Drei Filme des Symposions standen unter dem Motto „Wahrheit“. Wahrheit, auch Lüge und Betrug lassen sich nicht eindeutig fassen, nicht definieren. Sie bilden ein Geflecht, ein Gestrüpp, in das ich versuche, einige Schneisen zu schlagen.
Die Schlange: Es beginnt früh mit der Erzählung von einem Baum und einer Schlange in Genesis 3. Hier geht es um keinen Sündenfall vom Guten zum Schlechten, sondern: Der fragile und ambivalente Mensch wird in eine Ursprungserzählung mit mythischen Motiven gepackt, in eine Ätiologie. Was hier als Vergangenheit auftritt, möchte sagen: Das ist die conditio humana, die nie anders war und nie anders sein wird. Der Mensch ist imstande, alles über Bord zu werfen, wenn etwas Begehrenswertes in Aussicht steht.
Dem ersten Menschenpaar wird verboten, von den Früchten eines bestimmten Baumes zu essen, weil Adam und Eva sonst sterben müssen. Aber die Schlange stellt das infrage und findet ein offenes Ohr. Auch die Schlange ist ambivalent, denn sie lügt und sagt die Wahrheit. Sie lügt: „Mitnichten werdet ihr sterben“. Aber alle Menschen sterben, heißt es am Schluss. Die Schlange sagt freilich auch die Wahrheit: Gott weiß, dass euch die Augen aufgehen werden zur Erkenntnis von Gut und Böse. So ist es dann auch geschehen: Menschen wissen, dass zwischen Gut und Böse ein Unterschied ist, und darin besteht ihre Moralfähigkeit.
Dennoch ist den Menschen eine Grenze gesetzt durch ihre endliche Geschichte. Denn alle Begabungen wie Moralfähigkeit, Vernunft oder Sprache sind niemals absolut sicher, niemals „nackt“, sondern immer bekleidet mit dem jeweiligen Zeitgeist, mit persönlichen und politischen Interessen, mit seelischer oder körperlicher Befindlichkeit, mit Emotionen aller Art. So können die Menschen zwar wissen, dass zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch ein Unterschied ist, sind aber durch diese Bekleidung eingeschränkt und wissen nicht immer, worin in einer bestimmten Situation das jeweils Gute oder Böse besteht; sie wollen es vielleicht auch gar nicht immer wissen. Übrigens: Im hebräischen Originaltext heißt die Schlange Nachasch (nāḥāš) und ist männlich, also der Schlangerich. Demnach hat nicht Eva, die Frau, den Mann Adam verführt, sondern ein männliches Wesen die Frau. Die Schlange jedenfalls sagt nur die halbe Wahrheit, denn wissen heißt noch nicht erkennen.
Der Skandal: Unser Zeitgeist liebt Fakten und Beweise. Aber Fakten sprechen nicht. Faktum ist z.B., dass Julius Cäsar an den Iden des März ermordet wurde. Sofort stellen sich viele Fragen ein: Warum? Wer hat davon profitiert? Was ist mit den Tätern geschehen? Das Faktum ruft alle möglichen Deutungen ab. Nun gibt es im Journalismus eine sinnvolle Konvention: Berichte sind der Wahrheit im Sinne der Faktentreue verpflichtet, Kommentare interpretieren und formulieren das Urteil der Schreibenden. Zuweilen kann das auch durcheinandergeraten.
Hat Claas Relotius (im Film: Lars Bogenius) mit seinen teils fingierten Spiegel-Reportagen gelogen und getäuscht? Kann eine Zeitung „sagen, was ist“? Solche Fragen sind nicht einfach zu beantworten, schon gar nicht mit erhobenem moralischem Zeigefinger, auf den der Film „1000 Zeilen“ dankenswerter Weise verzichtet. Was hier für mich mit Humor herüberkommt, entspricht einem Dilemma. Denn jedes Wort ist von unterschiedlichen Bedeutungen umflort, jeder Satz interpretiert einen Sachverhalt, der erst aus der Interpretation herausgeschält werden muss. Genau genommen ist der Kommentar früher da, geht dem Bericht voraus, der eine mühsame Abstinenz von Deutungen verlangt.
