VietnamReligionsfreiheit in einer kommunistischen Gesellschaft

Im April 1975 endete der zweite Vietnamkrieg mit dem Sieg des kommunistischen Nordens über den Südvietnam und seinen Verbündeten, die USA. Nach Gründung der „Sozialistischen Republik Vietnam“ im Jahr 1976 reduzierte die Regierung das religiöse Leben im Land auf ein Mindestmaß. Auch die katholische Kirche verlor zahlreiche pastorale, schulische und karitative Einrichtungen. Seit 2008 jedoch entspannt sich das Verhältnis zwischen vietnamesischem Staat und den Religionsgemeinschaften. Diese Entwicklungen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Religionsfreiheit vor Ort nach wie vor erheblich eingeschränkt ist, schreibt A. Pham Van (aus Sicherheitsgründen pseudonym). Der Autor arbeitete als Erwachsenenbildner in der entwicklungspolitischen Bewusstseinsbildung. Er beschäftigt sich intensiv mit der gesellschaftlichen Entwicklung, den Kulturen und Religionen Südostasiens. Der Artikel ist eine gekürzte Fassung des Länderberichts „Religionsfreiheit Vietnam“ des katholischen Hilfswerks „missio“.

Vietnam liegt an der Ostküste der hinterindischen Halbinsel. Im Umkreis von viertausend Kilometern grenzt es an die am dichtesten bevölkerten Gebiete der Erde (China, Indien, Japan und Indonesien). Vietnam selbst ist ein Schmelztiegel vieler Ethnien, Kulturen und Religionen. Das Land weist geografisch, klimatisch und vegetationsmäßig drei unterschiedliche Zonen auf. Nordvietnam wird vor allem durch die Ebene des Roten Flusses und des Schwarzen Flusses sowie zahlreiche Nebenflüsse geprägt. Darüber hinaus beeinflussen Ausläufer des südchinesischen Berglandes in die vietnamesischen Hochebenen die klimatischen Bedingungen. Es gibt große Temperaturunterschiede: heiße und feuchte Sommer sowie trockene Winter. In den wasserreichen Ebenen wird vornehmlich Reis angebaut. Mittelvietnam besteht hauptsächlich aus einem schmalen, lang gezogenen Küstenstreifen. Es wird von jährlichen starken Niederschlägen, Taifunen und Überschwemmungen heimgesucht. Südvietnam wird zum großen Teil von dem zwei Meter über dem Meer gelegenen Schwemmland des Mekongdeltas und seinen zahlreichen Nebenflüssen eingenommen. Es ist der fruchtbarste Teil des Landes, in dem bis zu drei Reisernten im Jahr erwirtschaftet werden können und viele Arten von Obstbäumen wachsen. Vietnam zählt rund 99 Millionen Einwohner. Die Mehrheit von ihnen sind ethnische Vietnamesen (Kinh). Etwa 14,2 Millionen Menschen gehören 53 ethnischen Minderheiten an. Die Bevölkerung Vietnams kann grob in zwei Gruppen unterteilt werden: die Bewohner der Ebenen (größtenteils die Kinh) und die der Bergvölker. Letztere werden bis heute gesellschaftlich benachteiligt.

Die längste Zeit seiner Geschichte wurde Vietnam von fremden Mächten beeinflusst. Seit dem Jahr 111 v. Chr. hatte China durch Infiltrationen und kriegerische Auseinandersetzungen die völlige Abhängigkeit und die Sinisierung Vietnams angestrebt und weitgehend durchgesetzt. Der Einfluss zeigte sich in Sprache und Literatur, Kunst und Architektur. Nach der Unabhängigkeit von China im Jahr 1428 erlebte Vietnam eine relativ ruhige Zeit. Es gab jedoch zahlreiche interne Konflikte und Machtkämpfe zwischen einheimischen Herrscherhäusern. Zwischen 1527 und 1802 wurde das Land zum ersten Mal in Nord und Süd geteilt. In dieser Zeit kamen die ersten europäischen Händler nach Vietnam und die Missionierung durch europäische Missionare begann. Im Jahr 1802 ernannte sich Gia-Long zum Herrscher, der die Teilung in Nord und Süd beendete. Zwei seiner Nachfolger begannen mit Christenverfolgungen, die Anlass zu französischen militärischen Interventionen gaben. Von 1858 an eroberte und besetzte Frankreich nach und nach Vietnam, bis es ein Protektorat unter französischer Verwaltung wurde.

