Georg Meistermanns ApokalypseZum Jubiläum der Kirche Maria Regina Martyrum

Zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus wurde vor sechzig Jahren die Kirche Maria Regina Martyrum in Berlin eingeweiht. Friedhelm Mennekes SJ, emeritierter Professor für Pastoraltheologie und Religionssoziologie in Frankfurt am Main, Sankt Georgen, deutet das bedeutende Gemälde des Altarraums von Georg Meistermann.

(c) Alfred Englert

Plötzensee war und ist ein Ort des Grauens. In dieser ehemaligen Hinrichtungs-Stätte wurden an die dreitausend Todesurteile während der Zeit des Terrors der Nazis vollstreckt. Anfang der 1960er-Jahre kamen die Berliner Christen in ökumenischer Einheit auf die Idee, hier zwei Gedenkstätten zu errichten, zwei Kirchen: die Gedenkkirche Plötzensee mit der realistisch brutalen Bilderfolge von Alfred Hrdlicka und den komplexen Gedenkort Maria Regina Martyrum mit dem Kloster der Frauen vom Karmel, mit dem ausladenden Feierhof mit Altar und Kreuzweg an der Mauer von O.H. Hajek, mit der Pietà und der Apokalyptischen Frau von Fritz König und schließlich mit der großen Kirche und den verschiedenen Kapellen des Architekten Hans Schädel.1 Ohne Frage, das beeindruckendste Memorialwerk stammt von dem Maler Georg Meistermann, eine großartige abstrakte Wandmalerei in Farben.

Der streng geometrisch gehaltene Raum in grauem Sichtbeton rundum und die braune Holzdecke bestimmen ihn farblich. Die Holzdecke schwebt oben über dem Querbalken aus Beton, einfache braune Holzbänke stehen am Boden. Mit ihren vielen rechten Winkeln entwerfen die Wände in ihrem Grau und die Decke mit Boden in ihrem Braun so etwas wie einen konzentrierten Bunker. Je nach Wetter flutet im Osten ein geradezu blendendes Licht links und rechts in die Kirche und rahmt erregend das in sich stille Wandbild in seinen Maßen. Das überhelle Licht energetisiert die Farbfelder der Bildfläche in eine Spannung, sie vibriert geradezu dialektisch zwischen unbewegt dunklen Steinlandschaften und inspirieren erhellend erzählerische Symbolisierungen. So erwecken sie im Raum die Farben sowie das Sehen und Staunen der Betrachter beim Besuch. Die Blicke wandern zwischen rätselndem Hin und Her – oder sie werden gehalten von mystischer Schau. Georg Meistermann formuliert seine Stimmung in einem Gespräch:

„Die Welt zerfällt, reißt auseinander wie stürzende Blöcke, zerfetzt in zerreißende Lappen. Und durch diesen Verfall, durch dieses Zerreißen erscheint die bleibende Verheißung in Symbolen wie Lamm, Auge, sieben Gaben des Heiligen Geistes. So steht das Grauen gegen Helligkeit. Die spiralartige Bewegung und Anordnung der Farben und Flächen ergibt sich aus eben diesem Wechsel von Verfall und Erscheinung.“2

Das triptygonale Großbild hat auf dem Grund seiner Leinwand ein Netz von parallelen Linien geworfen, senkrecht wie waagerecht. In der Mitte des Bildes ist ein prozessionales Kreuz gestellt, ein Kreuzstab. Er setzt eine teils unsichtbare und doch dominante Linie aufrecht über das ganze Bild, die in mittlerer Höhe links an einem dunkelgrauen Feld vorbeiläuft. Hier überkreuzt etwas höher eine sichtbare Querlinie die Senkrechte, markiert den Kreuzpunkt des Bildes, und stößt dann an eine rosa gesetzte Farbzone.

In die hellgraue Fläche ist abstrakt ein Auge mit einer grünen Pupille eingezeichnet. Zu ihm streckt sich in der rechts darunter gelegenen dunkelgrauen Zone ein gemaltes Lamm. Seine Blicklinie berührt dabei in diagonaler Wende den Kreuzpunkt von Bild und Raum. Dem schrägen Zueinander der Symbole von Auge und Lamm entspricht im Kreuzpunkt das schräge Zueinander der oben grünen und der links tiefer liegenden, hell leuchtenden gelben Fläche. So legt sich über dem Kreuzungspunkt ein X.