Deutungsnatur und Deutungskultur
Der Philosoph Wolfram Hogrebe sieht die Menschen als mantische Wesen, ausgestattet mit einer Deutungsnatur, sinnsehnsüchtig, auch sinnängstlich.1 Die Türe schlägt zu; war es der Wind oder die stumme Wut eines Hausgenossen? Ein bestimmter Blick – soll ich einen verborgenen Wunsch erfüllen? Eine plötzliche Krankheit – die Strafe Gottes für eine ungesühnte Schuld? Solche Deutungen stellen sich spontan ein, und erst das klärende Wort kann mehr Licht in solche dunklen Ahnungen bringen. Dies geschieht durch die Deutungskultur, die der Deutungsnatur nachfolgt, indem sie beharrlich Fragen stellt, auch an schriftlich vorliegende Texte: Wer spricht zu oder mit wem, worüber, wann und wo, warum, wozu und wie? Will ich überzeugen, indem ich Interessen, Meinungen, Argumente zur Diskussion stelle? Oder will ich überreden, indem ich mit emotionalem Überdruck und Suggestion eine Angstwelt beruhige oder eine Wunschwelt erzeuge, aber auch umgekehrt: eine Wunschwelt beruhige und eine Angstwelt erzeuge?2
Fake News entstehen, weil wir Menschen mögen, die unsere Überzeugungen, Emotionen und Vorlieben teilen. Automatisch bevorzugen wir daher Nachrichten, die unsere Meinungen und Haltungen bestätigen, denn das schafft gute Gefühle und Wohlbefinden, sagt die Theorie der confirmation bias oder selective exposure. Auf Deutsch: Voreingenommenheiten bestätigt zu bekommen und sich nur den dazu passenden Inhalten auszusetzen, das macht immun gegenüber widersprechenden oder auch nur modifizierten Meinungen. Schon klar, denn Widersprüche und Gegenargumente sind anstrengend und verstörend. Alles infrage zu stellen, ist schon in Ordnung, aber infrage gestellt zu werden, sehr unangenehm. In der Folge zerfällt eine Gesellschaft in viele kleine Gruppen, die unter sich bleiben.
Erkennen statt Wissen: Die Deutungskultur bringt auch Werke der Kunst hervor, Poesie, Romane, Komödien oder Tragödien. Gibt es eine Wahrheit in der Dichtung? Alles spricht dafür. Aber hier geht es nicht um die Wahrheit der Tatschen, sondern um Anstöße, Wahrheiten über den Menschen, seine Fähigkeiten, Grenzen und Abgründe zu erkennen. Auch der biblische Schriftsteller, der von Bäumen und einer Schlange erzählt, spricht nicht von Tatsachen, sondern sagt etwas über den Menschen, über mögliche Erfahrungen mit sich selbst und mit anderen.
Dazu zählt die Fähigkeit zu erkennen, eine Fähigkeit, die nichts mit Information über Wissensbestände zu tun hat, aber mit einem Vorgang, der etwas einleuchten lässt. Menschen sind sinnsehnsüchtig, und Sinn bedeutet, einer Wahrheit gewiss zu werden. Das gilt besonders für die Religionen, aber Sinn und Glaubensgewissheit lassen sich nicht einfach pflücken wie Äpfel von einem Baum. Sinn unterscheidet sich vom Fürwahrhalten bestimmter Lehren, lässt sich nicht lernen, einem Menschen nicht aufzwingen oder ausreden. Sinn ist nicht, Sinn geschieht,3 ereignet sich, wird empfangen, verdankt sich dem, was der Sprachwissenschaftler Wim de Pater eine disclosure nennt, eine Erschließungserfahrung. Er verknüpft das mit alltagssprachlichen Wendungen wie: Das leuchtet mir ein, mir ist ein Licht aufgegangen.4
Ein Blitz und eine halbe Wahrheit
Eine solche Erfahrung ist auch eingefleischten Naturwissenschaftlern vertraut, wie dem Chemiker Friedrich August Kekulé (1829-1896). Er zerbricht sich lange und erfolglos den Kopf über die Struktur des Benzols. Ermüdet nickt er im Sessel vor dem Kaminfeuer ein. Im Halbschlaf sieht er, wie sich die Flammen zu einer Schlange verbinden, die sich in den eigenen Schwanz beißt – ein Kreis: Der Benzolring war entdeckt. Das hat ihn, wie er selbst sagt, wie ein „Blitzstrahl“ getroffen.5 Ob Bibel oder Chemie – Kenntnis des Gegenstandsfeldes und die aktive Suche nach Einsicht sind zwar Voraussetzungen, aber die Ergebnisse kein notwendiges Resultat des Bemühens.
