Rezensionen: Politik & Gesellschaft

Kühl, Stefan: Der ganz formale Wahnsinn. 111 Einsichten in die Welt der Organisationen.
München: Vahlen 2023. 283 S. Kt. 24,90.

Die Kirchen sind Trägerinnen der unterschiedlichsten Organisationen – Krankenhäuser, Pflegeheime, Schulen, Kitas, Verwaltungszentren, und vieles andere mehr. Der Anspruch an Organisationen ist, dass sie „formal“ funktionieren, das heißt: dass sie entsprechend den Anforderungen funktionieren, die an sie gestellt werden. Besonders spannend wird es, wenn Veränderungen notwendig sind, entweder um Anforderungen weiterhin gerecht zu werden, oder um sie unter neuen Bedingungen zu begrenzen oder zu erweitern. Und das ist eigentlich immer der Fall. Davon kann gerade auch kirchlich in Zeiten der Gemeindezusammenlegungen und anderer Umstrukturierungen ein Lied gesungen werden. Das Management sowie die entsprechende Beratung, die von außen herbeigeholt wird, stellen an die Veränderungsprojekte Qualitätskriterien wie Konsistenz und Rationalität. Auch in der Selbstdarstellung nach außen hin muss die Schlüssigkeit der Projekte sowie der einzelnen Schritte der Umsetzung demonstriert werden.

Der Bielefelder Organisationssoziologe Stefan Kühl ergänzt allerdings: „Das Leben in den Organisationen scheint viel unberechenbarer zu sein, als es die rational wirkenden Selbstbeschreibungen von Managern oder Beratern erscheinen lassen“ (11). Genau dieser Unberechenbarkeit widmet er sich in 111 kurzen Artikeln zu 111 Begriffen, die in Organisationen geläufig sind, wenn es um Leitbilder, Zielvorgaben und Selbstdarstellungen geht – von „Agilität“ über „Evaluation“ bis zu „Organisationskultur“ und „Reputation“. Das Buch ist zum Schmökern da oder einfach zum Nachschlagen, wenn man sich selbst gerade als Lehrerin, als Pflegekraft oder als Gemeindereferent in einem Veränderungsprozess befindet und die scheinbare Klarheit und Attraktivität von gängigen Schlüsselworten auf den rationalen Gehalt überprüfen will. Die Fallen werden deutlich, in die man sich gerade dann begibt, wenn man meint, die Organisation verstanden zu haben, die man leitet oder in der man mitwirkt. Wer meint zu verstehen, versteht nicht. Wer hingegen begreift, nicht (oder nicht alles) zu verstehen, beginnt zu verstehen.

Der Autor hat eine erfrischende, geradezu diebische Freude an der Beschreibung von kontraproduktiven Wirkungen, die dem Planungswillen in einer Organisation schwer im Magen liegen können. Er beschreibt Regelbrüche, die für Organisationen „brauchbare Illegalitäten“ darstellen, Coaching als „Auskühlung von Versagern“ und Heuchelei als notwendige Überlebensstrategie: „Organisationen müssen professionell heucheln, damit sie ihre eigentlichen Dienstleistungen erbringen können“ (103). Das ist keineswegs zynisch misszuverstehen (vgl. „Zynismus, 273 f). Vielmehr werden Paradoxa der Existenzweise von Organisationen deutlich, die sich einer binären Richtig-Falsch-Logik entziehen, insbesondere dann, wenn beansprucht wird, den Diskurs in dieser Logik von oben nach unten steuern zu können: „Je stärker Authentizität eingefordert wird, desto unwahrscheinlicher, dass sie sich ausbildet“ (27). Oder positiv gewendet: „Der einzige Hebel des Managements, die Organisationskultur zu verändern, liegt in der Veränderung der Formalstruktur“ (141), und gerade nicht in dem Versuch, auf die informale, faktisch existierende Kultur direkt einzuwirken. So wird deutlich, dass Leitung nur gelingen kann, wenn die Leitung selbst kein unterkomplexes Verständnis ihrer Organisation hat.

                Klaus Mertes SJ

Melzer, Nils: Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung.
München: Piper 2021. 335 S. Gb. 22,–.