Das Auge ist in der Schöpfung das Organ des Sehens, der Beziehung des Menschen zur Umwelt. Das Auge ist ein Glied des Leibes und der Identität des Ichs. Bei Matthäus heißt es dazu: „Das Auge ist des Leibes Licht. Wenn dein Auge gesund ist, so wird dein ganzer Leib hell sein. Wenn aber dein Auge krank ist, dann wird dein ganzer Körper finster sein. Wenn nun das Licht in dir Finsternis ist, wie groß muss dann die Finsternis sein!“ (Mt 6,22 f.).

 Dem menschlichen Auge stellt sich in der Begriffsgeschichte bald eine ein anderes Wort zur Seite: das Auge Gottes. Dabei stellt sich auch gerne eine andere Begriffswendung dem Auge zur Seite: das Auge Gottes. Dieses beschreibt seit dem 15. Jahrhundert das Verhältnis von Gott und Mensch und umgekehrt, von den Menschen zum dreifaltigen Gott. Früh symbolisiert es Gott mit all seiner Allgegenwart, mit seinem Wissen und seiner Weisheit. Im süddeutschen Bereich bekrönt es dann gerne den Kreuzaltar, die Kanzel oder die Orgel. Das Auge Gottes steht jetzt vor allem in seiner Dreiecksform für die Personifikation Gottes selbst, für seine Weisheit und Liebe, für seine Sorge und Barmherzigkeit.

Das Lamm im Bild hat auf dem Kopf eine abstrakte Krone mit sieben Zacken und, über dem Körper verstreut, sieben Augen, eines davon wie eine Wunde gepflastert. Im Buch der Apokalypse heißt es dazu: „Und ich sah … ein Lamm stehen, das war geschlachtet; es hatte sieben Hörner und sieben Augen, das sind die sieben Geister Gottes, gesandt in alle Lande“ (Apk 5,6).

Im Altarbild der Berliner Kirche Regina Martyrum steht weder das Auge Gottes noch das geschlachtete Lamm exakt in der Mitte. Aber das Lamm streckt sich nach links oben, wie bereits angesprochen, zum Auge hin. Diese Blickachse durchläuft das Zentrum. Ebenso markiert das hellgelbe Kreissegment aus sich heraus eine Spannung zum rechts oben gelagerten grünen Rechteck. Auch diese Beziehungslinie durchläuft den Mittelpunkt des Bildes und formt ein X über den Kreuzpunkt der beiden Linien. Diese Überlagerung von Linien bildet energetisch das spannungsreiche Zentrum des Bildes. Aus deren Statik erhebt sich jetzt aus einem Inneren heraus eine Bewegung. Aus dem Blick des Lammes heraus erzeugt sie sich. Die Statik verwandelt sich zum evolutionären Zentrum. Die Farbflächen beginnen zu fliegen, eine Runde, dann zwei, vielleicht auch weitere. Ganz oben rechts unter der Decke fallen aus der Reihe der fünf nebeneinander aufgehängten schwarzen Felder zwei aus der Ordnung heraus. Wie nasse Fahnen waren sie aufgehängt. Steif geworden beginnen sie jetzt, nach unten zu fallen.

Geradezu flatternd formieren sich auch die hellgelben Farbflächen zu mehreren Kreissegmenten. Sie bewegen und drehen sich, verlieren ihr Wasser wie Tropfen, tränengleich – und schon verlieren sich die Farben in den Sog zweier und vielleicht auch weiterer Spiralen. Die bewegten Farben verteilen sich so über das ganze Bild, die gelben im Blick auf das ganze Bild siebenmal, die roten im Ansatz fünfmal. Am Ende schleift eine Sichel auf dem Boden, als wollte sie in diesem Wirbel mitfliegen. Aber in der Schwere ihrer Gravidität bleibt sie liegen. Das Bild vibriert in seinen Farben. Der Maler Georg Meistermann beherrscht seine Materialien und Bildkonzepte. Souverän geht er mit den Farben auf der Leinwand um und öffnet nicht nur seine Visionen der Abstraktion, sondern ebenso die Empfindungen der Betrachter.