Charles Darwin arbeitet sein Leben lang mit Beobachtung, Fakten und Beweisen. Darüber hat er aber seine Freude an Kunst, Poesie und Musik, auch die Religion verloren und nennt das einen Verlust an „höheren Seelenfähigkeiten“ und damit an Glück. Er wünscht sich die Freude an Romanen zurück mit einer Figur, „die ich durch und durch lieben“ kann. Zu seiner Frau Emma sagt er: „Glücklicherweise gibt es keinen Zweifel darüber, wie man handeln sollte.“ Diesen Satz zitiert sie in einem Brief und widerspricht ihm: „Nein, das wissen wir leider nicht immer.“ Nur diesen einen Brief hebt Charles auf; manchmal küsst er ihn.6 Frau Darwin hat die Halbwahrheit der Schlange durchschaut.
Abgründe: Biologie und Symbol
„Ihr werdet nicht sterben“, lügt die Schlange, aber sie verschweigt auch etwas: Der Mensch ist das einzige Lebewesen, dass bereits in jungen und blühenden Jahren weiß, dass er und sie sterben müssen. Das kann Angst machen, deprimieren, lähmen. Noch schlimmer ist die Vorstellung, ohne Bedeutung wie ein Tier zu verenden. Um diesem Terror der natürlichen Existenz zu entgehen, suchen Menschen nach einem Sinn, der ihnen Bedeutung verschafft. Zu diesem Schluss kommt der Sozialanthropologe und Psychologe Ernest Becker.
Unsterblichkeit: Die Wannseekonferenz am 20. Jänner 1942 ist ein Faktum, die filmische Inszenierung (Die Wannseekonferenz. 2022)7 freilich eine Fiktion. Es gibt nur ein Beschlussprotokoll und niemand weiß genau, wer was gesagt hat. Dennoch geht aus dem Film klar hervor, was damals koordiniert werden sollte: die „Endlösung“ der sogenannten Judenfrage und ein judenfreies Europa. Wenn die Wahrheit in der Dichtung darin besteht, Wahrheiten über den Menschen, auch über seine Abgründe vor Augen zu führen, dann zeigt der Film eine Wahrheit über manche Menschen, die versuchen, durch heroische Taten Unsterblichkeit zu gewinnen.
Ernest Beckers jüdische Familie immigriert um die Wende zum 20. Jahrhundert aus Osteuropa in die USA und lässt sich in Massachusetts nieder, wo Ernest 1924 geboren wird. Mit 18 Jahren geht er zur Armee und befreit 1945 mit seiner Truppe ein Konzentrationslager der Nazis in Deutschland; welches, ist nicht überliefert. Nirgends schreibt er darüber, was dieses Erleben in ihm ausgelöst hat. Aber er stellt sein bekanntestes und posthum mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnetes Buch „The Denial of Death“ unter das Motto: „Nicht spotten, nicht klagen, nicht verfluchen, sondern begreifen.“8
Für Becker steht der Mensch existenziell in einer Spannung zwischen körperlichen Notwendigkeiten und seelisch-geistigen Prozessen, lebt also in zwei ganz unterschiedlichen Welten.9 Becker versteht es, den blutigen Kampf um Nahrung und Überleben plastisch vor Augen zu führen und nennt das Leben auf diesem Planeten einen „Science-fiction Alptraum.“10 Hier kommt auch wieder der biblische Erzähler von Genesis 3 ins Spiel. Denn als den Menschen die Augen aufgehen, sehen sie, dass sie nackt sind und schämen sich. Sich als einen bloß verdauenden und geschlechtlichen Organismus vorzufinden, führt einen Angriff auf die Selbstachtung, so Becker. Aus der Angst, als unverwechselbare Persönlichkeit nicht wahrgenommen zu werden, letztlich mit dem physischen Ende als bedeutungslos ausgelöscht zu sein, entstehe eine brennende Sehnsucht danach, etwas zu zählen, nicht ohne Sinn auf diesem Planten gelebt, gearbeitet, gelitten zu haben und gestorben zu sein.