Während des zweiten Weltkrieges besetzte Japan Vietnam bis zur Kapitulation 1945. Frankreich kehrte als Besatzer zurück. Verschiedene Widerstandsgruppen, koordiniert oder unkoordiniert, versuchten das Land zu befreien. Unter ihnen stach Ho Chi Minh hervor, ein bekennender Kommunist, der den Guerillakrieg gegen die französische Armee führte. Ho Chi Minh formierte die erste nordvietnamesische Regierung und erklärte die einseitige Unabhängigkeit des Landes. Nach der militärischen Niederlage bei Dien Bien Phu 1954 und dem Rückzug Frankreichs wurde Vietnam wieder geteilt. Im Norden herrschte die Kommunistische Partei; der Süden optierte für die Republik als Staats- und Regierungsform. Der katholische Präsident Ngo Dinh Diem wurde 1963 bei einem Militärputsch ermordet. Nach dieser von den USA zumindest befürworteten Ermordung des Präsidenten lag die Regierungsgewalt bei wechselnden Militärmachthabern. Gleichzeitig infiltrierte der kommunistische Norden den Süden, sowohl mit Guerillakämpfern als auch mit regulären Kampftruppen. Der Süden wurde von den USA militärisch unterstützt, was den Sieg des Nordens nicht verhinderte. Der Krieg forderte mehr als eine Million Tote sowie bis zu einer Million Menschen, die durch das von den USA eingesetzte Giftgas Agent Orange behindert oder gesundheitlich stark eingeschränkt waren und sind.

Das Land wurde 1976 unter dem Namen „Sozialistische Republik Viet-Nam“ in einem Ein-Parteien System wiedervereinigt. Im Jahr 2014 trat eine neue Verfassung in Kraft, die das Machtmonopol der Kommunistischen Partei als Legislative, Exekutive und Judikative zementierte. Ein kritisches Engagement von Bürgerinnen und Bürgern ist schwierig, da Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit von der Regierung zwar grundsätzlich gestattet, aber stark eingeschränkt werden.

Multireligiöses Land

Vietnam ist ein multireligiöses Land. Es wäre irreführend, den Buddhismus als natürliche Religion der Vietnamesinnen und Vietnamesen zu bezeichnen. Im Volk sind animistische Naturreligionen und die Ahnenverehrung verwurzelt, die auf Buddhismus, Konfuzianismus und Taoismus einwirkten. Im Laufe der Zeit wurde – je nach Überzeugung und Neigung der jeweiligen regierenden Herrscher – eine der drei genannten Religionen zur Staatsreligion ausgerufen. Zeitweise wurden alle drei als gleichberechtigt betrachtet.

Naturglauben und Ahnenkult: Die religiösen Praktiken der vietnamesischen Landbevölkerung zeugen von einer animistischen Weltanschauung. Demnach ist die Natur von Geistern belebt, die auf das Leben der Menschen einwirken. Verschiedene Bereiche des vietnamesischen Lebens und praktizierte Naturkulte legen Zeugnis davon ab: Baum- und Steinkulte in der Nähe von Hue, Walfischkult an der mittelvietnamesischen Küste, Agrar- und Totenkulte in den Bergregionen.

Konfuzianismus: Der Konfuzianismus hielt sich vom 15. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts als Staatsreligion. Mit dem Verschwinden des Herrscherhauses hat der Konfuzianismus seine organisatorische Mitte verloren. Wie in China und Korea bestimmt der Konfuzianismus immer noch das religiöse, soziale und individuelle Leben der Vietnamesinnen und Vietnamesen, und zwar unabhängig davon, ob eine Person christlich, buddhistisch oder atheistisch ist.

Taoismus: Noch vor Konfuzius lehrte Lao Tse seine Metaphysik des vollkommenen Gleichklangs der Menschen mit der Natur. Die Religion basiert auf einer mutterrechtlichen Ordnung, der auch die ursprüngliche vietnamesische Mentalität nahesteht. Auffallend ist die weltanschauliche Nähe zum Buddhismus. In Vietnam lebt der Taoismus in zahlreichen volkstümlichen Formen, Anschauungen und Gebräuchen.

