Was ist los an den US-amerikanischen Universitäten? Eine breite Koalition von studentischen Organisationen ruft nicht mehr nur zum Boykott Israels auf, sondern oft ganz unverhohlen zur Vernichtung des jüdischen Staates. Den Führungen dieser Eliteschmieden fehlt der Mut oder gar die Einsicht, sich dem entgegenzusetzen. Wird die nächste Generation von Amerikanern Israel nicht mehr unterstützen? Dann wäre eine lang angelegte Strategie der Palästinenser aufgegangen.
Die Stellung der Juden in den USA unterscheidet sich historisch von anderen westlichen Ländern. Um Toleranz für das Judentum bat die Gemeinde in Newport, Rhode Island im Jahre 1790 in einem Brief an George Washington, der gerade erster Präsident der USA geworden war. Seine Antwort ist legendär und fasst die revolutionäre Idee der amerikanischen Nation zusammen. Er schrieb, dass die Juden in den USA keiner Toleranz bedürften, denn Toleranz sei „die Nachsicht einer Klasse von Menschen, damit eine andere die Ausübung ihrer angeborenen natürlichen Rechte genießt“. Das sei in den USA aber gar nicht mehr nötig. Juden sind von Anfang an gleichberechtigte amerikanische Staatsbürger ohne jede Sonderrolle. Es ist diese Sicherheit, bedingungslos anerkannt zu sein, die heute bedroht wird. Denn die protestierenden Studierenden stellen eine Bedingung in den gesellschaftlichen Raum: „Wenn Israel sich im Nahen Osten nach den Grundsätzen liberaler Demokratie verhält, dann behandeln wir die Juden auch hier zuhause weiterhin als Bürger mit allen Rechten. Wenn Israel aber das Völkerrecht missachtet, dann verspielen die Juden in den USA ihre vollen Bürgerrechte und werden zur legitimen Zielscheibe von Diskriminierung.“ Sprunghaft gestiegene antisemitische Gewalttaten belegen das. Diese Drohung zieht den amerikanischen Juden den Boden unter den Füßen weg.
Die anti-israelischen Demonstranten gehen so weit, die politische Strategie der Hamas mit dem anti-rassistischen Kampf von Martin Luther King zu vergleichen. Der hielt es für legitim, Polizisten zu Übergriffen zu provozieren, um ihnen gleichsam die Maske herunterzureißen. In einem Brief aus dem Gefängnis in Birmingham stellt er einen Bezug zu Sokrates her. Der zum Tode verurteilte Philosoph vergleicht sich in seiner Apologie mit einer Stechfliege, die die Menschen in Rage versetzt und daher Gewalt gegen sich provoziere. Aber die Gewalttat schade dem Täter mehr als dem unschuldigen Opfer, denn sie enthüllt die wahre Natur des Täters. Ebenso seien nun die Aktionen der Hamas eine Provokation Israels, die zu einer gewalttätigen Reaktion führe, die ihrerseits für die ganze Welt sichtbar das wahre Gesicht des zionistischen Unrechtsstaates vor Augen stelle. Der Vergleich mit Martin Luther King vermag in den USA Emotionen zu wecken. In der Sache ist er jedoch völlig falsch, denn die Hamas hat weder mit Martin Luther King noch mit Sokrates das Geringste zu tun. Sie ist eine Institution, die Gewalt verherrlicht und den Tod Unschuldiger so offen zelebriert, wie es nicht einmal die Sonderkommandos der Nazis taten.
An den amerikanischen Universitäten wird noch aus einer anderen Quelle geschöpft. Die Führer der Sowjetunion hatten den Palästinensern empfohlen, ihren Kampf mit dem Narrativ des Neokolonialismus zu rechtfertigen. Sie sprachen aus Erfahrung, denn die Osmanen erlebten die vor Pogromen flüchtenden Juden als Agenten des russischen Zaren. Die späteren jüdischen Immigranten in Palästina sollten, so nun die Strategie, als Speerspitze des britischen Kolonialismus dargestellt werden, der nach dem Zusammenbruch des osmanischen Reiches das Land an sich riss: die Juden als Agenten der kulturellen Dominanz. Die tiefe Kränkung der Araber und des Islam durch die technische und zivilisatorische Überlegenheit des Westens im industriellen Zeitalter wurde nun zu einer Quelle des Judenhasses.
Verbindet man das mit dem schon angesprochenen Thema des Rassismus, dann wird Zionismus auch zum Rassismus, wie folgerichtig die UN-Vollversammlung 1975 deklarierte. Neokolonialismus und Rassismus, das sind aber die beiden großen Themen, die amerikanische Studierende am stärksten politisch mobilisieren. Ihr Interesse an Israel ist sehr selektiv. Wenn man sie anspricht, so erschreckt der Mangel an historischer Bildung. Sie wissen oft weder, dass die Juden seit den Ursprüngen der geschriebenen Geschichte im heutigen Palästina ansässig waren, noch wissen sie, dass die Immigration der Juden dorthin erfolgte, weil sie sonst nirgendwo Zuflucht fanden. Kaum ein Land nahm am Ende des Zweiten Weltkrieges die jüdischen Vertriebenen auf. Selbst die Kollaborateure der Nazis in Osteuropa wurden bereitwilliger aufgenommen. Die Juden aber konnten nirgendwo hingehen – außer nach Israel. Sogar die Amerikaner hatten niedrige Quoten.
Die Juden als Flüchtlinge, als Vertriebene, als Opfer wahrzunehmen, die in Israel eine letzte Zuflucht suchen, das passt nicht ins Narrativ der protestierenden Studierenden. Sie setzen damit um, was als politisches Ziel der Palästinenser offen proklamiert wurde. Ein Keil soll zwischen Israel und seine Schutzmacht USA getrieben werden. Und wo könnte man besser damit anfangen als bei den vielfach ahnungslosen und dafür umso leichter geistig entflammbaren Bewohnern der efeuberankten Hallen der Eliteuniversitäten?