Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Wir sind heute hier versammelt, um eines Mannes zu gedenken, der sein Leben gab zum Zeugnis dafür, dass Gerechtigkeit und Frieden auf dieser Erde durch Worte allein nicht genüge getan werden kann. Pater Alfred Delp, geboren am 17. September 1907, beheimatet in dieser Stadt, hingerichtet am 2. Februar 1945, konvertiert als Schüler, Mitglied der Gesellschaft Jesu, Soziologe, Philosoph, Prediger und zuletzt Kirchenrektor von St. Georg in München-Bogenhausen. Alfred Delp wäre heute 62 Jahre alt. Er starb 37-jährig im Aufstand – im inneren Aufstand – gegen den mörderischen Weg seines eigenen Volkes, gemordet von der Hand seines eigenen Volkes, wie viele andere auch, deren wir in diesem 25. Jahr seit 1945 zu gedenken haben. Zum Gedächtnis der Männer und Frauen des deutschen Widerstandes zu sprechen, führt uns in die Versuchung, sie unmittelbar zu uns zu nehmen, sie zu integrieren, sie für unsere Gesellschaft heute als Wegbereiter in Anspruch zu nehmen. Schon das Wort, meine Damen und Herren, vom andern Deutschland erweckt die Vorstellung, als seien diese Männer und Frauen damals Repräsentanten eines großen, vom historischen Zufall nur vergewaltigten Teiles des deutschen Volkes gewesen, als seien sie Repräsentanten einer, wie man vielleicht heute sagen würde, damals schweigenden Mehrheit gewesen. Aber so die Geschichte zu unserer Bequemlichkeit zu klittern, entließe uns doch nicht aus der Verantwortung und verschlösse nur den Weg zu einer friedlicheren Zukunft. Die Männer und Frauen des Widerstandes repräsentierten niemanden als sich selbst. Hinter ihnen stand keine schweigende Mehrheit, nein, gegen sie stand ein vom Nationalismus toll gewordenes eigenes deutsches Volk. Auch die Kirche hatte sich in ihrer Mehrheit arrangiert, beide Kirchen, beide großen Kirchen! Nur eine Minderheit von Katholiken und Protestanten stand auf zum aktiven Widerstand. Pater Alfred Delp gehörte zu dieser verschwindend kleinen Gruppe von Männern der Kirche beider Konfessionen, die sich aktiv an der politischen Untergrundarbeit beteiligten. Die Tafel der Opfer des 20. Juli enthält die Namen von drei katholischen Geistlichen, an erster Stelle Pater Alfred Delp, Prälat Müller und Kaplan Wehrle. An die, die auch mit Pater Delp befreundet waren, denken wir ebenfalls in dieser Stunde. Die Männer und Frauen des Widerstandes kämpften auf der richtigen Seite, wer wollte das heute bestreiten, aber sie kämpften einsam gegen ihre Mitbürger und auch gegen die Mehrzahl der gleichgültigen Gläubigen oder der ängstlichen Männer der christlichen Kirche. Wer heute zum Gedenken dieser Toten, und hier dieses Toten, Pater Alfred Delp, spricht, darf nicht versuchen, aus diesen Männer nachträglich bequeme, anständige Männer zu machen, einen Schmuck oder gar ein Alibi für unsere Gegenwart. Denn wer aus Überzeugung die Herde verlässt, um allein, einsam, entrechtet und verfemt gegen die Verbrechen des eigenen Volkes anzutreten, der ist kein Repräsentant seiner Gesellschaft, sondern ein Rebell gegen die Gesellschaft. Rebellen aber haben keine legitimen Erben, und wir können uns heute nicht auf sie berufen. Rebellen bleiben ein unbequemes Ärgernis einer selbstgefälligen Gesellschaft, wenn wir sie ernst nehmen. Die Rebellen des deutschen Widerstandes sind für uns, die Zeitgenossen oder die Nachfahren, nicht etwa ein Ausgleich für die von unserm Volk begangenen Verbrechen, sondern eine Erinnerung an diese. Sie machen uns nicht frei von der Verantwortung für das Geschehene, sondern im Gegenteil, sie nehmen uns in Pflicht. Sie können allerdings für uns Signale sein, in dieser veränderten Gegenwart, wenn wir sie hören wollen. Und so meine ich, meine Damen und Herren, ist eine Gedenkstunde wie diese dazu da, die Stimme unverfälscht zu hören, soweit wir dieses können.