Der Mensch ist nun einmal, schreibt Becker, „kein willenloses Tröpfchen Protoplasma, sondern ein Wesen mit einem Namen in einer Welt voller Symbole und Träume und nicht nur voller Materie“. Quellen für Symbole sind für ihn Vorstellungen, Fantasien und Wünsche in Bezug auf sich selbst, aber auch auf eine Welt, die Sinn macht. Daher schaffe sich der Mensch eine Gesellschaft als „symbolisches Handlungssystem“, das mit Ordnung, Stabilität und Dauer über die eigene Lebenszeit hinausreicht.11 Auch Religionen können die Angst vor dem Terror der natürlichen Existenz mildern und das Selbstwertgefühl heben. „Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt. Fürchtet euch also nicht“, sagt Jesus bei Matthäus (10,30-31). Auch die Verheißung eines ewigen Lebens nach dem Tod kann Menschen ihr Leben als wertvoll betrachten lassen.
Aus tiefer Überzeugung: Aber gesellschaftliche Ordnungen sind labil und können zerbrechen, Religionen an der Religionskritik zerschellen. Was dann bleibt, nennt Becker ein Causa-sui-Projekt: Der Mensch muss seine Bedeutung aus sich selbst heraus erschaffen, um durch große Leistungen oder heroische Taten der Menschheit in Erinnerung zu bleiben und sich so Unsterblichkeit zu verschaffen. In seinem letzten Werk „Escape from Evil“ will Becker zeigen, dass die Verleugnung der Sterblichkeit und ein heroisches Selbstbild die Wurzel des menschlichen Bösen darstellen.12
Was einstmals in der Religion jenseits der Realität lag, soll nun in der Realität geschaffen werden: eine perfekte, von der animalischen Entwürdigung gereinigte Welt. Den Erfolg der Nazis als säkularen Heroen führt Becker auf deren Tatkraft zurück, dies durch Endsiege und Endlösungen definitiv herbeiführen zu wollen. Um dazu Menschen und ganze Völker radikal bekämpfen zu können, wird ihnen alles zugeschrieben, wovon sich die Akteure befreit sehen: von der animalischen Existenz. Dies steht für Becker auch hinter dem Genozid an den Juden. Sie müssen vernichtet werden, weil sie, angeblich, krankheitserregendes Ungeziefer sind, Läuse, die man auskämmen muss. Und die Handlanger dieses schmutzigen Geschäfts sehen sich als Helden, die für eine gereinigte Welt alle Opfer bringen und dafür unsterblichen Ruhm erlangen. „Noch unsere Enkel werden uns bewundern“, sagt einer der Männer im Film über die Wannseekonferenz.
Nicht im biologischen, sondern im „symbolischen Menschentier“ liegt für Becker die paradoxe Wurzel des Bösen.13 Damit versucht er, die Tragödie zu erklären, dass Menschen nicht aus bewusster böser Absicht, sondern aus Begeisterung und tiefster Überzeugung, dem Guten zu dienen, schreckliches Unheil anrichten. Es ist nicht die animalische Natur des Menschen, sondern sein Erfindergeist im Dienste eigener Unsterblichkeit, der ein so bitteres Schicksal über seine Mitmenschen bringt.14 Die neuere historische Forschung seit den 1980er-Jahren hat Beckers Thesen bestätigt.