Der Autor, Professor für internationales Recht, UNO-Sonderberichterstatter für Folter, seit 2019 Vizepräsident des Internationalen Institutes für humanitäres Völkerrecht in Sanremo sowie Rechtsberater für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, ist kein Leichtgewicht. Man kann ihn nicht mit einer nachlässigen Handbewegung als Verschwörungstheoretiker oder nützlichen Idioten für antiwestliche Propaganda abtun. Nur widerwillig lässt er sich ja selbst im Dezember 2018 auf eine Mail ein, die bei ihm eintrifft: „Julian Assange is seeking your protection … War das nicht der Gründer von Wiki-Leaks, dieser zwielichtige Hacker mit Lederjacke und weißen Haaren, der sich wegen Vergewaltigungsvorwürfen irgendwo in einer Botschaft versteckte? Wie aus dem Nichts erfüllte mich ein Strom abschätziger Gedanken und erzeugte eine beinahe reflexartige Ablehnung“ (24).

Ein Jahr später hat sich seine Einschätzung komplett gewandelt. Er diagnostiziert beim Umgang der unterschiedlichen staatlichen Behörden mit Assange „psychische Folter“. Gegen die Unterstellung, er trivialisiere den Folterbegriff, wendet er ein: „Angesichts der fehlenden Sachkompetenz sagt die Vehemenz dieser Kritik kaum etwas über die Objektivität meiner Untersuchung aus. Vielmehr ist sie damit zu erklären, dass das offizielle Narrativ über Assange in breiten Bevölkerungsschichten nach wie vor sehr stark emotional verankert ist. Ich sage das ohne jeden persönlichen Vorwurf, denn ich selbst hatte ja im Dezember 2018 genauso unbedacht und widerwillig auf Assanges erstes Interventionsgesuch reagiert“ (90).

WikiLeaks löste mit dem „Afghan War Diary“ 2010 die größte Enthüllung der US-Militärgeschichte aus, mit Beweisen für Kriegsverbrechen und Folter. Auf die Verdächtigung der schwedischen Behörden gegen Assange wegen Vergewaltigung und die Ermittlung eines geheimen US-Schwurgerichtes wegen Spionage folgte ein langjähriges Asyl in der ecuadorianischen Botschaft in London und schließlich die Überstellung an die britische Polizei. In den USA drohen ihm175 Jahre Haft. Nils Melzer besucht Assange im britischen Gefängnis, recherchiert detailreich und sorgfältig, legt Behördenwillkür bloß und kommt schließlich zu dem Gesamturteil: „Der Fall Assange zeigt, dass es den Regierungen heute nicht mehr um legitime Vertraulichkeit geht, sondern um die Unterdrückung der Wahrheit zum Schutze von unkontrollierbarer Macht, Korruption und Straflosigkeit“ (331).

Selbst wenn man sich dem Urteil in dieser Allgemeinheit nicht anschließen mag, lohnt die Lektüre doch deswegen, weil sie zugleich Einblick in einen beispielhaften Veränderungsprozess beim Autor selbst gibt, nämlich den Verlust seines Vertrauen in bis dato selbstverständlich für wahr gehaltene Narrative. Was kann man machen, wenn man Vertrauen verloren hat? Solche Fragen kennen wir ja zu Genüge auch in der Kirche nach den Enthüllungen der letzten beiden Jahrzehnte über sexuellen Missbrauch. Jedenfalls: Wenn Regierungen und staatliche Gerichte im Westen sich selbst nicht mehr an reguläre Verfahren halten, für die sie eigentlich einzustehen haben, dann beschädigt das nachhaltig Vertrauen. Das wiederum treibt viele Menschen in die Leichtgläubigkeit gegenüber antidemokratischer, populistischer oder fundamentalistischer Propaganda.

Verlust von Vertrauen schmerzt. Aber beim Schmerz stehen zu bleiben hilft auch nicht weiter. Es bleibt der mühevolle Weg der Recherche ohne den Gestus der Selbstgerechtigkeit. Das gelingt Nils Melzer deswegen, weil er Erkenntnisse zu objektivierbaren Sachverhalten mit Selbsterkenntnissen kombiniert. Diese Haltung lässt sich auch auf viele vergleichbare Aufarbeitungsprozesse übertragen.

