Am 20. Februar 2021, einen Monat nach seiner Rückkehr nach Russland, hielt Alexei Nawalny eine Rede vor dem Moskauer Stadtgericht. Er schloss mit österlichen Klängen. „Dieses Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden – das mag ja exotisch oder komisch klingen, aber in Wirklichkeit ist das aktuell die bedeutendste politische Idee in Russland … Kraft liegt in Gerechtigkeit. Wer Wahrheit und Gerechtigkeit hinter sich hat, wird siegen.“
Der Sieg, von dem hier die Rede ist, ist kein militärischer Sieg. Über ihm liegt nicht der Schatten der Zweideutigkeit der Gewalt, der über jedem Krieg schwebt, auch dann, wenn man – wie die Ukraine – das Recht der Selbstverteidigung auf seiner Seite hat (weswegen es ja wiederum auch falsch wäre, die mit der Selbstverteidigung verbundene militärische Gewalt mit der Gewalt des Aggressor schlicht gleichzusetzen). Der Sieg, von dem Nawalny spricht, ist aber auch ein wirklicher Sieg, nicht bloß in einer abgehobenen, rein geistigen Hinterwelt. Er hat politische Folgen. Die Botschaft lautet: Die Diktatur wird scheitern. Zu dem diesem nicht-militärischen Kampf gehört feste Entschlossenheit. Zu keinem Zeitpunkt liegt die Absicht vor, eine weiße Fahne zu schwenken. Dem Feind soll es nicht gelingen, seinen Gegner innerlich zum Einknicken zu bringen. Und es gelingt ihm tatsächlich nicht. Eine Kraftquelle tut sich auf, vor der die Diktatoren Angst haben, mit gutem Grund.
Wie soll und kann man aber, wenn man an diesen österlichen Sieg glaubt, zu militärischen Auseinandersetzungen und Kriegen Stellung nehmen? Papst Franziskus steht seit dem 10. März 2024 im Kreuzfeuer der Kritik. Ihm wird der Vorwurf gemacht, die Ukraine aufgefordert zu haben, die weiße Fahne zu hissen, sprich: zu kapitulieren. Anfang Februar 2024 gab Papst Franziskus für den Schweizer öffentlich-rechtlichen Sender RSI ein Interview. Dabei ging es um die Farbe Weiß des Papstgewandes, um seine Sicht auf Krieg und Frieden sowie um die Verantwortlichkeiten als Papst. Vorab zur Ausstrahlung wurden einzelne Passagen aus dem Interview publiziert. Dabei wurde die Frage des Journalisten ausgespart. Sie lautete: „In der Ukraine gibt es diejenigen, die den Mut zur Kapitulation, zur weißen Fahne einfordern. Andere wiederum meinen, dies würde die Stärksten legitimieren. Was denken Sie?“ Die Auslassung der Frage entschied über die Rezeption der Antwort des Papstes. Die Schlagzeile Papst fordert Ukraine zur Kapitulation auf war vielen dann mehr wert als die Vollständigkeit und damit die Richtigkeit der Berichterstattung. Von Kapitulation war in der Antwort des Papstes nämlich nicht die Rede, sondern von Verhandlungen. Damit sagte er nichts Neues. Genau das sagt er seit zwei Jahren.
Nun kann man darauf hinweisen, dass die Forderung nach Verhandlungen sinnlos ist, solange der Aggressor gar nicht verhandeln will und zugleich die Chance sieht, seinen Eroberungsfeldzug erfolgreich fortzuführen. Soweit, so gut. Aber es bleibt auch im Falle der gerechten Verteidigung der Stachel des Evangeliums. Der österliche Sieg ist ein gewaltfreier Sieg. Gegen das Löken dieses Stachels hat sich der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill immunisiert. Dazu hat ihm Franziskus den Satz ins Stammbuch geschrieben: Bruder, wir sind keine Staatskleriker und dürfen nicht die Sprache der Politik, sondern müssen die Sprache Jesu sprechen. Aber wenn Franziskus so spricht, dann muss er sich auch selbst daran halten, die Sprache des Evangeliums zu sprechen, und nicht die Sprache der Politik, auch dann nicht, wenn ihm deswegen politische Naivität oder gar Komplizenschaft mit dem Aggressor vorgeworfen wird. Die Gefahr eines jeglichen Krieges besteht ja darin, dass er mit seiner Logik das Evangelium für sich zu vereinnahmen droht. Deswegen bedarf es in Kriegszeiten derer, die sich bereithalten, die Pfeile von allen Seiten auf sich zu ziehen, um eines Tages wieder Brücken bauen zu können.
Man könnte dem Papst auch zurufen: „Sag einfach gar nichts zum Krieg. Bete für einen gerechten Frieden, engagiere Dich humanitär. Mehr kann Kirche in Kriegszeiten nicht. Mit dem Evangelium kann man keine Politik machen, und in Kriegszeiten schon gar nicht.“ Aber das ist kein Ausweg für den Papst. Er hat auch in Kriegszeiten das Evangelium zu verkünden. Mag der Frieden, den der Auferstandene verheißt, ein Frieden sein, wie ihn die Welt nicht gibt (vgl. Joh 14,27), so ist er doch ein Frieden für diese Welt. Wenn dem Papst die Verkündigung nur stammelnd und stolpernd gelingt, so ist das immer noch besser, als wenn der Papst entweder bloß schweigen oder gar seine Sprache in die Sprache der Politik hinein auflösen würde. Er tut es nicht. Das unterscheidet ihn von Kyrill. Und damit bleibt er nicht nur als Person, sondern auch in Hinblick auf das Amt, das er repräsentiert, Pontifex.