Buddhismus: Etwa im zweiten Jahrhundert n. Chr. kam der Buddhismus durch chinesische Indienpilger nach Vietnam und fand große Verbreitung. Vom 11. bis 15. Jahrhundert wurde er offizielle Landesreligion. Zeitweise wurden vietnamesische Herrscher buddhistische Mönche. Nach buddhistischem Glauben führt die Entsagung aller weltlichen Wünsche als Ursachen des menschlichen Leids zum Verlassen dieser irdischen Scheinwelt und zum Eingehen ins Nirvana. Der Buddhismus moderner Prägung legt großen Wert auf soziale Betätigung und Bildungsarbeit. Eine buddhistische Hochschule wurde in Saigon ins Leben gerufen sowie das Institut zur Glaubensverbreitung.

Christentum: Vom Ende des 16. bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts begleiteten europäische Seelsorger die Handelsschiffe und deren Besatzungen in Richtung Ost- und Südostasien, darunter Vietnam. 1615 begann eine systematische Missionierung durch die Jesuiten. Ab 1800 kam es infolge der Verbindungen einiger Missionare mit den französischen Kolonialherren zu Christenverfolgungen.

Vietnam erlebte im Laufe seiner Kirchengeschichte häufige Konflikte zwischen Staat und Kirche. Besondere Ausmaße nahm der Streit um den Ahnenkult an. Das Verbot des Ahnenkultes durch Papst Clemens XI. 1704 führte zur Entfremdung der katholischen Vietnamesinnen und Vietnamesen von ihrer tief verwurzelten Beziehung zu ihren Ahnen. Alle Praktiken der Ahnenverehrung wurden von vielen Missionaren und von einigen Päpsten als abergläubische Praktiken betrachtet. Dieses Missverständnis durch Rom wurde für die regierenden Herrscher in Vietnam Anlass, die christliche Religion als kulturellen Verrat anzusehen und vietnamesische Christen als Feinde der Nation zu betrachten. Erst am 8. Dezember 1939 hob Papst Pius XII. das Verbot des Ahnenkultes auf. In Vietnam ließ die Bischofskonferenz nach Zustimmung von Rom den Ahnenkult 1965 wieder zu.

Die Geschichte der protestantischen Kirche in Vietnam geht auf das Ende des 19. Jahrhunderts zurück. Missionsbemühungen von französischen, englischen und nordeuropäischen Missionaren waren zunächst erfolglos, bis in der Neuzeit insbesondere amerikanische Missionare für eine steigende Anzahl von Konvertitinnen und Konvertiten sorgten. Seit 1911 formieren sich evangelische Christinnen und Christen in einer strukturierten Organisation. Zurzeit zählen sie ca. 1,5 Millionen Mitglieder, die zumeist Pfingstchristen oder Mennoniten sind. Sie sind einer strengen Kontrolle und Schikanen durch staatliche Organe ausgesetzt. Generell standen und stehen sie unter dem Verdacht, dem Staat nicht wohlgesonnen zu sein. Die seelsorgerische Betreuung durch evangelische Pastoren wurde auf vielfache Weise torpediert. Seit 1975 sind fast alle protestantischen Christinnen und Christen unter der staatlich beeinflussten Evangelischen Kirche Vietnams zusammengefasst, die 2001 ihre offizielle Registrierung erhielt.

Islam: Schätzungsweise 60.000 Musliminnen und Muslime diverser ethnischer Gruppen leben überwiegend im Mekong-Delta und im Hochplateau Mittelvietnams. Auch in der Ho-Chi-Minh-Stadt gibt es eine Moschee.

Hinduismus: Indische Einwanderer und Einwanderinnen brachten den Hinduismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts nach Vietnam. In der Ho-Chi-Minh-Stadt gibt es zwei hinduistische Tempel, die jeweils einer anderen Gottheit geweiht sind. Nach 1975 verließen fast alle indischen Bewohnerinnen und Bewohner das Land. Teile der ethnischen Minderheit Cham in den Bergregionen gehören dem Hinduismus an.

Weitere Religionen: Neben den oben erwähnten Religionen existieren in Vietnam mehrere kleinere Religionsgemeinschaften. Sie bringen Elemente verschiedener Religionen wie des Buddhismus, des Konfuzianismus, des Islam, des Christentums und des Ahnenkultes zusammen und lehren etwa die Unsterblichkeit der Seele, den unbedingten Schutz der Lebewesen, ein moralisches Leben oder die Barmherzigkeit.