Die Jungen und die Älteren
Was haben die Toten, was hat Pater Alfred Delp uns in unserer Lage heute zu sagen? Die politische Entwicklung bringt es in diesen Wochen mit sich, dass wir alle, das ganze deutsche Volk, unsere Geschichte erneut überdenken müssen. Verständnis für die Situation und ein realistischer Ausblick auf unsere Möglichkeiten lässt sich ohne eine nüchterne Erkenntnis der historischen Ursachen nicht gewinnen, denn diese Ursachen lagen in uns selbst, in unserem eigenen Volk. Wir selbst haben verschuldet, was uns heute verstrickt. Pater Alfred Delp mahnt im Vaterunser, einem seiner letzten Texte, und ich lese: „Gerade um die Schuld tanzt der Mensch viele Tänze, die aber nicht in gelöster Rhythmik geschehen, sondern im Grunde Krämpfe sind. Der Mensch kann versuchen, seiner Schuld davonzulaufen, das ist vergeblich, denn die Schuld steht in seiner Wirklichkeit. Er kann versuchen, sie einfach zu verleugnen, er kann den alten Griechentraum träumen, er kann sie wegdiskutieren, das alles mag ihm für eine kurze Stunde den Blick trüben und das Gewissen vernebeln. Die geschehenen Taten sind unterschriebene Wechsel und diese müssen eingelöst werden.“ Aber nach diesem Text, in dieser Verstrickung dürfen wir nicht verzweifeln; was geschehen ist, muss, wie Alfred Delp sagt, ausgeglichen werden, eingelöst werden, wie durch einen Wechsel. Aber die Schuld der Vergangenheit nimmt uns in der Gegenwart nicht das Recht auf freiheitliche Entscheidung, es schränkt nur die Schuld, den Handlungsspielraum ein. In dem Rahmen, der uns verbleibt, sind wir verantwortlich, die zukünftige Geschichte ist unsere Verantwortung. Pater Delp hat diese politische Forderung an den Einzelnen gekannt, er ist ihr gefolgt. Er schreibt: „Der Mensch ist eben nicht nur da, in Geschichte zu stehn oder Geschichte zu erleiden, selbst dieses muss noch ein aktiver Einsatz, ein bewusster Vollzug sein. Der Mensch muss Geschichte machen.“ Dazu gehört das spähende Begreifen neuer Möglichkeiten und Fälligkeiten und dazu gehört der rastlose und lebendige Einsatz für die richtige Geschichte. Dafür bedarf es dann unserer Beteiligung und er schreibt: „Die Geschichte ist innerhalb ihrer Ordnung und ihrer Möglichkeiten auf das Zeugnis und die Entscheidung der Menschen gestellt. Sie ist vom Menschen her ein agonales Geschehen und wer um die Geschichte nicht gekämpft hat, darf sich nicht wundern, wenn er sie verlor und wenn sie ihn vergaß.“ Wir tun das, meine Damen und Herren, verschiedentlich im Glauben, wie das mein Vorredner von verschiedenen Seiten her wohl beleuchten wollte. Delp war in seinem Gottvertrauen getragen, als er männlich selber in die Geschichte als ein gottesfürchtiger Rebell eingriff. Er schrieb: „An dem goldenen Samen Gottes glauben, den die Engel ausgestreut haben und immer noch den offenen Herzen anbieten. Das ist das erste, was der Mensch zu seinem Leben tun muss und das andere, selbst als kündender Bote durch diese grauen Tage gehen.“ Und hier sieht Alfred Delp die Verantwortung in der Wahrhaftigkeit, mit der wir unserer Welt, so wie sie ist, begegnen müssen. Er fragt an einer Stelle: „Worauf kommt es eigentlich an, wenn ein Mensch sich in den Dienst der Erde begibt? Ist das eine Sache des Herzens, ist es eine Sache des Erfolges, des Einsatzes?