Auf einer abstrakten Ebene akzeptieren die meisten Menschen Konflikte als unvermeidlichen Teil des Lebens. Konflikte gibt es in der Familie, in Beziehungen, am Arbeitsplatz, zwischen Organisationen – und zwischen Staaten. Häufig sind Konflikt-Situationen unübersichtlich. Viele Emotionen sind im Spiel, und meistens fehlt eine für alle akzeptable Lösung. Mit Krieg als der Extremform von Gewalt haben die meisten Menschen bei uns keine direkte Erfahrung mehr, und das ist eine gute Nachricht. Viele Menschen kennen aber häusliche Gewalt, entweder in ihrer eigenen Familie oder aus der Nachbarschaft. Wenn der Konflikt voll im Gange ist: Wann beginnen Sie, über Versöhnung zu sprechen? Wenn Sie verbale Gewalt in der Nachbarwohnung hören: Was tun Sie?
Aus einer christlichen Perspektive sprechen wir recht rasch über Versöhnung, weil es bei uns zur biblischen DNA gehört: Versöhnung mit uns selbst, mit anderen Menschen, mit der Schöpfung, mit Gott. Wir wissen aus unserer Tradition, dass der Prozess der Versöhnung notwendig ist, um mit den Folgen eines Konflikts umzugehen und Traumata zu verarbeiten. Versöhnung ist anspruchsvoll. Es ist mehr ein Weg als nur ein einzelner Moment der Entscheidung. Der Weg von Österreich in die Ukraine ist nicht sehr weit, nur 600 Kilometer. Ähnlich ist es mit Bosnien: 400 Kilometer. Bevor ich Jesuit wurde, habe ich für das Österreichische Rote Kreuz gearbeitet. Ich bin oft nach Bosnien gereist, während und nach dem Krieg. In diesem Frühjahr war ich für drei Tage in der Ukraine, um dort die fünf Jesuiten in Lemberg (Lviv) zu besuchen, gemeinsam mit unserem Provinzial Bernhard Bürgler SJ. Während unseres Besuchs in der Ukraine wäre es völlig unpassend gewesen, über Versöhnung zu sprechen. An unserem Ankunftstag wurde die Stadt Lemberg (750.000 Einwohner, dazu noch 250.000 intern Vertriebene) mit Marschflugkörpern bombardiert. Den ganzen Tag über haben wir in der Stadt Sirenen gehört, und zu Mittag hörten wir sechs große Explosionen. Wie hätten wir da über Versöhnung sprechen können, wenn die Gewalt in der Stadt so präsent war? Die Erlebnisse bei der Reise Ende Juli, gemeinsam mit Christian Braunigger SJ von „Jesuiten weltweit“, nach Lemberg, Czernowitz und Ivano-Frankivsk waren ganz ähnlich, einschließlich Luftalarm.
Meine Erfahrung in Bosnien hat mich die Bedeutung von Frieden und Versöhnung gelehrt. Aber was kann man während eines Krieges zwischen Staaten tun? Was tun, wenn man nicht unmittelbar im Kriegsgebiet wohnt und doch merkt: Das geht mich etwas an? Am wichtigsten ist es, die Situation an Ort und Stelle zu kennen. Wenn möglich, sollte man hinreisen. Das ist das beste Mittel, um von politischen und militärischen Ferndiagnosen wegzukommen. Es ist ein Zeichen der Solidarität, in die Ukraine, in die Republik Moldau, nach Polen oder in die Slowakei zu reisen.
Sich selbst in Hilfsprojekte zu involvieren ist anstrengend und gibt zugleich Energie. Wir alle haben Möglichkeiten zu helfen: bei Behördenwegen mit geflüchteten Menschen, durch die Organisation eines kleinen Sprachkurses oder durch Fundraising für Verbandmaterial. Für die Einzelnen, denen dadurch geholfen wird, bedeutet das sehr viel. Dabei ist allen zu helfen, nach dem Maß der Not – und nicht nur einer Gruppe. Aufs große Ganze geblickt, sind die vielen kleinen Hilfsprojekte wesentlicher Bestandteil der humanitären Hilfe, auch quantitativ. Sie sind die Zivilgesellschaft.
Die Perspektive der Opfer einzunehmen, das ist für Christinnen und Christen wesentlich. Wenn Opfer beschuldigt werden, dann braucht es ein klares Wort. Das Schweigen hilft nur den Tätern. Auch wenn es um politische Einschätzungen geht, ist es wichtig, nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg Vorschläge zu formulieren. Man merkt dabei schnell, wem es nur um eigene Interessen geht.
Ein Gericht für die Täter: das ist für die Opfer sehr wichtig. Am Raketenbeschuss einer Stadt wie Lemberg sind viele Personen beteiligt. Um Gerechtigkeit herzustellen, braucht es ein Gericht, die Verurteilung der Täter und eine Wiedergutmachung der materiellen Schäden. Freiheit, Demokratie und Menschenrechte müssen verteidigt werden, auch bei uns. Handelsbeziehungen allein reichen nicht. Aus unserer Geschichte wissen wir, dass der Zivilisationsbruch des Krieges möglich ist, auch heraus aus einer scheinbar wohlgeordneten und gebildeten Gesellschaft. Die UNO-Charta setzt auf die Stärke des Rechts, nicht auf das Recht des Stärkeren.
Versöhnung braucht ein Ende der Gewalt, Reue und Wiedergutmachung. Die Religionsgemeinschaften, die kirchlichen Strukturen und die Zivilgesellschaft können dazu beitragen. Ihre Kraft sollte man nicht unterschätzen, weil sie nahe bei den Menschen sind und oft zu einem internationalen Netzwerk gehören. Wenn ich die Menschen in der Ukraine gefragt habe, wofür wir beten sollen, dann war ihre Antwort klar: Für einen gerechten Frieden, für die Freiheit unseres Landes und für die Toten.