Kant als MetaphysikerÜber den Sinn der Grenzen der menschlichen Vernunft

Vor 300 Jahren wurde Immanuel Kant geboren. Robert Theis widmet sich in diesem Beitrag einem Thema, das selten in Verbindung mit Kant betrachtet wird: seiner Zuneigung für metaphysische Fragen bis hin zum Versuch eines Gottesbeweises. Wie sind Fragen nach Gott, Freiheit und Seele mit einem immanentem Anspruch zu stellen? Wo liegen die Grenzen der menschlichen Vernunft und welche praktischen Konsequenzen folgen daraus? Robert Theis ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Luxemburg und Vizepräsident der „Société internationale d‘études kantiennes de langue française“.

„Mein Thema [ist] eigentlich Metaphysik
in der weitesten Bedeutung“1

Am 22. April 1724 wurde Immanuel (Emanuel) Kant als viertes Kind des Sattler- und Riemermeisters Johann Georg Kant und seiner Frau Anna Regina in Königsberg – heute Kaliningrad – geboren. Die philosophische Community – und darüber hinaus eine breitere Öffentlichkeit in Kultur und Politik – feiert in diesem Jahr den dreihundertsten Geburtstag des bedeutenden Philosophen: größere und kleinere Tagungen sind angekündigt, unzählige Veröffentlichungen sind zu erwarten – 2020 zählte die Kant-Bibliografie 738 Titel zu Kants Philosophie,2 Ausstellungen usw. Schillers Wort abwandelnd lässt sich sagen: Wenn der König baut, haben die Kärrner zu tun. Kant ist gewissermaßen zu einer Art gehobenem Allgemeingut geworden: der Philosoph der Aufklärung, des Selbstdenkens und der Mündigkeit, der „Erfinder“ des kategorischen Imperativs und des Menschen als Zweck an sich, der Theoretiker des ewigen Friedens. Kant heute also!

Im Folgenden soll – gleichsam diese nicht falschen Topoi, aber gerade diese in ihrer Allgemeinheit häufig zu leeren Formeln herabinterpretierten Themen nicht berücksichtigend – ein Blick auf ein anderes Anliegen von Kant in den Vordergrund gestellt werden, das im Titel dieses Aufsatzes angezeigt ist. „Kant als Metaphysiker“! Im Jahre 1924 hatte Max Wundt ein Buch mit diesem Titel veröffentlicht. Es war im Übrigen diese Zeit – seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts –, in der man sich diesem Kant verstärkt zuwandte, nach den Jahrzehnten der neukantianischen „erkenntnistheoretischen“ Deutung seiner Philosophie.

Kant als Metaphysiker? Riskiert man mit der Wiederaufnahme eines derartigen Themas heute nicht, radikal gegen den Strom zu schwimmen – nachdem Jürgen Habermas das „postmetaphysische Zeitalter“ verkündet hat? Kant als Metaphysiker – sauve qui peut! In einer Schrift aus dem Jahre 1766 mit dem kurios klingenden Titel Träume eines Geistersehers erläutert durch Träume der Metaphysik schreibt Kant, er habe das Schicksal, in die Metaphysik verliebt zu sein, fügt dem aber hinzu, er könne sich nur selten einiger Gunstbezeugungen von dieser Geliebten rühmen.3

Dem wollen wir hier nachgehen und skizzenhaft nachzeichnen, wie es die Fragen der Metaphysik beziehungsweise die Fragen nach der Metaphysik gewesen sind, die Kant, nicht nur gelegentlich, sondern zentral bis in sein Spätwerk hinein begleitet haben. Die Fragen der Metaphysik, also die Fragen, mit denen sich diese Disziplin seit alters beschäftigt und die Kant in der Form vorfindet, wie sie der große Aufklärungsphilosoph Christian Wolff (1679-1754) und dessen Schule formuliert haben: Die Metaphysik handelt von dreierlei Arten von Seiendem: Gott, Welt und Seele sowie von „allen Dingen überhaupt“, sprich: von Bestimmungen, die jeglichem Seienden zukommen. Bei Kant werden diese Fragen allerdings schon in seinen ersten Schriften gleichsam auf einen Aspekt hin fokussiert, nämlich auf Fragen nach der Metaphysik, sprich: ihrer Methode oder ihres Verfahrens im Umgang mit den genannten Gegenständen, kurz auf die Frage nach der Metaphysik als einer gründlichen Erkenntnis, wie es in seiner Erstlingsschrift heißt.4 Die Habilitationsschrift aus dem Jahr 1755 handelt von einer neuen Erhellung (nova dilucidatio) der Prinzipien der metaphysischen Erkenntnis. Hier zeigt sich mit offenem Visier die erwähnte Stoßrichtung von Kants Interessen: Mit „Erhellung“ ist in der Tat an eine Reform dieser Prinzipien gedacht, die zum Zweck hat, die Fundamente der Metaphysik besser abzusichern und damit gesichertere, und das heißt: gründlichere Erkenntnisse bezüglich der „Gegenstände“ der Metaphysik zu erlangen. In der 1762/1763 erschienenen Schrift mit dem umständlichen Titel Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes liefert Kant bezüglich des eminentesten Gegenstandes der Metaphysik ein Paradebeispiel einer solchen gründlichen Erkenntnis.