“ Und seine Antwort ist fast schroff, schroff radikal würde man vielleicht heute sagen. „Wer den Dingen nicht mit dem größeren Ernst des Absoluten begegnet“, sagt er, „dem sind sie gefährlich. Nur wer so sein Leben verliert, wird der Erde die hundertjährige Frucht abringen“. Und mit dieser Eindeutigkeit sieht Delp die Krise unserer Gesellschaft. „Zwei Erscheinungen“, so schreibt er,“ unserer jüngsten Vergangenheit und noch der Gegenwart müssen unter das schöpferische und heilende Gericht dieser Anrufung gestellt werden. Der bürgerliche Lebensstil und die bürokratische Kirche“. „Der bürgerliche Lebensstil“, schreibt Alfred Delp, „hat einmal seine Größe und seine Sendung gehabt“, aber, ich zitiere, „die Rente, der Coupon, die stille Teilhaberschaft, die Zinshäuser waren und sind die Symbole und Ziele dieser Menschen geworden.“ Und er fährt fort: „Was haben die um der eigenen, wenn auch kollektiv verstandenen Lebenserfüllung wegen unternommenen kontinentalen und kolonialen Imperialismen aus den Menschen gemacht? Wie wurde die Wirtschaft, um des Erfolges und des Gewinnes und der Freiheit des wirtschaftenden Menschen willen groß und mächtig gemacht und wie wurde der Mensch, nicht nur im Gefolge der Mechanisierung, ein technisch beherrschtes und oft auch ein entseeltes Wesen, sondern wie wurde er bewusst generationenlang Objekt der Ausbeutung, Gegenstand des Feilschens und Handelns oder in der wirtschaftenden Sphäre selbst zu bekämpfender und zu vernichtender Konkurrent und Gegner bis zum letzten.“ Kritisch auch am Materialismus der sozialistischen Bewegungen wohl, fährt er an anderer Stelle fort: „Die meisten modernen Bewegungen sind doch ausgezogen, um es den jetzt noch Ausgeschlossenen zu ermöglichen, so gut bürgerlich als möglich zu leben“. Und selbst wo Zeit und geistige Zusammenhänge da und dort die Entwicklung weitergetrieben haben, blieben sie in der alten Form des Bürgertums, im bürgerlichen Imperialismus, wie er sagt, stecken. Steven Bender, der britische Atheist, zitiert in seinem Buch „Das Jahr der jungen Rebellen“, das im letzten Jahr erschien, einen zentralen Satz aus einem Aufruf der jungen revolutionären Studenten in Paris vom Mai 1968. Der Satz lautet, und wir hören noch was Pater Delp, was ich eben verlas, der Satz der französischen Studenten hieß: „Studenten, hütet euch vor der Ideologie des Erfolges und des Fortschritts!“ Meine Damen und Herren, in diesem Protest gegen die Ziele unserer materialistisch gewordenen Leistungsgesellschaft, in diesem Protest liegt der Kern der Schwierigkeiten zwischen der jungen Generation und uns, den Älteren. Pater Delp hat die Frage damals wohl schon richtig gehört. Er würde sie vielleicht heute nur noch härter stellen als damals, und ich meine, er würde Verständnis für die absoluten Forderungen der Jugend haben, er, von dem alle wissen, dass er ein geborener Führer der Jugend war, denn wie er gesagt hat: „Wer den Dingen nicht mit dem größeren, größten Ernst des Absoluten begegnet, dem sind die Dinge gefährlich“. So sieht Delp den Zwang zum Wandel, und er schreibt: „Wir müssen vieles vergessen und vieles verlassen und noch mehr drangeben, um das Ganze noch einmal zu gewinnen. Die Erde wird gepflügt und neuer Samen wird gestreut“. Er erkennt die Schwierigkeiten, die die Älteren haben, die Jungen zu verstehen, aber er sieht gerade darin die Aufgabe der Älteren und ich zitiere: „Es begegnen sich auf der Ebene des Geschichtlichen die Menschen, die den gestrigen Tag gemeistert haben, und die, deren Auftrag das Heute ist. Diese Scheidung in Gestrige und Heutige ist nicht ausschließlich eine Angelegenheit des physischen Alters. Es vermag ein Mensch von großer Spannkraft, dem geschichtlichen Gang mitzugehen, so dass er in großer Lebendigkeit den Wandel der Dinge mit vollzieht und doch zugleich sicher ist, dass er keinem seiner Werte untreu geworden ist.