Kirche in der Pubertät

Eine mündliche Abitur-Prüfung im Fach Religion geht mir nicht aus dem Sinn. Sie liegt einige Jahre zurück. „Ist die Kirche im Kinderglauben stecken geblieben?“ lautete die ungewöhnliche Fragestellung. Die Schülerin hatte sie selbst vorgeschlagen. Wir durften auf die Präsentation gespannt sein. Ihre These lautete: „Nein, die Kirche ist mit ihrem Glauben nicht in den Kinderschuhen stecken geblieben, sondern in der Pubertät.“

Zur Begründung der These bezog sich die Schülerin auf das Schema der Entwicklung des religiösen Urteils nach Fritz Oser und Paul Gmünder. Die beiden Schweizer Theologen versuchen, die Frage zu beantworten, wie die Autonomie Gottes mit der Autonomie des Menschen zusammen gedacht werden kann. Dafür entwickeln sie ein Modell von fünf Stufen: 1. Orientierung an absoluter Heteronomie; Alter: 0-8: Die Person sieht sich ganz in der Geborgenheit und Abhängigkeit von Gott. 2. Orientierung an relativer Autonomie; Alter: 8-12: Eine Beeinflussung Gottes durch den Menschen nach dem Prinzip von do-ut-des ist möglich. 3. Orientierung an absoluter Autonomie; Alter: 12-16: Gott und Mensch handeln beide autonom, in voneinander getrennten Welten. Transzendenz wird zwar nicht geleugnet, aber es wird ihr ein ferner Ort zugewiesen. Diese deistische Phase geht einher mit der Ablehnung von Erziehungsmächten und Autoritäten. 4. Gott ist die Bedingung der Möglichkeit von autonomem Handeln des Menschen; Alter: ab 16: Gott wird wieder an die Immanenz vermittelt. Religiosität wird erwachsen. 5. Integration von göttlicher und menschlicher Autonomie: Transzendenz und Immanenz durchdringen einander, das Subjekt der religiösen Erkenntnis findet auch ohne Anbindung an Gemeinschaft oder Institution in die unio mystica (vgl. Alexander Schimmel: Die Theorie des religiösen Urteils. München 2008).

Die Schülerin führte nun aus, dass das Leben in der Kirche, wie sie es erlebt, meist auf der deistischen Stufe (Stufe 3) zurückgeblieben ist: Gott wird zwar nicht geleugnet, aber Gott ist weit entfernt vom Leben. Gott wird einmal in der Woche im Gottesdienst besucht, aber während der Woche kommt er nicht vor. Die religiöse Sprache wird in der Liturgie gesprochen, im Alltag wird eine andere Sprache gesprochen. So weit, so gut. Der Prüfer fragte nach, an welcher Stelle des Entwicklungsschemas sich die Schülerin selbst einordnen würde. Antwort: An der Schwelle von 3 zu 4. Und was habe ihr geholfen habe, die deistische Phase langsam hinter sich zu lassen? Antwort: Die historisch-kritische Methode.

Es lohnt sich, bei dieser Antwort zu verweilen. Zunächst: Die Kirche ist in der Pubertätsphase hängen geblieben. Das ist zugegebenermaßen sehr verallgemeinernd formuliert. Aber es hilft, bestimmte Phänomene zu verstehen, etwa den Typus des „Religiös-Distanzierten“, wie ihn die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD kürzlich charakterisierte. Die meisten Mitglieder dieser Gruppe gehören sogar einer Kirche an, nicht wenige sind aber auch konfessionslos. Pubertäre Religiosität reicht also in die säkulare Gesellschaft hinein. Daraus ergeben sich zwei mögliche Konsequenzen: Entweder man richtet sich in der deistischen Phase ein, oder man kehrt aus Sehnsucht nach mehr religiöser Erfahrung in die beiden vorhergehenden Phase zurück. Solche Rückwendung ist mit Befreiung aus deistischer Distanz zu Gott und zugleich mit Immunisierung gegen Kritik verbunden. So erklärt sich die Attraktivität autoritärer Gruppen in und am Rande der Kirche, gerade für junge Menschen. So erklärt sich aber auch, warum erwachsen gewordene Deisten keine Kraft haben, die Jungen von den Sirenengesängen der religiös Autoritären abzuhalten. Zur Veranschaulichung stelle ich mir die Ohnmacht und Verunsicherung religiös-distanzierter Eltern vor, deren Kinder in fundamentalistische Gruppen abdriften: eine Ohnmacht, der ich in den letzten Jahren immer öfter begegne.

Die Schülerin weist aber auch einen Weg aus dem pubertären Deismus: Die historisch-kritische Methode. Sie basiert ja auf der einfachen Unterscheidung zwischen dem Autor (oder auch der späteren Redaktion) eines Textes einerseits und dem historischen Ereignis andererseits, auf das er (oder die Redaktion) sich bezieht. Mit dieser Unterscheidung, so die Schülerin, sei es ihr möglich geworden, sich selbst als deutendes Subjekt zu begreifen, welches Ereignisse, Texte und Überlieferungen einerseits kritisch anzuschauen vermag, sich dann aber andererseits für die weiterführende Frage öffnen darf, was diese heute für das eigene Leben bedeuten können. Genau damit aber sei ihr der Schritt aus der religiösen Pubertät in einen reiferen Glauben möglich geworden. Glauben erhält einen Bezug zum eigenen Leben. Der Deismus ist nicht die letzte Station.

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