Potter, Nicolas / Lauer, Stefan (Hgg.): Antisemitismus Underground. Antisemitismus in emanzipatorischen Subkulturen und Bewegungen.
Leipzig: Hentrich & Hentrich 2023. 246 S. Kt. 22,–.
Während der corona-bedingten Pause in der Clubkultur 2021 beendete die queere Partyreihe Buttons am 22.6.2021 ihre jahrelange Zusammenarbeit mit dem Berliner Club ://about blank. Der Hintergrund der Entscheidung war politisch: Die Verantwortlichen der Partyreihe wollten sich ab jetzt „gegen Apartheid in Israel einsetzen. Denn queere Befreiung sei grundsätzlich mit den Träumen von der palästinensischen Befreiung verbunden. Und das bedeutet für sie, die Zusammenarbeit mit dem Club zu beenden, in dem die Parole gegen jeden Antisemitismus zum Grundkonsens gehört. Beifall kommt von den queeren Partyreihen Cocktail d’Amore, Gegen und Lecken. Zugleich erscheint ein offener Brief der Berlin Nightlife Workers Against Apartheid im fast selben Wortlaut.“ Die Herausgeber fahren fort: „Wir schreiben seit Jahren über Antisemitismus. Und trotzdem ist das für uns ein einschneidender Moment. Das Private wird endgültig politisch“ (19).
Das vorliegende Buch ist Ergebnis dieses Momentes. Es nimmt den „linken Antisemitismus“ (32-44) ins Visier, den Kulturbetrieb ebenso wie antirassistische und antiimperialistische Gruppen, die Klimabewegung (dazu auch ein Gespräch mit Louisa Neubauer und Shahrzad Eden Osterer, 217-226), die queere Community, feministische Bündnisse, Clubkultur, Hiphop, Punk- und Hardcoreszene (insgesamt 83-189). Ein eigenes Kapitel ist dem BDS (Boykott, Desinvestition, Sanktionen) gewidmet (45-60), über Erkenntnisse aus documenta fifteen (192-202) sprechen Laura Cazés (Jewish Women Empowerment Summit) und Leon Kahane (Forum demokratische Kultur), Einblicke in aktuelle Vernetzungen zwischen BDS, Clubkultur und #DjsForPalestine etc. werden gegeben (227-234).
Ganz neu ist das alles nicht. Der Antizionismus der Neuen Linken wurzelt in den Debatten nach dem Sechstagekrieg 1967: „In Bezugnahme auf die von Herbert Marcuse … entwickelte Randgruppentheorie, nach der der gesellschaftliche Widerspruch nicht bei der Arbeiter*innenklasse, sondern bei den Geächteten und Außenseitern zu finden sei, entdecken viele 68er in gesellschaftlichen und globalen Randgruppen ein neues revolutionäre Subjekt … Im Zuge dieser Diskurse verabschieden sich Teile der 68er gedanklich von den Arbeiter*innen als revolutionärem Subjekt“ und es „geraten antikoloniale Befreiungsbewegungen in den Fokus der revolutionären Hoffnungen“ (37 f.). Der Staat Israel wird auf die Seite der Unterdrücker gestellt, (weiße) Jüdinnen und Juden unter den Bedingung aktueller postkolonialer Diskurse ebenfalls (mehr dazu 65 f.: „schwarz, weiß, jüdisch“). Wenn Juden – egal ob Staatsbürger Israels oder nicht – in emanzipatorisch-antiimperialistischen Gruppen auffallen, verlieren intersektionelle Differenzierungen (vgl. dazu 61-71) an Bedeutung. Juden müssen mit Ausgrenzung rechnen, wenn sie auf Sichtbarkeit bestehen.
Die Herausgeber wollen kein komplettes Bild von linkem israelbezogenem Antisemitismus zeichnen, sondern nur „Momentaufnahmen“ (19) vorstellen. Es lohnt sich dennoch, diese genau anzuschauen, zumal die Autorinnen und Autoren selbst aus dem Milieu stammen, das sie nun (selbst-)kritisch unter die Lupe nehmen. Der Weg aus ideologischer Enge beginnt bekanntlich mit Selbstkritik. Wer diesen Weg beschreitet, gewinnt dadurch an Glaubwürdigkeit und Legitimation, auch andere Varianten des Antisemitismus zu entlarven. Denn Antisemitismus besteht immer aus einem Cocktail von mehreren Zutaten. Nimmt man die eine oder andere Zutat weg, so bleibt es doch immer Antisemitismus, egal ob links oder rechts.