                Klaus Mertes SJ

Brockschmidt, Annika: Amerikas Gotteskrieger. Wie die religiöse Rechte die Demokratie gefährdet.
Hamburg: rowohlt 2021. 416 S. Kt. 16,–.

Die Autorin zitiert in der Mitte des Buches die Theologin Julie Ingersoll, Autorin von „Building God‘s Kingdom: Inside the world of christian recontructionalism“, mit einem Hinweis auf Rousas John Rushdooney (1916-2001), er sei „die wichtigste zeitgenössische Person, von der du noch nie gehört hast“ (119). So geht es vermutlich auch durchschnittlichen Leserinnen und Lesern der Stimmen der Zeit, mich selbst eingeschlossen. Rushdooney? Noch nie gehört. Umso mehr lohnt es sich, zu Brockschmidts Buch zu greifen – wegen dieser und vieler anderer Personen, Vereine und religiösen Organisationen in den USA (vgl. Verzeichnis 416 f.), die hierzulande nicht oder kaum bekannt sind, mit denen man sich aber dringend beschäftigen sollte.

Das Buch ist ein Augenöffner. Man versteht nach der Lektüre besser, was in den USA los ist: Dass die gesellschaftliche Spaltung in den USA eine lange Vorgeschichte hat; warum eine Figur wie Trump von der religiösen Rechten zu einer messianischen Figur erhoben werden konnte, warum aber mit seinem sich abzeichnenden Niedergang das Thema noch lange nicht beendet sein wird. Brockschmidt ordnet die große Fülle des Materials, ausgehend vom Begriff des „christlichen Nationalismus“ (vgl. S.L. Perry und A.L. Whitehead, 16 ff.). Sie beschreibt kundig und detailreich (über kritische Anmerkungen im Detail und zu einzelnen Urteilen könnte man streiten, aber das mindert nicht den Gesamteindruck), wie sich die dazugehörigen Narrative im letzten Jahrhundert entwickelt haben – ein Cocktail aus christlichem Fundamentalismus, Anti-Universalismus, religiös legitimiertem Rassismus (white supremacy) Antisemitismus, LGBTQ-Feindlichkeit und Antiliberalismus, ein Cocktail, das inzwischen von erheblich Teilen der US-Gesellschaft täglich konsumiert wird und nachhaltige Wirkungen entfaltet. Der Sturm auf das Kapitol (dazu 328 ff.) ist da nur das bisher deutlichste Signal für den demokratiefeindlichen Charakter dieser Bewegung, als solches erkennbar jedenfalls für diejenigen, die noch nicht in der Mega-Blase angekommen sind und noch nicht die entsprechende Gehirnwäsche durchgemacht haben: „Die Angreifer auf das Kapitol sahen sich in der Tradition eines Jesus, der die Händler mit der Peitsche in der Hand aus dem Tempel jagt und zur Gewalt greift, um das ihm Heiligste zu verteidigen“ (331).

Nach der Lektüre dieses Buches stellt sich aus katholisch-theologischer Perspektive die Frage, wie darauf zu reagieren ist, dass auch Teile des US-Katholizismus, um vorsichtig zu formulieren, nicht die Kraft finden, sich von der Agenda dieses „christlichen Nationalismus“ zu distanzieren oder taktische Bündnisse mit ihm zu unterlassen. Dass es sich so verhält, ist ja nicht zuletzt auch ein Zeichen theologischer und geistlicher Schwäche beziehungsweise einer mangelnden Anstrengung, hinzuhören und mit verständlicher Sprache in die heutige „Welt“ hineinzusprechen, wie es hierzulande etwa der „Synodale Weg“ versucht – gegen massiven inneren Widerstand.

