Guten vor dem Gesetz entgegen.21 Die Vorstellung eines neutralen Staates, der nur die Aufgabe hat, Konflikte zu schlichten, die sich aus der Ausübung der individuellen Freiheit ergeben, wird durch die populistische Identifizierung des Staates mit einem Volk disqualifiziert, das durch sein eigenes kulturelles, religiöses und möglicherweise ethnisches Erbe einzigartig ist.
In diesem Zusammenhang sind die „christlichen Wurzeln“ zu einem Topos populistischer Diskurse geworden, sei es in Frankreich oder in Italien, in Polen oder in Ungarn, in Bayern oder anderswo.22 Vor dem Hintergrund der Entchristlichung ist die Banalisierung dieses Ausdrucks keine Rückkehr der Religion im Sinne eines Glaubensuniversums, das von einer institutionellen Autorität reguliert wird, sondern sie zeigt, dass sich das Religiöse als Sinnressource verbreitet, die jedem angeboten wird, um sich selbst zu konstruieren oder privilegierte Verbindungen zu anderen aufzubauen. Da die Kirche nunmehr eine Minderheit ist, kann sie die Verwendung des Christentums als Gedächtnis einer homogenen nationalen Kultur nicht mehr regulieren. Das Christentum wird als kulturelle Matrix patrimonialisiert und kann als politische Grenze instrumentalisiert werden. Dies lässt zu, die Identität des Volkes in Konkurrenz zu seinen Bürgern zu setzen, indem es ein „echtes“ Volk konstruiert, das mit seiner Kultur identifiziert wird. Muslime werden symbolisch aus dem Bürgerkörper ausgeschlossen und ihre Forderungen als Abweichungen disqualifiziert.
Indem sie das Kulturelle aus dem Kultischen hervorhebt, ermöglicht die populistische Rhetorik den Christen, die Privilegien einer Mehrheitsreligion zu behalten, während sie selbst immer weniger werden. Ihr symbolischer Status wird vor statistischen Verlusten bewahrt. Dabei ist die Opportunität eines Bündnisses mit populistischen Parteien eine Quelle von Konflikten innerhalb der Kirchen. Der politische Doppeleffekt der Minorisierung bedroht in der Tat die Fortschritte des Zweiten Vatikanischen Konzils. Papst Franziskus hat harte Formulierungen gegen die Nostalgie der „Wurzeln“ verwendet. Populistische Führer lassen kaum eine Gelegenheit aus, seine Stellungnahmen anzuprangern. Da sich die Säkularisierung der europäischen Gesellschaften fortsetzt und die Migration zunimmt, kann der politische Doppeleffekt der Minorisierung, wenn er an Stärke gewinnt und sich über den Fall Frankreich hinaus ausbreitet, eine schreckliche Herausforderung für die katholische Kirche in Europa darstellen.