Lange wurden Adolf Eichmann und Co. als Hampelmänner und bloße Befehlsempfänger gesehen, aber sie waren voll Stolz auf ihre Untaten. Dass etwa Eichmann seine ausgeklügelte Vernichtungsmaschinerie aus tiefster Überzeugung betrieben hat, geht aus Gesprächen hervor, die der israelische Polizeihauptmann Avner Werner Less mit Eichmann vor Prozessbeginn in Jerusalem in dessen Zelle geführt hat. Wie Becker wollte auch Less begreifen. Dass sich Eichmann dann aufgrund des erdrückenden Beweismaterials in lauter Lügen verstrickt hat, fasst Less in einem Bild zusammen: „Er war der Apfel, die anderen waren die Schlange.“15
Warum die Juden?
Jesus war Jude, seine Anhänger und Anhängerinnen waren Juden, die Apostel waren Juden. Freilich waren nicht alle Juden mit dem einverstanden, wie Jesus seine jüdische Bibel, Altes Testament genannt, interpretiert hat. Daraus sind innerjüdische Auseinandersetzungen entstanden zwischen Jesus, denen, die sich zu ihm bekannten, und den jüdischen Autoritäten. Die damit verbundenen Polemiken haben dann über Jahrhunderte die christliche Judenfeindschaft bedient. Erst nach der Shoah hat die christliche Theologie damit begonnen, die Texte genauer zu lesen.
Ein Beispiel: In Joh 8,44 heißt es: „Ihr habt den Teufel zum Vater und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt.“ Aber zu wem spricht Jesus? Zu den Juden? Nein, sondern, wie der Vers 31 davor zeigt, zu jenen Juden, „die zum Glauben an ihn gekommen waren: Wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wahrhaft meine Jünger“. Der weitere Text verweist auf Juden, die sich Jesus angeschlossen hatten, aber ohne innere Überzeugung. Diese Stelle ist keine Kritik an den Juden, sondern an halbherzigen, heuchlerischen Christen. Die Lehre daraus: Kein Text ohne Kontext!
Als die christliche Kirche ab dem 4. Jahrhundert auf dem Weg zu einer Weltkirche war, sind ehemals innerjüdische Auseinandersetzungen in Gegensätze zerfallen: hier gute Christen, dort böse Juden. Von da an wurde die jüdische Selbstkritik der Propheten, etwa Jesaja oder Amos, gegen die Juden gerichtet nach dem Motto: Ihr gebt eure Untaten ja selbst zu. Schon Ende des 2. Jahrhunderts hat Meliton, Bischof von Sardes, in seiner Osterpredigt die Juden des Gottesmordes bezichtigt, und das ist zu einem antijüdischen Gemeinplatz geworden. Dort heißt es z.B. „Welch schlimmes Unrecht, Israel, hast du getan? […] getötet hast du den, der dich lebendig gemacht.“16 Verleumdung, Verfolgung und Ermordung von Juden sind die Pflastersteine des Weges der Kirche zur Macht. Erst ab den 1960er-Jahren beginnen die Kirchen ihre Schuld gegenüber den Juden einzugestehen und den unwiderruflichen Bund Gottes mit dem jüdischen Volk anzuerkennen.
Ohne diese lange Geschichte christlicher Judenfeindschaft hätte der Nazi-Genozid an den Juden in der Bevölkerung keinen so großen Beifall finden können. Auch die „Deutschen Christen“, die Hitler bejubelt und aus Jesus einen Arier mit blauen Augen und blonden Haaren gemacht haben, wären nicht so erfolgreich gewesen.17 Die Überzeugung, nur ein judenfreies Europa sei ein gutes Europa, wurzelt in der christlichen Judenfeindschaft und -verfolgung. Dies zur Vollendung zu führen, hatten die Nazis am Wannsee beschlossen, um sich damit selbst ein ewiges Denkmal zu setzen. Das war ihre tödliche Wahrheit.