Wenn es in der privaten Nähe von Georg Meistermann eine permanente Zeugin und Begleiterin vor der Leinwand dieses Malers gibt, dann ist es seine Frau, die Psychoanalytikerin Edeltrud Meistermann-Seeger. Sie schreibt: „Man kann sich dem Werk Georg Meistermanns von vielen Seiten nähern und wird doch vergeblich nach einer Formel suchen, die in das Wesentliche der Bilder eindringt und es wiedergibt. Es mag sein, dass nicht Eindringlichkeit, sondern mögliche Annäherung die Absicht, der Grund dieser Bilder ist, dass eines sich mit dem anderen im Sehen und Gesehenwerden verbinden muss; dass eines den Mangel des anderen darbieten und ausgleichen, eines die Kraft des anderen steigern muss, um das herzustellen, was für Hölderlin der Grund der Kunst sein soll: das Göttliche in der Mitte.“3 Konsequent fährt die Analytikerin diesen Gedanken fort, indem sie auf den Menschen vor diesen Bildern blickt. Er muss sich diesen Bildern fragend und still ergeben, muss sie sehen und wiedersehen, in ihren Farben und Formen, ihren Symbolen und Zeichen, ihrem Nachdenken über eine Welt, die es nur hier gibt.

Die Farben seien dabei das Primäre, erklärt sie im Gespräch: „Ihre Abhängigkeit vom Licht, ihre Vergänglichkeit in der Dämmerung sind mit hineingenommen als Mittel des Bildes. Nicht nur im Malen von Bildern, sondern auch zum Weiten des Augenblicks. Denn Farben, die anrufen, in Bewegung setzen, zu sich selbst bringen, außer sich geraten lassen…, sie erschaffen als das Allgemeine und Notwendige des Bildes und machen den Blick frei für das, was sie darstellen…: Als zweidimensionale Gebilde erfüllen sie keinen Raum, sondern eine Fläche. Substanz liegt ihnen nicht zugrunde, es sei denn, man bezeichnete ihre bannende Energie als Substanz. Sie stellen nicht irgendeinen materiellen Inhalt dar, auch nicht die realsten Abbildungen. Vor dem Inhalt rangieren Form, Farbe, Zeichen. Indem die Wirklichkeit einer Sache sich auflöst, erscheint ihre Möglichkeit. Die furchtlose Auflösung zwingt den Beschauer auf dem Umweg über die Bewegung seines Auges zu einer Bewegung des Geistes. Das geschieht in der Ordnung, die die Ordnung aller Bewegung ist: Sie bedient sich der Form zu ihrer Erscheinung, diese zugleich beherrschend und übersteigend. Die Form aber, in ihrer Festigkeit die Bewegung hemmend, in ihrer Lockerung sie befreiend, lässt den Betrachter jeden Zustand zwischen Sein und Nicht-Sein ahnen, den Hölderlin den furchtbaren, aber göttlichen Traum genannt hat.“4

Im Bild lebt das Lamm immer wieder auf. Es ist in seiner Haltung ganz auf das Auge Gottes gerichtet und reckt daraufhin beides: Kopf und Hals. Gleichzeitig sieht das Lamm das Auge im Sinne des Buches Sacharja. Dort sind es „die sieben Augen des Herrn, die über die ganze Erde schweifen“ (Sach 4,19). Sie sollen denen ‚ein starker Helfer‘ sein, „die mit ungeteiltem Herzen zu Ihm halten“ (2Chr 16,9).

In einem konzentrierten Artikel bedenkt der Neutestamentler Johannes Beutler SJ „Die Hermeneutik der Apokalypse und ihrer Bildersprache angesichts ihrer fundamentalistischen Deutungen“5. Das Lamm steht hier für den am Kreuz geschlachteten Erlöser, der sein Blut für die Welt hingab. Er wird mit einem biblischen Bild beschrieben. Zugleich aber wird das Lamm im Buch des Jesaja bestimmend auch in ein anderes Bild überführt, in das des Gottesknechts. Im Buch des Propheten taucht es in Form von den vier Liedern vom Gottesknecht auf: Jes 42,1-9; 49,1-6; 50,4-9 und 52,13-53,12. Regelmäßig werden sie sowohl in der Synagoge als auch in der christlichen Liturgie verlesen. So heißt es an zentraler Stelle im vierten Lied (Jes 53,4-7):