Klaus Mertes SJ
Kleinschmidt, Sebastian, Lob der Autorität (Fröhliche Wissenschaft 221).
Berlin: Matthes & Seitz 2023. 45 S. Kt. 10,–.
Dass ein Lob der Autorität vonnöten ist, liegt Sebastian Kleinschmidt zufolge entscheidend an deren Zurückweisung, die „im Westen von den Universitäten her“ (5) betrieben wird. Darin spiegele sich vor allem der Einfluss der Generation der 68er wider, deren Zurückweisung vieler überkommener Begriffe aber tatsächlich schon in der Aufklärung begonnen habe. Die Beurteilung von Kleinschmidts Ausführungen, hängt daher auch davon ab, ob die Leserin und der Leser dieser Grundannahme und ihrer Entgegnung zustimmen oder eben nicht. Für den Autor steht jedenfalls fest: „Autorität ist ein Faktum der Kultur“ (5). Dieses Faktum sucht er zunächst anhand einfacher Beispiele zu untermauern. Anhand eines Segelschiffs und dessen Besatzung, eines Orchesters oder eines Arztes werde deutlich, wie wichtig Leitung und Führung seien. Die beiden Momente von Macht und Autorität finden dabei durch das „Phänomen der charismatischen Herrschaft“ (7) zueinander.
Mit Hilfe von Hans-Georg Gadamer macht der Autor auf scheinbare Widersprüche – Freiheit und Autorität – und auf Gemeinsamkeiten – Autorität und Tradition – aufmerksam. Immer wieder gibt es Passagen mit deutlicher Kritik an der geschichtlichen Entwicklung und der Gegenwart, aber das eigentliche Ziel der Ausführungen ist ein erneuertes Verständnis von Autorität. Dieses beruht entscheidend auf Max Webers Überlegungen. So könne Herrschaft als die Chance verstanden werden, „für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden. Charismatische Herrschaft als solche ist sowohl der rationalen, besonders der bürokratischen, als auch der traditionalen, besonders der patriarchalen und ständischen, schroff entgegengesetzt“ (21).
Der Vorteil dieses Ansatzes ist, dass die Bedeutung einer Beziehung für die Autorität thematisch wird, die sich auch in der Freiwilligkeit der Akzeptanz der Annahme des Autoritätsverhältnisses zeigt. So seien Macht und Autorität „zwar benachbarte Phänomene“, sie bedingen sich aber nicht, denn es gebe „Autorität ohne Macht, ebenso wie es Macht ohne Autorität geben kann“ (25). Auch wenn sich weder Autorität noch Macht beseitigen lassen, so sei dies dennoch immer wieder versucht worden.
Vertreter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und die 68er werden stark kritisiert, doch dass die Revolution die traditionelle Familie und insbesondere die Bedeutung der Väter so stark habe treffen können, hatte eine Vorgeschichte, wie der Autor eindrücklich schildert. Dass die antiautoritäre Erziehung nicht in demokratische Selbsterziehung führe, ist für Kleinschmidt zwar evident, aber wie eine „charismatische Autorität“ aussehen kann und welche Rolle sie in einer Demokratie spielen solle, bleibt vorerst offen. Dass man dabei sei, „sich freizumachen von alten ideologischen Schablonen“ (44), gibt dem klugen und referenzreichen Essay einen positiven Ausblick, der sich nicht „im Lob der Autorität“ erschöpft, sondern als ein Plädoyer für die Arbeit an dieser zu verstehen ist.
Jörg Nies SJ
Lobo, Sascha: Die große Vertrauenskrise. Ein Bewältigungskompass.
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2023. 328 S. Gb. 25,–.