Verfassungsrechtlicher Rahmen
der Religionsfreiheit

In der vietnamesischen Verfassung von 2013 ist die Religions- und Glaubensfreiheit für alle Bürgerinnen und Bürger festgeschrieben. Die Verfassung besagt, dass alle Religionsgemeinschaften vor dem Gesetz gleich sind (Artikel 24). Der Staat soll die Religions- und Glaubensfreiheit respektieren und schützen. Die Religionsfreiheit kann aber aus Gründen der nationalen Sicherheit und Ordnung eingeschränkt werden (Artikel 14, Absatz 2).

Basierend auf der neuen Verfassung erließ die Regierung 2016 ein Religionsgesetz, welches seit Anfang 2018 gilt. Es besagt, dass sich alle Religionsgemeinschaften registrieren lassen müssen. Nach erfolgreicher Registrierung gelten sie als legal und dürfen ihre religiösen Aktivitäten planen und durchführen – unter der Voraussetzung, dass diese jeweils genehmigt werden und dass die Religionsgemeinschaften den staatlichen Behörden über die Aktivitäten Bericht erstatten. Bei allen Aktivitäten und Programmen gilt die Generalklausel des Verbots von Handlungen gegen die „nationale Sicherheit“, „nationale Souveränität“, „öffentliche Sicherheit und Ordnung“ sowie des „Missbrauchs demokratischer Rechte“. Diese Klauseln geben Spielraum für eine willkürliche Interpretation von Gesetzen und führen zu Verurteilungen von kritischen Bürgerinnen und Bürgern durch staatliche Behörden. Die Ausübung religiöser Praktiken ist in der heutigen Praxis für registrierte Religionsgemeinschaften mehr oder weniger problemlos.

Insbesondere Angehörige von Religionsgemeinschaften, die keine Registrierung beantragt oder erhalten haben, berichten von verschiedenen Formen staatlicher Diskriminierungen und Übergriffen. Bei dem Versuch, sich registrieren zu lassen, treten für neugegründete Religionsgemeinschaften Probleme auf. Sie werden von den Behörden hingehalten und blockiert. Wie und ob sich die Religionsgemeinschaften zu politischen Themen äußern, ist dabei für die Behörden wichtiger als die Glaubensinhalte an sich. Auch werden die neugegründeten Gemeinschaften oft dazu gedrängt, sich als Teil von schon bestehenden Religionsgemeinschaften registrieren zu lassen.

Die katholische Kirche

Der Vatikan errichtete am 24.11.1960 per Dekret die eigenständige katholische Hierarchie Vietnams. In dem vom kommunistischen Regime beherrschten Norden des Landes begann für die katholische Kirche eine leidvolle Zeit. Knapp über eine Million Menschen floh von Nord- nach Südvietnam. Etwas mehr als 50 Prozent von ihnen waren katholische Christinnen und Christen. Der prozentuale Anteil der geflohenen Kleriker war wesentlich höher. Auch mehrere Bischöfe flohen mit ihren Gläubigen. Die Priester, Theologen, Ordensleute und Gläubigen, die blieben, wurden unter Hausarrest gestellt oder inhaftiert, etliche von ihnen starben im Gefängnis.

In Südvietnam erlebte die katholische Kirche demgegenüber eine blühende Zeit. Die Kirche wuchs durch die Ankunft katholischer Flüchtlinge aus dem Norden stark an. Auch die Zahl der Konversionen stieg an. Die Kirche betrieb zahlreiche Bildungseinrichtungen, die nicht nur Katholikinnen und Katholiken, sondern Kindern und Jugendlichen aus allen Bevölkerungsgruppen offenstanden.