Der Tod
„Da wird schon sehr viel gestorben“, war meine erste Reaktion auf die Roman-Verfilmung „Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“ (2022). Die Frau des Sterbebegleiters Fred ist schon vor längerer Zeit gestorben. Karla, die Hauptfigur (gespielt von Iris Berben), geht dem Tod entgegen. Dann taucht der junge Phil auf. Er macht eine Arbeit im Auftrag von Karla und ist einfach da, hat keine Scheu, sich in der Nähe einer Sterbenden aufzuhalten wie später auch sein Vater Fred. Ein Film gegen die Verleugnung des Todes, denn genau genommen sitzen wir immer noch der Lüge der Schlange auf: „Ihr werdet nicht sterben“. Ein anständiger Mensch stirbt heute im Krankenhaus oder im Altersheim, jedenfalls nicht vor den Augen anderer Menschen. Der Tod wird ausgegrenzt und mit ihm werden die Sterbenden ausgelagert. Das waren noch Zeiten, als Menschen zu Hause gestorben sind, umgeben von der Familie. Ob geliebt oder verhasst, sie waren nicht allein. Dann wurden sie im Wohnzimmer aufgebahrt, Angehörige und Nachbarn haben bei Kerzenschein die Totenwache gehalten. Sterben und Tod eingebettet in eine würdige Feier. Tempi passati.
Geblieben ist die Angst, einsam sterben zu müssen: Wer betrauert mich und erinnert sich an mich? Wir sind eben Wesen mit einem Namen, sagt Ernest Becker. Sich erinnern, nicht vergessen, ist ein zentrales biblisches Thema. In Psalm 31 (13) klagt der Beter: „Vergessen bin ich, wie ein Toter aus dem Sinn.“ Der Psalm 25 (7) bittet: „Nach deiner Huld gedenke meiner, Herr, denn du bist gütig!“ Auch andere Menschen sind im Blick in Psalm 74 (19): „Gib das Leben deiner Taube nicht dem Raubtier preis, das Leben deiner Armen vergiss nicht!“
Praxis und Poieisis: Im Film ist es Phil, der eine neue Dimension in die Szene einbringt. Er zitiert Gedichte, z.B. von Rilke: „Die Blätter fallen, fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten; […] Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.“18 Der Philosoph Aristoteles hat in seiner Nikomachischen Ethik (VI, 4-5) eine bis heute gültige Unterscheidung getroffen: Praxis und Poiesis. Dabei kann er sich auf zwei verschiedene griechische Begriffe beziehen: práttein (Praxis) und poieĩn (Poiesis), und beide bedeuten: handeln. Aber Praxis meint das praktische Handeln und bezieht sich auf die Hilfe gegenüber den Mitmenschen wie der barmherzige Samaritaner, der den unter die Räuber Gefallenen rettet. Diese Art der Tätigkeit hat ihren Wert im laufenden Vollzug des Helfens. Es gibt einen Spruch von Václav Havel, den ich kaum zu zitieren wage, weil er in der Kurzfassung inflationär gebraucht wird, von christlichen Gemeinden, aber auch von Banken oder Tattoo-Stechern. Die Langfassung: „Hoffnung ist eben nicht Optimismus, ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat – ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht.“19 Bei Karla im Film steht fest, dass es nicht gut ausgeht, aber Da-Sein, Umarmung und die gehaltene Hand helfen und machen Sinn. Dafür steht Fred, der Begleiter.
Anders das poietische Handeln, das darauf ausgerichtet ist, etwas Inneres, ein Gefühl, eine Überzeugung zum äußeren Ausdruck zu bringen. Seit jeher haben Menschen zur äußeren Darstellung gebracht und auch gemeinschaftlich gestaltet, was sie innerlich bewegt. Die poietische Tätigkeit gewinnt ihren Wert aus der ästhetischen Qualität des Produkts und daraus, wie Menschen angesprochen werden. Hier ließe sich von der Wahrheit des Herzens sprechen. Poiesis kann darin bestehen, Bilder zu malen, Lieder zu komponieren, Gedichte oder Romane zu schreiben oder gemeinschaftlich einen Ritus zu gestalten, auch einen religiösen. Dafür steht Phil, der am Ende einen eigens gestalteten Poetry Slam vorträgt, kein Rilke, aber originell. So wie sich die beiden Handlungsformen im Leben eines Menschen nicht voneinander trennen lassen, finden sie auch im Film in den Personen Fred und Phil zusammen.