…Er hat unsere Krankheiten getragen
Und unsere Schmerzen auf sich genommen.
Wir meinten, er sei vom Unheil getroffen,
von Gott gebeugt und geschlagen.
Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen,
wegen unserer Sünden misshandelt.
Weil die Strafe auf ihm lag, sind wir gerettet,
durch seine Wunden sind wir geheilt.
Wir hatten uns alle verirrt wie die Schafe,
jeder ging für sich seinen Weg.
Doch der Herr warf all unsere Sünden auf ihn.
Er wurde geplagt und niedergedrückt,
aber er tat seinen Mund nicht auf.
Wie ein Lamm, das man wegführt, um es zu schlachten,
und wie ein Schaf, das verstummt, wenn man es schert,
so tat auch er seinen Mund nicht auf. …

Die Texte sind in einen wichtigen Augenblick der israelitischen Geschichte eingebunden und sprechen aus einer fundamentalen Entwicklungsstufe des biblischen Glaubens: die Zeit der Babylonischen Gefangenschaft und die äußerst konsequente Anbindung der Gemeinde an Jahwe. Zugleich sprechen sie Themen von grundsätzlicher Bedeutung an: Berufung und Sendung, Gehorsam und Anfechtung, Erhöhung und Erniedrigung, leidvolles Sterben und Lebenshoffnung. Im Vertrauen auf diesen Gott, in dessen Hände Schöpfung, Geschichte und Zukunft geboren liegen, verkündet der Prophet Jesaja das neue Heil für Israel: Dieses Heil ist bereits angebrochen, die Befreiung zum Weg in die Heimat hat schon begonnen.

Im Zentrum der Lieder vom Gottesknecht steht die Bewältigung des Leidens, das das Volk im Exil zu erdulden hat. Der Knecht leidet auf seine Weise das Leiden seines Volkes mit und kommt so zum Verstehen seines eigenen Leidens und dem seines Volkes Israel. Sein Leben hat eine Durchgangsbedeutung. Es läuft auf ein ganz bestimmtes Ziel hin. Freilich, dieses Ziel wird erst später offenbar, nach seinem Leiden.6 In späterer Zeit hat man in dieser Gestalt das Leben Jesu verstehen wollen und im Anschluss daran das Leben der christlichen Gemeinde, ja jedes einzelnen Christen. Dass Jesus zunehmend sein Leben und dessen weiteren Verlauf als nach dem Muster des Gottesknechts verlaufend betrachtet hat, behaupten die Evangelien. Das zeigen sie in seinem Schweigen vor seinen Richtern, darauf deuten die verschiedenen Voraussagen seines Leidens. Und je mehr Jesus mit seinem gewaltsamen Tode rechnen musste, desto mehr hat er sich Gedanken gemacht über den Sinn dieses Todes.

Das Neue Testament hat diese Lieder vom Gottesknecht an vielen Stellen deutlich benutzt und zitiert, um anzudeuten, was es eigentlich mit Jesus von Nazareth und Gottes Tat durch ihn auf sich hat. Jesus selbst hat den Jüngern seinen Tod als stellvertretende Tat für die unzählbare Schar der Sündverfallenen gedeutet. Weil er unschuldig, freiwillig, geduldig und nach Gottes Willen in den Tod geht, hat sein Sterben so grenzenlos heilwirkende Kraft; denn es ist Leben aus Gott und mit Gott, das er hingibt. Aber nicht weil es ein besonders starkes Leiden war, gewinnt es dieses Bedeutung für uns, sondern allein, weil das Wort Gottes darüber ergeht. Auch hier gilt: Der von allen Verachtete und Verlassene hat für alle gehandelt. Er, der unter Gottes Zorn zu stehen schien, stand im Dienst seiner Gnade. So ist nun zwischen Gott und Mensch Friede, Friede am Kreuz; denn er trat für uns alle ein (Jes 53,8-12a.c):

Durch Haft und Gericht kam er ums Leben,
doch wen kümmerte sein Geschick?
Er wurde aus dem Land der Lebenden verstoßen
Und wegen der Verbrechen seines Volkes getötet.
Bei den Gottlosen gab man ihm sein Grab,
bei den Verbrechern seine Ruhestätte,
obwohl er kein Unrecht getan hat,
und aus seinem Mund kein unwahres Wort kam.
Doch der Herr fand Gefallen an seinem misshandelten (Knecht),
er rettete den, der sein Leben als Sühnopfer hingab.
Er wird lange leben und viele Nachkommen sehen.
Durch ihn setzt der Wille des Herrn sich durch.
Nachdem er so vieles ertrug,
erblickt er wieder das Licht
und wird erfüllt von Erkenntnis.
Mein Knecht ist gerecht,
darum macht er viele gerecht;
er nimmt ihre Schuld auf sich.
Deshalb gebe ich ihm seinen Anteil unter den Großen…
Denn er gab sein Leben hin…

