Die philosophische Rückbesinnung auf Kant setzte in der Mitte der 1860er-Jahre ein. An der Spitze dieser Bewegung stand der Marburger Philosoph Friedrich Albert Lange, der sich interessanterweise im Zuge seiner Solidarisierung mit der Arbeiterbewegung Kant zuwandte. Er begründete einen politischen, einen befreiungsethischen Neukantianismus, der konsequent Kants Idee der Gleichheit auf reformstrategische Überlegungen anwandte, ohne dabei die Freiheit zu zerstören. Darauf aufbauend entwickelten in den zwanzig Jahren vor dem Ersten Weltkrieg die Sozialisten unter den Neukantianern die politische Theorie der Sozialdemokratie weiter. Philosophiegeschichtlich bedeutsame Namen befinden sich darunter: Hermann Cohen, Paul Natorp, Franz Staudinger, Ludwig Woltmann, Kurt Eisner und Karl Vorländer. Sie trugen dazu bei, den reformorientierten Revisionismus von Eduard Bernstein mit philosophischen Erkenntnissen abzusichern. Richtungsweisend wurde Hermann Cohens sozialistische Rekonstruktion der Ethik Kants in seiner Schrift „Ethik des reinen Willens“ von 1904. Dort heißt es: „Die Idee des Zweckvorzugs der Menschheit wird dadurch zur Idee des Sozialismus, daß jeder Mensch als Endzweck, als Selbstzweck definiert wird.“ Damit machte er die dritte Formulierung des kategorischen Imperativs zur Gründungsidee des Sozialismus.
Kants Postulat vom Menschen als Selbstzweck widerstreitet seiner Verdinglichung im kapitalistischen Produktionsprozess. Denn der Mensch als Selbstzweck hat eine Würde an sich und ist nicht bloß ein Produktionsfaktor. Ein weiterer politisch fruchtbarer Gedanke von Kant war der vom „Reich der Zwecke“ als der Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze, deren oberstes die Achtung der Würde eines jeden Menschen ist. Das Individuum ist kein isoliertes Wesen, sondern auf Gemeinschaft hingeordnet. Der kategorische Imperativ begründet das ethische Fundament des Sozialismus und liefert ein gültiges Kriterium zur Beurteilung einer politischen Handlung. Dieser kategorische Imperativ des ethischen Sozialismus lautet: Handle stets so, dass kein Mensch Unrecht erleidet durch Ausbeutung und Unterdrückung!
Marx hatte die Situation des Proletariats sowie die Mechanismen der Ausbeutung und des revolutionären Wandels beschrieben. Aber die Neukantianer setzten an der Erkenntnis an, dass aus der Interessenssolidarität einer Klasse niemals die Solidarität der sittlichen Gemeinschaft aller erwachsen könne. Die Grundbedingungen einer solchen Gemeinschaft hatte Kant in seiner Schrift „Vom ewigen Frieden“ entwickelt: Freiheit, Gleichheit, Rechtsstaat. Im Neukantianismus wurde Kants Ansatz im Blick auf die gesellschaftlichen Bedingungen weiterentwickelt. Der Mensch ist Zweck an sich, also müssen alle Lebensbereiche so organisiert werden, dass sich überall die Menschen als freie Wesen in Gerechtigkeit erfahren können. Das ist der Inhalt des Sozialismus. Er ergibt sich aus den Gesetzen der praktischen Vernunft und gründet nicht in einem deskriptiven Materialismus. Wenn die damalige marxistische Theorie auf den Automatismus der sozio-ökonomischen Entwicklungen setzte, dann betonten die Neukantianer die Verantwortlichkeit der Menschen für die Verwirklichung des Sozialismus. Da der zentrale Begriff des Sozialismus die Würde aller Menschen ist, kommt er nicht ohne Grundlegung in der Ethik aus. Das Sein bestimmt nicht das Sollen! Notwendig für den Sozialismus ist das sittliche Gesetz, hinreichend sind die historischen beschreibbaren Fortschritte.
Reformen statt Revolution
Eduard Bernstein (1850-1932) forderte einst, dass ein Kant der Sozialdemokratie nottue. Er würde den Materialismus als irreführende Ideologie entlarven und die Verachtung des Ideals als Selbsttäuschung bewerten. Denn gerade der kritische Ansatz der marxistischen Theorie beweise in seinem Vollzug genau das Gegenteil eines materialistischen Determinismus.
Ab 1890 propagierte Bernstein sein revisionistisches Verständnis des Sozialismus. Das beruhte auf der Bedingung, dass der arbeitende Mensch immer das Subjekt des Prozesses seiner Befreiung sein soll. Dieser Ansatz verband ihn zwar mit dem Neukantianismus, unterschied ihn aber von der um die Jahrhundertwende vorherrschenden Ansicht in der SPD, dass jede gesellschaftliche Transformation allein das Resultat der ökonomischen Verhältnisse in Produktion und Eigentum sei. Bernstein schloss sich aber nicht den Neukantianern an, was man aufgrund seiner sittlichen Idee hätte vermuten können, sondern blieb stets der empirische Sozialwissenschaftler, der versuchte, die Situationen zu beschreiben, die den Prozess der Befreiung kennzeichneten. Werturteile hielt er für Willensentscheidungen, die damit eben nicht verallgemeinerbar seien. Das sahen die Neukantianer anders und wiesen ihm dabei den Widerspruch zu seinem oben angeführten Bezug auf Kant nach.