Keine Versöhnung: Eine Szene im Film fällt scheinbar aus dem Rahmen. Karla ist mit ihrer Schwester hoffnungslos zerstritten. Warum und worüber, wer wem etwas angetan hat, wird nicht erzählt. Aber Fred möchte die beiden miteinander versöhnen und dazu arrangiert er heimlich eine Begegnung auf seiner Terrasse. Ein Flop: Die Schwester tritt auf und alle verlassen die Szene, die etwas über den Sterbebegleiter aussagt: Fred will, dass Karla versöhnt aus der Welt geht. Hat er das in der Ausbildung zum Sterbebegleiter gelernt? Steht dahinter eine christliche Forderung? Projiziert er seine eigene Unversöhntheit mit seiner verstorbenen Frau auf Karla? So könnte Sigmund Freud das sehen. „Wenn man jemandem alles verziehen hat, ist man fertig mit ihm.“20 Dieser Satz von Freud kursiert im Internet unter „weise Sprüche“, aber Freud sieht das ganz anders. Der Spruch bezieht sich auf Otto Rank, seinen Lieblingsschüler. Als Rank beginnt, seine eigene Position zu entwickeln, wird er aufgefordert, zu widerrufen. Rank tut es nicht, und Freud, bitter enttäuscht, ist mit ihm fertig, Beziehung gekappt.
Hat sich zwischen den Schwestern im Film Ähnliches abgespielt? Jedenfalls fühlt sich Fred für Karla verantwortlich und maßt sich an, eine Versöhnung herbeizuführen, die nur Karla selbst initiieren könnte. Dazu müsste den Streitpartnerinnen daran liegen, ihre Beziehung wiederherzustellen. Das wäre die Voraussetzung für Vergebung, woraus eine Versöhnung folgen kann, aber nicht muss.
In den Evangelien wird die Frage, wie oft einem Menschen vergeben werden muss, radikal beantwortet: Siebenmal am Tag, heißt es bei Lukas (17,4). Dies klingt nach Routine, bei der Schuld und Vergebung knallhart aufeinander folgen. Wer nicht bereit ist, mit der Pistole auf der Brust sofort zu vergeben, kann sich auch noch moralische Schelte zuziehen. Ich nenne das den christlichen Kurzschluss. Vergebung und Versöhnung sind jedoch schmerzhafte und oft lange Prozesse. Eine Wahrheit freilich macht die Fluchtszene auf Freds Terrasse unmissverständlich klar: Vergebung und Versöhnung lassen sich nicht erzwingen.
„Was ist Wahrheit?“
Die Schlange kann lügen so viel sie will, aber sie kann nicht verhindern, dass Menschen einander beistehen und dass sie – dichten! Was in der Dichtung gestaltet wird, ist manchmal erfreulich, zuweilen aber auch erschreckend, zeigt jedenfalls eine Einsicht in die Wahrheit über den Menschen. Der Dichter Sophokles sagt es in Kürze: Menschen sind „begabt mit der Klugheit erfindender Kunst“, die bald zum Schlimmen, bald zum Guten sich wenden.21
Die Suche nach Wahrheit ist ein Menschheitsthema. Aber: „Was ist [schon] Wahrheit?“, fragt Pontius Pilatus. Seine Skepsis ist berechtigt. Die Wahrheit, die ganze Wahrheit, bleibt verhüllt unter Lumpen und Fetzen, Uniformen und prächtigen Soutanen. Wer kann sie enthüllen? Vielleicht eine Frage an nächste filmische Produktionen.