Mit dieser Vorstellung des Gottesknechts läuft das Bild dieser Gestalt wieder in das Symbol des Lammes zurück. Im Ersten Petrusbrief es heißt es daher: „Ihr wisst, dass ihr aus eurer sinnlosen, von den Vätern ererbten Lebensweise nicht um einen vergänglichen Preis losgekauft wurdet, nicht um Silber oder Gold, sondern mit dem kostbaren Blut Christi, des Lammes ohne Fehl und Makel“ (1Petr 18 f.). Wenn also Jesus hier als Opferlamm beschrieben wird, bedeutet das, wie Johannes Beutler es in seinem Text heraushebt, auch: Er ist das endgültige Opfer, durch das alle unsere Schuld gesühnt ist, und zwar nicht nur als eine himmlische Vision des Sehers Johannes in der Apokalypse, sondern auch zur realen Welt der Geschichte.

In der Rückkehr zum Blick auf das große Altarbild von Georg Meistermann und der Konzentration auf das Lamm schreibt Bischof Friedhelm Hofmann in seinem theologisch sensiblen Artikel zur Festschrift der Gedenkkirche Maria Regina Martyrum: „Das kleine Lamm, das mit einer Krone aus sieben Hörnern und mit den über dem Leib wie Wunden verteilten Augen gekennzeichnet ist, reckt sich mit überlängtem Hals dem gleichsam schwimmendem, halb vor- und zurücktretenden Auge … des Vaters entgegen. Auge und Lamm gehören zum innersten Kern der Komposition“ – darin sind sich der Bischof und die Theologin Hilde Hermann (1900-1987) einig.7 Indem beide, das Auge Gottes und das Lamm, „aufeinander ausgerichtet seien, verleihen sie der von ihnen ausgehenden Bewegung einen integrierenden Halt. Sie schwebten in einem durchlichteten Bezirk von äußerster Helligkeit, womit sich die Bewegungen des Lammes als eine Licht- und Geistbewegung darstellen.“

In dieser Welt der lebendig-symbolischen Antagonismen von Licht und Finsternis werden der sakrale Raum und die Farbarchitektur des Altarbildes bestimmt. Dabei bleibt das Lamm in seinen Bilddimensionen lebendig und dominierend. Hier bringt der Kunst-Bischof die Bedeutung dieses apokalyptischen Bildes auf den Punkt: Nach dem großen Architekten Rudolf Schwarz ist der sakrale Raum einer Kirche der „architektonische Ort der Schwelle zum Jenseits“. In diesem Sinn versteht der Bischof das Altarwandbild von Meistermann als „ein Bemühen, den Überstieg in die nicht mehr sichtbare Transzendenz menschlicher Erfahrungen zu vermitteln. Dabei verlangt der Künstler vom Betrachter ein Eingehen auf seine Vorleistungen. Er soll nicht nur mit seinen Augen über die Bildfläche ‚spazieren‘, sondern er soll durch die Reihung der Farbfäden hindurch in den Malgrund des Bildes so eintreten, dass er sich der ihm meditativ dahinterliegenden Dimension öffnet. Zumeist bleiben Georg Meistermanns großangelegte Formen in sich auflösbare Striche und Linien, selbst wenn sie monochrom angebracht sind. Das, was sich dem Auge des Betrachters als Fläche zeigt, ist in Wirklichkeit offener Raum, durch den das Auge ziehen kann. Somit leuchtet auch in diesem Altarwandbild eine Transzendenz auf, die Meistermann aus dem Glauben heraus zu entschlüsseln sucht.“8

Kommen wir zur Sichel zurück, die rechts in Bild und Strudel unbewegt auf dem Boden liegt. Sie ist das Symbol des großen Gerichts. Hier kommt es in der Apokalypse zum großen Drama und am Ende zur Erlösung (Apk 14,14-20):