In den bereits zitierten Träumen nimmt nun das Reformprojekt entschiedenere Konturen an. Sachlich vor die Erkenntnis der metaphysischen Entitäten (Gott, Welt, Seele) schiebt sich in der Tat eine Frage, die Kant zuerst zwar nur in Umrissen sieht, die aber zum Zentrum seines Nachdenkens der nächstfolgenden fünfzehn Jahre werden wird. Wohlgemerkt, dieses work in progress ist ein offener Prozess; wir kennen das Ergebnis; Kant kannte es um die Mitte der 1760er-Jahre noch nicht! Die Metaphysik, so heißt es jetzt, ist „eine Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft, und da ein kleines Land jederzeit viel Grenze hat, überhaupt auch mehr daran liegt seine Besitzungen wohl zu kennen und zu behaupten, als blindlings auf Eroberungen auszugehen, so ist dieser Nutze der erwähnten Wissenschaft der unbekannteste und zugleich der wichtigste, wie er denn auch nur ziemlich spät und nach langer Erfahrung erreicht wird. Ich habe diese Grenze hier […] nicht genau bestimmt […]“5.

Die Grenzen der menschlichen Vernunft bestimmen, was heißt dies? Zunächst einmal – wir schreiben das Jahr 1766, ein regelrecht krisenhaftes Jahr in Kants intellektueller Biografie – kritisch destruktiv –, bestimmen, worin die Träume und Luftschlösser der Metaphysik bestehen; später dann, konstruktiver festzulegen versuchen, unter welchen Bedingungen Metaphysik eine Wissenschaft – die neue Formel für die „gründliche Erkenntnis“– sein könnte. Dieser Frage widmet sich Kant – seit 1770 endlich ordentlicher Professor für Logik und Metaphysik an der Königlichen Albertus Universität zu Königsberg in Pr. – in immer neuen Anläufen, seiner Art gemäß, mit der Feder in der Hand denkend, im Laufe der 1770er-Jahre, dem stillen Jahrzehnt. „Sind Sie dann der Welt gestorben? warum schreiben so viele, die nicht schreiben können — und Sie nicht, die’s so vortrefflich können? warum schweigen Sie — bei dieser, dieser neuen Zeit — geben keinen Ton von sich? Schlafen? Kant — nein, ich will Sie nicht loben — aber sagen Sie mir doch, warum Sie schweigen? oder vielmehr: Sagen Sie mir, dass Sie reden wollen“ fragt Johann Caspar Lavater, beunruhigt über Kants Schweigen, in einem Brief aus dem Jahr 1774.

Kritik der reinen Vernunft

1781 erscheint – endlich – das Opus magnum, die Kritik der reinen Vernunft, in der Fachwelt zunächst wenig beachtet: zu neuartig die darin entfaltete Problematik, zu ungewohnt die Terminologie. Kant verstand die Schrift als „Traktat von der Methode“6, keine Metaphysik, aber, wie er in einem Brief an seinen Freund und Schüler Marcus Herz schreibt, eine „Metaphysik von der Metaphysik“7. Die Intention bleibt gleichlautend wie bereits in den frühen Jahren: eine Reform der Metaphysik mit dem Ziel, diese auf den Weg einer sicheren Wissenschaft zu bringen.