“ Und erfährt fort: „Damit ist gesagt, dass, was den bewusstseinsmäßigen Vollzug dieser Wandlung angeht, die beste Form einer geschichtlichen Wende nicht darin besteht, dass die Generationen sich die Fahnen aus den Händen reißen und im absoluten Bruch einander nicht mehr verstehen. Es ist der erstrebenswerte Idealfall, dass die verantwortliche Generation die Aufgabe und das Steuer empfängt, mit dem Segen der Menschen, die bisher die Last getragen haben. Das Leben wird sicherer und reicher, wenn wir an einen Sinn und einen Auftrag in allen Erscheinungen der Wirklichkeit glauben und wenn der immer wieder anzutretende Marsch in die neue Zeit begonnen wird aus einer Heimat und Geborgenheit heraus, die mit ihrer Liebe und ihrem Segen zurückbleibt, und die den Weg doch grundgelegt hat, auch wenn sie die neue Richtung nicht mehr mitsteuert“. Diese Mahnung erhebt er, als treuer Sohn seiner Kirche, auch gegenüber ihr selbst. „Unsere Kritik an neuen Ansätzen“, so schreibt er, „ist doch rein negativ“. Diese Feststellung trifft zuerst und besonders die kirchlichen Gelehrten, und so fährt er fort: „Es liegen im geistigen Raum der Kirche so viele Anliegen unerfüllt und unerledigt herum, es sei nur auf eines hingewiesen: „Jede Häresie“, so Pater Delp, „muss im kirchlichen Raume ein doppeltes Schicksal erfahren: Die Verurteilung und die Erfüllung des sie bedingenden positiven Anliegens“. Also den Wandel einbeziehend in das, was Institution ist, und das Neue mit einer sich wandelnden Institution erfüllen, das war wohl gemeint. Delp sieht den unauflösbaren Widerspruch zwischen kirchlichem Auftrag und der Kirche in dieser Welt. Er sieht ihn und weist auf ihn hin, gerade für die sozialen und ökonomischen Bereiche, im Zusammenhang mit seiner Kapitalismuskritik.
Gottesfürchtiger Rebell
Die Kirche, so heißt es, hat ihren eigenen Beitrag geleistet zur Entstehung und zur Entartung des bürgerlichen Menschen. Und der bürgerliche Mensch hat nicht versäumt, sich in der Kirche breit zu machen und die Ideale der menschlichen Schwäche, Besitz, Macht, gepflegtes Dasein, gesicherte Lebensweise, innerhalb des kirchlichen Raumes anzusehen. Fragen wir also, meine Damen und Herren, fragen wir, ohne hier zu antworten, wo Delp heute stehen würde, z.B. in den Ländern, in denen in diesen Tagen katholische Priester oft im Widersprich zu den hierarchischen Strukturen ihrer eigenen Kirche den sozialen Wandel fordern, für eine gerechtere Gesellschaft, in Südamerika, in den Entwicklungsländern, wo immer. Ich meine, Pater Delp hat uns eine Antwort gegeben. Delp war ein gottesfürchtiger Rebell. Delp hat, wie die ganze Ahnenreihe deutscher Patrioten, die sich kritisch in Liebe zu ihrem Land geäußert haben, für diese Kritik mit seinem Leben gestanden um einer besseren deutschen Gesellschaft willen, und niemals hat er diese vaterländische Verpflichtung vergessen. Deswegen schreibt er im Vaterunser, diesen in seinen letzten Tagen verfassten Schriften, er sagt: „Das heißt für uns den Verzicht auf jede Bitterkeit und auf jede Erbitterung gegen die Menschen, die uns solches getan haben. Mir tun sie unsagbar leid und mehr noch das Volk, das ihnen sich und seine heiligsten Geister ausgeliefert hat. Gott schütze Deutschland“. Und so endet er sein Leben nahe bei den folgenden Sätzen, sie wurden zum Teil bereits verlesen: „Behaltet dieses Volk lieb, das in seiner Seele so verlassen und so verraten und so hilflos geworden ist, und im Grunde so einsam und ratlos, trotz all der marschierenden und deklamierenden Sicherheit.“ Wenn durch einen Menschen ein wenig mehr Liebe und Güte, ein wenig mehr Licht und Wahrheit in der Welt war, dann, so endet Pater Delp, hat sein Leben einen Sinn gehabt. In diesem Sinne hat das Leben Alfred Delps eine Erfüllung, gerade in seinem Ende.
Wir verneigen uns vor Leben und Tod von Pater Alfred Delp, geboren am 17. September 1907, hingerichtet morgen vor fünfundzwanzig Jahren.