Woke (engl. für „wachsam“) meint die wachende Sorge um ausgegrenzte und benachteiligte Menschen: wegen ihrer Ethnie oder ihrer Religion, wegen ihres Geschlechts oder einer Behinderung, wegen ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer minoritären politischen Meinung. Der woke Mensch bemerkt alle Diskriminierung und kämpft gegen sie. Der Begriff war ursprünglich positiv besetzt, wurde aber in letzter Zeit mehr und mehr zum Schimpfwort gegen Linke oder vermeintlich Linke, denen vorgeworfen wird, sie würden sich zu sehr um fremde Menschen kümmern und dabei ihre Gemeinschaft, ihre Familie oder ihr Volk vernachlässigen, oder sie würden, indem sie gegen eine Ausgrenzung kämpfen, andere Ausgrenzungen übersehen oder gar neue schaffen. Woke – ursprünglich gelesen – ist freilich eine sehr christliche Haltung.
Links meint im politischen Diskurs grundsätzlich eine Option, die soziale Gerechtigkeit für alle will, insbesondere für Benachteiligte, in einem universalen Sinn. Meist bevorzugen Linke staatliche Ordnungen und Wirtschaftsstrukturen, die so umverteilen, dass auch Marginalisierte und Arme ihren Anteil an Besitz und Bildung, an Arbeit und Partizipation bekommen. Links meint auch: vertrauend auf Fortschritt – dieser sei irdisch für alle möglich. Links wird allerdings oft mit dem früheren Sozialismus sowjetischer Prägung verbunden, der diktatorisch, eng ideologisch, atheistisch, unterdrückerisch und kaum gerecht agierte – diese Linke wird heute fast überall zurecht heftig abgelehnt. Links im ursprünglichen Sinn ist dem woken ähnlich und sicherlich ebenfalls christlich.
Christlich ist eine Politik, wenn sie nicht nur den eigenen Stamm – von Gott auserwählt und privilegiert – fördert, sondern alle Völker: so schon das Alte Testament, das sich vom Heilspartikularismus weitet zu einem Heilsuniversalismus – alle Völker wallfahren in der Endzeit zum Zion und erfahren dort Rettung und Heil (Jes 2,2-5). Das Neue Testament übernimmt diese Weitung: Jesus meinte zuerst, „nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt“ zu sein (Mt 15,24), lernte aber, dass auch Heiden gläubig, gerufen und erlöst sind. Die junge Kirche wird vom Auferstandenen „zu allen Völkern“ gesandt (Mt 28,19). In Christus sind alle eins: Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Mann und Frau (Gal 3,28). Das Reich Gottes ist „Gerechtigkeit, Frieden und Freude im Heiligen Geist“ für alle (Röm 14,17). Das Christliche ist sicherlich – im jeweils ursprünglichen Sinn – sowohl woke wie links.
Kürzlich veröffentlichte die amerikanische Philosophin Susan Neiman ein viel diskutiertes Buch: Links ist nicht woke (Berlin 2023). Sie meint, Woke seien heute nur für zwei Identitäten wachsam: race und gender. Beide erhielte man durch Geburt. Dahinter stehe die Annahme, dass wir eine wirklich tiefe Verbindung nur mit Menschen haben, die unserem Stamm angehören. Eine Art Tribalismus kehre damit bei Woken ein: Nur für den eigenen Stamm und das eigene Geschlecht sei man wachsam, fühle sich verbunden, fördere Recht und Gerechtigkeit. Damit seien die Woken allerdings rechts zu verorten – aber ist der Vorwurf Neimans richtig? Woke setzen sich doch gerade für die diskriminierten Anderen ein. Ja, ein Tribalismus wäre rechts – siehe etwa die Migrationspolitik einiger Linker, besonders jener, die sich derzeit von der Partei „Die Linken“ abspalten. Das Unterscheidende zwischen rechts und links ist der Universalismus: Wirklich links – und christlich – sind jene, die universal für Marginalisierte, für Vertriebene und für Opfer von Kriegen und Gewalt Gerechtigkeit schaffen wollen. Rechts wäre auch – so Neiman zu Recht –, statt auf Gerechtigkeit auf Macht zu setzen: Der starke autoritäre Staat, die überlegene Ethnie usw. setzen mit ihrer größeren Macht ihre Interessen und Vorteile zum Nachteil Anderer durch. Hingegen wäre links, die Macht der Starken und Reichen zu kontrollieren, sie zu zähmen und sie auszurichten – auf das wirkliche Ziel hin: universale Gerechtigkeit.
Nochmals zum Christlichen: Ein Kriterium für christliche Politik ist der derzeit unpopulär gewordene ethische Universalismus: Alle Menschen sind zu Frieden und Gerechtigkeit gerufen – die Idee der einen Menschheit und der universalen Menschenrechte wurde in der Aufklärung formuliert, ist aber zuerst biblisch. Christen haben den Auftrag, Güter und Wohlstand allen zugänglich zu machen. Krieg und Gewalt gegen Völker, Ethnien oder Minderheiten aller Art sind in fast jedem Fall – außer verteidigend gegen Aggressoren – verwerflich. Übrigens ist der Vorwurf, Universalismus sei rein westlich und kolonialistisch, falsch, wie Neiman mit zahlreichen außereuropäischen Texten belegt.
Christlich ist auch, gegen den oft soziobiologisch oder evolutionspsychologisch begründeten Egoismus einen grundsätzlichen Altruismus der Menschen zu behaupten: Aus freiem Willen ist der Mensch fähig und willig, auf eigene Vorteile zu verzichten und sich für Andere – für Schwache und Leidende, für alle – einzusetzen, notfalls unter Preisgabe seines Lebens. So kann der Mensch Fortschritt für alle schaffen, hin aufs Reich Gottes, das hier nur fragmentarisch und verhüllt, dort in Fülle entsteht.