Kant unternimmt dies systematisch über den Weg dessen, was er in einer späten Schrift als „Anatomie unseres Erkenntnisvermögens“8 bezeichnet. Diese erfolgt aber nicht – wie bei den englischen Empiristen, allen voran John Locke – in einer deskriptiven Weise, sondern mit einer normativen Intention. Unter welchen apriorischen, also notwendigen und allgemeingültigen Bedingungen gelingt objektive, „wissenschaftliche“ Erkenntnis? Wohlgemerkt: die Absicht der Untersuchung betrifft die Metaphysik: Von der Kritik der reinen Vernunft schreibt Kant, er „verstehe […] hierunter nicht eine Kritik der Bücher und Systeme, sondern die des Vernunftvermögens überhaupt in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie unabhängig von aller Erfahrung streben mag, mithin die Entscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt und die Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfanges und der Gränzen derselben, alles aber aus Principien“.9

Die Anatomie führt nun rigoros zu einem bemerkenswerten Ergebnis, nämlich, dass es Grenzen der menschlichen Erkenntnis gibt: Mit den Erkenntnismitteln, die uns Menschen zur Verfügung stehen, und das sind die Sinnlichkeit und der Verstand, die „zwei Stämme der menschlichen Erkenntniß […],“10, können keine objektiven Erkenntnisse erlangt werden über Dinge, die uns nicht in der Erfahrung gegeben sind. Lapidar bedeutet dies, dass es vom Übersinnlichen – ein Ausdruck, den Kant erst seit 1786 verwendet – keine, wie er sich in einer späten Schrift ausdrückt, theoretisch-dogmatische Erkenntnis gibt („Noumenorum non datur scientia11) und auch nicht geben kann. Dies bedeutet das Todesurteil über eine Metaphysik, die Wissenschaftsansprüche erhebt. „Letzte Fragen“ also „und keine Antworten?“ überschreibt Marcus Willaschek ein Kapitel in seinem kürzlich erschienenen Buch „Kant. Die Revolution des Denkens“12.

Wie mit diesem Sachverhalt umgehen, wenn gleichzeitig gilt, dass – wie die Zergliederung des Vernunftvermögens in seiner Ganzheit zeigt – neben Sinnlichkeit und Verstand es auch die Vernunft als höchste einheitsstiftende Instanz gibt, als ein Vermögen, das auf Unbedingtes, Letztes ausgerichtet ist, in dem sich diese Einheit denken lässt, und das Kant mit den traditionellen metaphysischen Entitäten Gott, Welt/Freiheit, Seele identifiziert, Ideen, die notwendig von der Vernunft geforderte unbedingte Bedingungen bezeichnen.

In der Kritik der reinen Vernunft ringt Kant mit diesem Problem: „Die Vernunft wird durch einen Hang ihrer Natur getrieben, über den Erfahrungsgebrauch hinaus zu gehen, sich in einem reinen Gebrauche und vermittelst bloßer Ideen zu den äußersten Grenzen aller Erkenntniß hinaus zu wagen und nur allererst in der Vollendung ihres Kreises, in einem für sich bestehenden systematischen Ganzen, Ruhe zu finden. Ist nun diese Bestrebung bloß auf ihr speculatives, oder vielmehr einzig und allein auf ihr praktisches Interesse gegründet?“13

Für unser Weltwissen sind metaphysische Erkenntnisse nicht nötig.14 Die Wissenschaften benötigen keinen Rekurs auf Transzendentes, um als Hypothesen herangezogen zu werden; sie handeln eh nur vom Vorletzten, bleiben im Bereich des Bedingten. Was Kant zunächst vorsichtig als Frage formuliert, nämlich ob auf dem Weg des praktischen Interesses, sprich in dem, was „durch Freiheit möglich ist“15, das Erreichen des Unbedingten gelingt, wird nun zum Ansatzpunkt, von dem aus er das Projekt Metaphysik neu zu denken versucht.

Ist Metaphysik eine Fiktion?

Metaphysik, soll sie denn einen Sinn haben, muss mit Blick auf das Praktische, auf uns als mit Freiheitsvermögen ausgestattete Wesen, konzipiert werden. Soll sie einen Sinn haben! Es entsteht von dieser Sinnwarte aus gesehen eine spannende Problemverschiebung. Nach dem Sinn der Metaphysik fragen, bedeutet nämlich letztlich, nicht mehr fragen, was in der Metaphysik zu tun sei, sondern, was man mit ihr will, welches ihr Zweck ist, kurz, zu was sie gut ist.