Der Vietnamkrieg endete am 30.04.1975 mit dem Sieg der kommunistischen Befreiungsarmee über die Republik Südvietnam und die USA. Nord- und Südvietnam wurden 1976 offiziell wiedervereinigt. Die Politik der kommunistischen Einheitspartei führte trotz Versprechungen und Bekundungen von gutem Willen zu einer schweren Vertrauenskrise in der Bevölkerung. Zahlreiche Mitglieder der alten republikanischen Regierung und ihrer Armee samt katholischen Armeeseelsorgern wurden in Umerziehungslager oder Gefängnisse gesteckt. Es entstand im südlichen Teil des Landes ein Klima des Abwartens und Beobachtens, auch seitens der katholischen Bevölkerung. Manche katholischen Würdenträger hatten unmittelbar nach Kriegsende die neue Regierung wohlwollend willkommen geheißen und den Dialog sowie die Zusammenarbeit der Kirche mit den neuen verantwortlichen Machthabern angeboten. Staat und Partei griffen dieses Angebot nicht auf. Erst nach mehreren Jahrzehnten durften sich die Bischöfe Süd- und Nordvietnams 1980 zu ihrer ersten Bischofsversammlung treffen. Der erste gemeinsame Hirtenbrief der wiedervereinigten Bischofskonferenz widmete sich dem Hauptanliegen „Kirche inmitten der Gesellschaft“. Darin wurde betont, dass die Kirche mit der Heimat verbunden und bestrebt ist, einen aktiven Beitrag zur Entwicklung des Landes zu leisten. Der Hirtenbrief ist bis heute noch ein Signal der Bereitschaft zum Dialog zwischen Kirche und Staat. Damit die Kirche ihren Beitrag leisten kann, müssen jedoch entsprechende Voraussetzungen und Rahmenbedingungen gegeben sein. Diese wurden aus Misstrauen oder Angst noch nicht geschaffen.

Das starre zentralwirtschaftlich organisierte System staatlich gelenkter Betriebe und Genossenschaften führten zu einer großen Mangelwirtschaft. Ende der 1970er-Jahre drohte eine Hungersnot. Um die drohende Hungerkatstrophe abzuwenden und die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben, vollzog Vietnam 1986 einen radikalen Kurswechsel. Privatwirtschaftliche Unternehmen und Aktivitäten wurden zugelassen. Staatlich gelenkte Kolchosen wurden abgeschafft. Privatpersonen und -unternehmen durften auf eigene Kosten Geschäfte betreiben. Nationale und ausländische Investitionen flossen in den vietnamesischen Wirtschaftskreislauf. Eine Boom-Phase setzte ein. Die wirtschaftliche Öffnung ging und geht jedoch nicht Hand in Hand mit einer politischen Öffnung.

Im Jahr 2013 trat das Gesetz über Grund und Boden (GSGB) Vietnams in Kraft. Im Artikel Vier wurde festgehalten, dass Einzelpersonen und Institutionen zwar Grund und Boden besitzen dürfen. Sie können aber lediglich deren Nutzungsrecht erwerben. Dieses Gesetz führt bis zum heutigen Tag zu Unklarheiten, Ungewissheiten und Konflikten zwischen staatlichen Behörden und den Bürgerinnen und Bürgern, NGOs und Religionsgemeinschaften. Nach 1975 hatte die katholische Kirche in Vietnam zahlreiche Besitztümer wie Grundstücke, Schulen, Krankenhäuser, Infrastrukturen der Ordensgemeinschaften und Pfarreien verloren. Nach mehreren Jahrzehnten fordert die Kirche manche übereigneten Einrichtungen samt den dazugehörigen Grundstücken und Anlagen zurück, um sie für ihre eigenen Aktivitäten in Pastoral und Bildung zu nutzen. Der Staat hat die beantragten Rückgaben stets im Sinne des GSGB abgelehnt. Auch andere Religionsgemeinschaften in Vietnam haben Schwierigkeiten, ausreichende Flächen für Gemeinde- und Gotteshäuser zu finden.

Den Religionsgemeinschaften ist es nicht erlaubt, allgemeinbildende Schulen wie Grundschulen, Gymnasien, Hochschulen und Universitäten in eigener Trägerschaft zu gründen und zu betreiben. Lediglich Kindergärten und Kindertagestätten sind den Pfarreien und den Ordensgemeinschaften gestattet. In der Regel geht es hier um Alphabetisierung, Lesen, Schreiben und Rechnen. Im Gesundheitsbereich dürfen Religionsgemeinschaften keine Krankenhäuser oder Gesundheitsstationen betreiben. Im Gegensatz dazu ist es ausländischen Investoren und Organisationen erlaubt, private Schulen – von Kindergärten bis zu Universitäten – und private Krankenhäuser zu unterhalten.