Der Autor, aus Funk und Fernsehen bekannter Publizist, Blogger und Podcaster, startet mit der These, „dass die große Vertrauenskrise … entstanden ist, weil sich die Art und Weise der Vertrauensproduktion in den Gesellschaften der westlichen Welt verwandelt hat und noch weiter verwandelt“ (30). Er ist der Überzeugung, dass der Weg aus der Vertrauenskrise nicht über ein Zurück in das „Alte Vertrauen“ verläuft, sondern nach vorne in ein „Neues Vertrauen“, das auf eine andere Weise „produziert“ wird (dazu Vorschläge 285-329).
Das Wesen des Alten Vertrauens, das vor dem Internetzeitalter regierte, war „pragmatisch“. „Wenn man sich vor der Erfindung von Handys verabredete, dann musste man darauf vertrauen, dass die andere Person zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein würde.“ Das Alte Vertrauen baute also auf „bekanntem Nichtwissen“ auf. „Durch die digitale Vernetzung ist an unzählbar vielen Stellen des Alltags ein zuvor inexistentes Informationspotential entstanden, das strukturell das Nichtwissen und damit die Basis des Alten Vertrauens angreift.“ Denn „je mehr man theoretisch wissen könnte, desto weniger muss man vertrauen.“ Das verändert aber nicht nur das Verhältnis der Menschen untereinander, sondern auch das Verhältnis zwischen Staat und Bürger, und auch zwischen Wissenschaft und Bürger, wie zuletzt die Corona-Krise deutlich gemacht hat (vgl. 185-204). Der alte Vertrauenspakt zwischen Staat und Bürger funktioniert jedenfalls nicht mehr, „weil er für eine Welt geschlossen wurde, die so nicht mehr existiert“ (vgl. 31 ff.).
Von dieser These ausgehend durchschreitet der Autor die Landschaft des gefährdeten oder verlorenen Vertrauens: Transparenzdiktat, Globalisierung und Digitalisierung, Medien, Emotionen und Soziale Medien, Lügen und Fakes. Lobo erzählt die Geschichten von erfolgreich verbreiteten Manipulationen und Emotionalisierungen nach und unterwirft sie einer klugen Analyse. Besonders am Kapitel „Vertrauenspanik“ (160-184) wird deutlich, wie es zum Abtauchen weiter gesellschaftlicher Kreise in Sonderwelten kommen kann, quasi eine Zerrform Neuen Vertrauens: Die Implosion des eigenen Vertrauensgebäudes löst Vertrauenspanik aus. „Nichts ist mehr, wie es mal war!“ (160). Beim Zusammensturz „blitzt die vermeintliche Erkenntnis wie eine düstere Form des Heureka“ auf: „Jetzt habe ich die ganze Wahrheit hinter der großen Lüge erkannt!“ (161). Der „böse Feind“ tarnt sich als Künder der Wahrheit: „Vertraue mir!“ Wen dieser Moment bannt, der sitzt in der Falle. Lobo veranschaulicht das an der „wahrscheinlich mächtigsten Verschwörungserzählung des 21. Jahrhunderts: QAnon (163) … Die Erweckten nicken sich anerkennend zu, sie haben eine neue gemeinsame Vertrauensbasis gefunden“ (174).
Sascha Lobo hat ein kenntnisreiches, kluges Buch geschrieben. Er stellt nicht nur dar, sondern unterlegt den Darstellungen eine nachvollziehbare Systematik, die sich durchhält. Er bleibt nicht in der Krisenanalyse stecken, sondern benennt Chancen und weist Wege aus der Vertrauenskrise. Hier und da kann man Einwände bringen: Hatte die Schwarzgeld-Affäre der CDU 1999 wirklich so gravierende Wirkungen auf das Grundvertrauen zwischen Politik und Gesellschaft? (25). Hat Christian Drosten wirklich „mit seinem Podcast die Wissenschaftskommunikation … auf ein völlig neues Qualitätslevel gehievt?“ (185). Doch ich will nicht mäkeln. Diese und weitere Einwände tun dem Lesevergnügen und auch dem grundlegenden Erkenntnisgewinn, den die Lektüre verschafft, keinen Abbruch.
Klaus Mertes SJ