In einer kleinen Schrift aus dem Jahr 1786 mit dem programmatischen Titel Was heißt: Sich im Denken orientieren? spricht Kant von einem doppelten Bedürfnis der Vernunft, einem theoretischen und einem praktischen. Das theoretische Bedürfnis geht sehr wohl auf das Unbedingte: Wir können also metaphysische Fragen stellen, wenn es uns danach ist – Kant schreibt, „wenn wir urteilen wollen“16. Ein Wissen darüber bleibt indes versagt. Das hat die Anatomie des Erkenntnisvermögens unzweifelhaft ergeben. Aber das praktische Bedürfnis, so Kant, besteht darin, dass wir urteilen müssen. Was er damit sagen möchte, ist dies, dass wir unser Leben führen müssen und dass wir in diesem Führen nicht auskommen, ohne uns letzte Orientierungsfragen zu stellen und uns letzten Orientierungsfragen zu stellen. Die metaphysischen Entitäten sind aus dieser Perspektive zu verstehen, das heißt aber, mit Blick auf das, was wir letztlich aus Freiheit in unserem Leben und mit unserem Leben machen, welche Menschen wir sein wollen. Kant sagt in diesem Konstrukt von den Gegenständen der Metaphysik, es handle sich um Postulate. „Es ist ein Gott, es ist ein zukünftiges Leben“ sind notwendig von der Vernunft geforderte Behauptungen, die aber nur in praktischer Beziehung eine Bedeutung haben. Wie soll man dies näherhin verstehen? Wird hier nicht das Verdikt der Kritik der reinen Vernunft ausgehebelt?

In der Kritik der reinen Vernunft führt Kant, im Zusammenhang der Diskussion dieser Frage – er nennt sie die Frage nach dem letzten Zweck des Gebrauchs der reinen Vernunft – eine Überlegung über verschiedene Formen des Fürwahrhaltens an: Meinen, Wissen, Glauben. Vom Meinen heißt es, es sei ein weder subjektiv noch objektiv gewisses Fürwahrhalten; beim Wissen ist es genau umgekehrt, sowohl subjektiv als auch objektiv gewiss. Die dritte Variante des Fürwahrhaltens ist das (!) Glauben: subjektiv gewisses, aber objektiv ungewisses Fürwahrhalten.17 Subjektiv gewiss, das ist nicht so zu verstehen, als hinge es von der Laune beziehungsweise von individuellen oder auch kollektiv zufälligen Überzeugungen ab; subjektiv gewiss bedeutet, dass eine Überzeugung in einer Vernunftnotwendigkeit ihren Grund hat. Objektiv ungewiss bedeutet, dass es von dieser Überzeugung kein in einer möglichen Erfahrung verifizierbares Ereignis gibt, also keine „Instanziierung“ und demnach keine objektive Erkenntnis. Das lehrt, wie bereits gesehen, die Analyse des Erkenntnisvermögens: Wir können, als die endlichen Wesen, die wir sind, nicht wissen, ob es einen Gott gibt, ob es ein zukünftiges Leben gibt.

Es ist nun aber diese Modalität des Glaubens, die in der Frage nach dem Sinn der Metaphysik ihre Anwendung findet. Metaphysik unter dem Gesichtspunkt der Führung des Lebens, also Metaphysik als praktische unter dem Aspekt letzter Orientierungsinstanzen treiben, heißt: so leben als ob es derartige Instanzen gäbe. Unsere Vernunft postuliert sie. Darin scheint ein fiktionaler Aspekt zu liegen. Ist Metaphysik eine Fiktion? Sie ist ein Vernunftprojekt und in dieser Hinsicht ein Diskurs „in der Idee“ – Kant spricht von den metaphysischen Entitäten als „in praktischer Absicht selbstgemachten Ideen“18, von denen es im Opus postumum heißt, sie seien „keine Dichtungen, sondern gedacht“ (Opus postumum, Ak.ausg. Bd. 21, 29), aber gerade als solche sind sie ins Leben zu überführen – eben keine Fiktionen –, weil das Sich-Orientieren an derartigen „letzten Gedanken“ (Dieter Henrich) dem Leben einen unbedingten Ernst verleiht, weil es zugleich eine unbedingte sittliche Forderung mit sich führt.

„Metaphysik in der weitesten Bedeutung?“ In einer späten Schrift schreibt Kant, eine derartige Metaphysik sei „kat‘anthrôpon“, „gültig für Menschen als vernünftige Wesen, und nicht bloß für dieses oder jenes Menschen zufällig angenommene Denkungsart“.19 Diese so verstandene Metaphysik ist dann etwas, das Kant als Weisheitslehre bezeichnet, von der es heißt, sie habe einen unbedingten Wert,20 weil sie sich auf den Endzweck des menschlichen Daseins bezieht, nämlich auf die Frage nach seiner „Weltstellung“ (Georg Simmel), als transzendentes Wesen in der Immanenz und damit nach seiner Bestimmung in der Welt. Bis zu diesem Punkt reicht Metaphysik; darin liegt gleichzeitig ihre weiteste Bedeutung.

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