Es wäre ja auch viel zu kurz gegriffen, zu meinen, dass Abgrenzungsschwächen gegenüber „christlichem Nationalismus“ oder überhaupt gegenüber einem identitär-kulturpolitisch aufgeladenem Christentums-Verständnis nur ein Problem des US-Katholizismus wäre. Brockschmidt weist zwar gelegentlich darauf hin, dass es neben dem „christlichen Nationalismus“ noch ein anderes Christentum gibt, auch in den USA. Was das sein könnte und wie das aussehen könnte, beschreibt sie nicht. Das ist auch nicht ihre Aufgabe. Aber es ist die Aufgabe derer, denen an der Ehre des Evangeliums und des Namens Christi gelegen ist.

                Klaus Mertes SJ

Rosa, Hartmut: Demokratie braucht Religion.
München: Kösel 2022. 74 S. Kt. 12,–.

In einer Gesellschaft, die sich im Zustand des „rasenden Stillstandes“ befindet, haben es Resonanzen schwer. Sie brauchen Räume, in denen Herzen überhaupt wieder anfangen können zu hören und zu schwingen (vgl. 1 Kön 3,9: „Gib mir ein hörendes Herz ...“). Solche Räume bieten Religionen, insbesondere die Kirchen, sogar ganz besonders die katholische: „Ich habe schon einmal darüber geschrieben, ob insbesondere die katholische Religion als Konfession möglicherweise über Resonanzqualitäten verfügt, und ich würde sagen: Ja! Über ganz viele sogar, und ich glaube, fast über mehr oder jedenfalls andere als der Protestantismus, und auch über leiblichere“ (69). Rosa zählt sie auch auf (70-74). Er wendet sich gegen den innerkirchlichen Trend zum verschüchterten Verstummen über die eigenen Schätze (25 f.), gerade auch bei kirchlich engagierten Personen und professionellen Theologen.

Rosa legt Wert darauf, dass er als Soziologe und nicht als „irgendwie religiöser Mensch“ (26) spricht. Seine soziologische Analyse lautet: Die moderne Gesellschaft befindet sich im Beschleunigungszwang. Sie muss Wachstum generieren, um den Status quo zu halten. In der Zukunft winkt uns keine bessere Welt mehr. Dafür häufen sich die Krisen, die uns von hinten einzuholen drohen. Der „Sinn für Vorwärtsbewegung“ (46) ist verlorengegangen, nachdem es ja tatsächlich eine Zeit lang Fortschritte gegeben hat und Ziele erreicht wurden. Doch nun laufen wir nicht mehr einem Ziel entgegen, sondern werden von den Problemen gejagt, die wir selbst geschaffen haben. Diese Logik des rasenden Stillstandes stiftet nun „systematisch ein Aggressionsverhältnis zur Welt“ (41). Die To-do-Liste explodiert. Der steigende Energieverbrauch erschöpft nicht nur das Klima, sondern auch die menschliche Psyche. Der Aggressionspegel steigt, Schreien und Anschreien ersetzen Dialog und Argumentieren. Das gefährdet die Demokratie, denn „Demokratie funktioniert im Aggressionsmodus nicht“ (53). Sie braucht die Resonanzräume, in denen überhaupt erst wieder „aufgehört“ wird – in der ganzen Doppeldeutigkeit dieses „großartigen Wortes“ (56): Anhalten, stoppen, aber auch aufhorchen, nach oben hin lauschen.

Rosas Text basiert auf einem Vortrag beim Würzburger Diözesanempfang 2022. Gerade die Kirchen sind es und müssen es sein, die über ein Reservoir an Übungen verfügen für die Einübung in das Hören des Herzens. Wichtig ist, dass Rosa hier das Wort vom „Einüben“ wählt. Hörende Herzen fallen nicht einfach vom Himmel. Das liegt ganz auf der Linie der ignatianischen Exerzitien. Auch sie gehen davon aus, dass man „Einstellungen der Seele“ (GÜ Nr.1) einüben kann: Indem die Person, die die Übungen gibt, zugleich bei sich selbst in der Mitte der Seelenwaage bleibt, hilft sie der Person, die die Übungen nimmt, bei sich selbst in die Mitte der Seelenwaage zu kommen. Dann gerät etwas ins Schwingen – so wie bei der Lektüre von Rosas Würzburger Rede.

                Klaus Mertes SJ

 

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