Die Stunde der Ernte

Dann sah ich eine weiße Wolke. Auf der Wolke thronte einer, der wie ein Menschensohn aussah. Er trug einen goldenen Kranz auf dem Haupt und eine scharfe Sichel in der Hand.
Und ein anderer Engel kam aus dem Tempel und rief dem, der auf der Wolke saß, mit lauter Stimme zu: Schick deine Sichel aus, und ernte. Denn die Zeit zu ernten ist gekommen Die Frucht der Ernte ist reif geworden.
Und der, der auf der Wolke saß, schleuderte seine Sichel über die Erde und die Erde wurde abgeerntet.
Und ein anderer Engel trat aus dem himmlischen Tempel. Auch er hatte eine scharfe Sichel.
Vom Altar her kam noch ein anderer Engel, der die Macht über das Feuer hatte. Dem, der die scharfe Sichel trug, rief er mit lauter Stimme zu: Schick deine scharfe Sichel aus und ernte die Trauben vom Weinstock der Ernte! Seine Beeren sind reif geworden.
Da schleuderte der Engel seine Sichel auf die Erde, erntete den Weinstock der Erde ab und warf die Trauben in die große Kelter des Zornes Gottes.
Die Kelter wurde draußen vor der Stadt getreten, und Blut strömte aus der Kelter; es stieg an, bis an die Zügel der Pferde, eintausendsechshundert Stadien weit.

Das Blut der Opfer nationalsozialistischer Gewaltherrschaft ist in diesem Bild nicht gemalt, nicht einmal angedeutet. Nur wer die Geheime Offenbarung liest, die Apokalypse des Johannes, spürt die Sichel als Zeichen für diese Gewalt auf, für die Ernte und für das letzte Gericht. So erscheint am Ende des 14. Kapitels der Apokalypse eine Gestalt, die aussieht wie der Menschensohn (14-16). Er kommt in Anspielung auf das Danielbuch (Dan 7,13) auf einer Wolke, hat wie einer der vierundzwanzig Ältesten einen goldenen Kranz auf dem Haupt und eine Sichel in der Hand. Mit dieser Erscheinung wird der Beginn des Gerichts angedeutet. Der Sichelwurf bildet den Auftakt des Verfahrens. Jetzt vollstrecken Engel das erste Stadium der Strafe über die Welt. Darauf folgt das zweite mit dem Vergeltungsschlag gegen Babylon (Apk 15.16). Erst im dritten und letzten Stadium (Apk 9) tritt der Messias selbst im Ornat des siegenden Königs auf und wirft persönlich die Mächte des Bösen in Gestalt der Tiere nieder.9

Der zuerst im Bild des Kindes erschien (Apk 12), transformiert sich jetzt in ein Wesen, das einem Menschensohn ähnlich ist (Apk 14) und wird sich schließlich in seiner vollen Herrlichkeit zeigen: als der Logos Gottes und König der Könige (Apk 19). Hier in dieser sechsten Vision zeigt er sich als der, der das Gericht über die Welt ausrufen lässt. Dann beginnt er es, indem er dem Engel, der aus Gottes Unmittelbarkeit kommt, seine Sichel des Gerichts zuwirft. In der folgenden Vision schließlich erscheinen andere Engel ebenfalls mit Sicheln (9-12) und weiten das Gericht in die dunklen Bilder von der Traubenernte, die schildert, wie die Trauben in die große Kelter des Zornes Gottes geworfen werden. So eilt die Geschichte dieser Welt geradewegs ihrem Ende entgegen, das Gott ihr gesetzt hat. Ist die Weltmacht des Bösen, Babylon, erst einmal gerichtet, wird Christus erscheinen und die Streiter Satans vernichten. Danach stehen die Toten auf und treten vor Gott hin. Dann versinkt die alte Welt in den Abgrund und die neue entsteht, in der die Gerechten in nie endender Freude leben werden.

Nochmals: Das große Altargemälde erzählt keine Geschichte. Es hat die malerische Abstraktion der Apokalypse im Sinn, in Farbe, Form und Zeichen, aber es sieht auch in der Apokalypse Trost und Hoffnung. Das riesige Bild ergründet die Realität der Geschichte in ihrer Todverfallenheit. Doch weiß es sich auch getragen von der Vision eines kristallklaren Stroms, der beim Throne Gottes und des Lammes entspringt. Sein Wasser sprudelt voll lebendigen Lebens, und in alle Ewigkeit ist Gott jetzt bei den Menschen (Apk 22,1.5.12 ff.).

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