In Vietnam gehören die meisten Menschen einer Religion oder einer Glaubensgemeinschaft an. Bei der praktischen Umsetzung, den Dialog zwischen den Religionen voranzubringen, hakt es häufig. In vielen Fällen besteht der Dialog lediglich aus gegenseitigen Besuchen an den großen religiösen Festtagen der jeweiligen Religionen, wie z.B. beim christlichen Weihnachtsfest. Aber es gibt auch nachhaltigere Ansätze wie im Erzbistum Saigon. Hier wurde 2009 die Kommission „Interreligiöser Dialog“ geschaffen. Sie hat folgende Aufgaben: Begegnung mit Gläubigen anderer Religionen; Studium der Lehren und Praktiken anderer Religionsgemeinschaften; Gegenseitige Besuche, um Freundschaften zu schließen und um danach gemeinsame konkrete Vorhaben im sozialen sowie karitativen Bereich zu entwickeln und durchzuführen; Aufbau von Plattformen und Durchführung von Seminaren zu relevanten Themen.

Auch wurde in Saigon eine gemeinsame interreligiöse Gesundheitsstation mit ehrenamtlich arbeitendem medizinischem Personal gegründet, um mittellosen Patientinnen und Patienten kostenfrei Untersuchungen und Behandlungen anbieten zu können. 2021 wurde Vietnam von der Corona-Pandemie schwer getroffen. Krankenhäuser, Kliniken und spontan errichtete Gesundheitscontainer waren überlastet. Inmitten der Katastrophe richtete die Bischofskonferenz einen Appell an alle Katholikinnen und Katholiken, alles Mögliche zu tun, um Menschen zu helfen. Eine nie dagewesene Hilfskampagne zog durch das ganze Land. Tausende Priester, Ordensleute, Laiinnen und Laien engagierten sich als freiwillige Helfer für den Einsatz in den Krankenhäusern. Bei einer großen Veranstaltung Ende 2021 in Saigon brachten Vertreter staatlicher Organe und ärztlicher Verbände ihren Dank an alle Religionsgemeinschaften der Stadt zum Ausdruck.

Entwicklung und Frieden

48 Jahre nach der Machtübernahme durch das kommunistische Regime hat die Kirche unzählige Gespräche und Verhandlungen geführt sowie Appelle, Kritiken und Petitionen eingebracht. Darüber hinaus hat die Kirche mehrfach durch konkrete Aktivitäten sowie ihr Engagement in Not- und Katastrophenfällen bewiesen, dass sie einen verlässlichen Beitrag zur Entwicklung des Landes leistet. Dadurch haben die politischen Machthaber eingesehen, dass die katholische Kirche keine politische Institution ist, welche die Regierung ersetzen will. Nach und nach wächst ein gegenseitiges Miteinander zum Wohle des Landes.

Immer mehr Priesterseminare werden zugelassen. Eine Hochschule für Theologie wurde 2015 mit der Genehmigung der Regierung unter dem Namen „Catholic Institute of Vietnam“ gegründet. Im Gegensatz zu den Anfängen der Öffnungspolitik verfügt die Kirche heute über die Freiheit, die Ausbildungsprogramme sowohl in dieser Hochschule als auch in den Priesterseminaren selbst zu gestalten und Lehrkräfte zu rekrutieren. Das anfänglich obligatorische Lehrfach über den Marxismus-Leninismus wurde abgeschafft. Die Auswahl der Seminaristen und der Weihekandidaten erfolgt heute ohne Einmischung staatlicher Behörden.

In Anbetracht der sich stetig verbessernden Beziehung zwischen der Kirche und dem Staat in Vietnam sowie zwischen dem Vatikan und der vietnamesischen Regierung erscheint die Hoffnung realistisch, dass die katholische Kirche in Zukunft einen noch größeren Beitrag zur Entwicklung des Landes und zum Wohle der Bevölkerung leisten kann. Voraussetzung ist das Recht, auch in der Schulerziehung und im Gesundheitswesen aktiv und in eigener Trägerschaft tätig zu werden. Da diese beiden Bereiche bis heute große Defizite aufweisen, sind hier dringend Anstrengungen möglichst vieler gesellschaftlicher Gruppierungen erforderlich.

Partei und Staat sehen keine Gefahr mehr seitens der Religionsgemeinschaften, schon gar nicht von Seiten der katholischen Kirche. Für den Staat, für die Bevölkerung und für die Kirche sollte einsichtig sein und bleiben: Ein Mehr an Religionsfreiheit ist ein Mehr an Entwicklung und Frieden.
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