Es gibt den altbekannten Vorwurf gegen die SPD, sie verfolge einen prinzipienlosen Pragmatismus ohne Ziel. Dieser Vorwurf ist wirklich alt, denn er stammt aus dem Streit der Marxisten gegen den Neukantianismus und gegen den Revisionismus in der SPD. Die Marxisten begriffen den Sozialismus als Wissenschaft und die Sozialdemokratie als Weltanschauungsgemeinschaft. Darin lag bereits eine der entscheidenden Streitpunkte zwischen dem Parteigründer Ferdinand Lassalle und Karl Marx. Lassalle verstand den Staat als „Einheit der Individuen in einem sittlichen Ganzen“, wie Kurt Schumacher, der spätere Parteivorsitzende der SPD, 1926 in seiner Dissertation schrieb. Für Marx hingegen war der Staat ein Instrument der Klassenherrschaft. Eduard Bernstein lenkte zu seiner Zeit den Blick auf die konkreten Erfolge der Sozialdemokratie. Immer mehr Menschen wählten Sozialdemokraten in die Parlamente, organisierten sich in ihren Gewerkschaften, Vereinen und Genossenschaften, um die Lage der Arbeiterschaft zu verbessern.
Bernstein verneinte die marxistische Auffassung, der Sozialismus sei eine Wissenschaft. Es gibt, so meinte er, moralische und rechtliche Grundentscheidungen, die dem Parteiprogramm zugrunde liegen, aber die Geltungsgründe für diese Grundentscheidungen sind der Beschlussfassung durch die Partei entzogen. Das schließt die eine Weltanschauung für alle Sozialdemokraten aus. Die Strategien einer sozialdemokratischen Politik orientierten sich an wissenschaftlich nachvollziehbaren Kriterien, an korrekten Mehrheitsentscheidungen und eben an den ethischen Grundentscheidungen.
Der Revisionismus versteht den Sozialismus als Prinzip zur Gestaltung der Gesellschaft, nämlich so, dass die Interessen der Allgemeinheit stets über den Sonderinteressen von Gruppen stehen und dass alle die gleichberechtigte Teilhabe an den sie betreffenden Entscheidungsprozessen haben. Deshalb: Bildung für alle, Mitbestimmung und Mitwirkung, demokratischer Rechtsstaat, öffentliches Sozialwesen. Der Sozialismus wird damit zu einer dauerhaften Aufgabe einer wertegeleiteten Politik. Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind die Grundwerte des Sozialismus. Es brauchte aber noch zwei Generationen nach dem Neukantianismus und dem Revisionismus bis das so im Godesberger Programm formuliert werden konnte.
Grundwerte der Politik
Zwischen den beiden Weltkriegen vertieften und differenzierten bedeutende Denker der Sozialdemokratie ihre Ablehnung des Klassenkampfes und eines revolutionären Utopismus, indem sie weiter über den Aufbau eines ethischen, eines freiheitlich-demokratischen Sozialismus nachdachten: Hermann Heller, Leonhard Nelson, Hugo Sinzheimer, Otto Bauer, Eduard Heimann, Gustav Radbruch und andere. Ihr Erbe führten dann schließlich die Gestalter des Godesberger Programms in der noch jungen Bundesrepublik weiter: Willi Eichler, Gerhard Weisser, Fritz Erler und Adolf Arndt. Aber die einen wie die anderen trafen auf Widerstand: Es genüge nicht, ethisch zu sein, denn dann sei man offen für alle bürgerlichen Ideologien. Man brauche eine missionarische Idee, mit der man die Massen begeistern und anführen könne. Die idealistischen Grundwerte seien akademisch und lenkten von den objektiven Bedürfnissen ab.
Halten wir noch einmal kurz die Ausgangssituation fest. Der katholische Theologe und ethische Sozialist Theodor Steinbüchel formulierte 1921 in seiner richtungsweisenden Arbeit „Der Sozialismus als sittliche Idee“ Ergebnis und Auftrag der bis zu diesem Zeitpunkt gelaufenen Diskussionen: „Der Sinn des Sozialismus ist ein ethischer geworden: die Umgestaltung der Wirtschaft und mit ihr der Gesellschaft erscheint nur mehr als Mittel zum Zwecke. Der Endzweck aber ist nicht ein lediglich materieller und sachlicher, sondern ein geistig-sittlicher. Im Mittelpunkt einer solchen Gesellschaftstheorie muß notwendig der Mensch stehen. Sein Wert als Individuum und Gemeinschaftswesen muß zur Sprache kommen. Damit ist aber sofort das ethische Problem aufgerollt.“ Was ist der Mensch? Diese laut Kant schwierigste der philosophischen Grundfragen stand jetzt im Raum. Die Grundwerte der Politik sollten sich von dort her ergeben. Und die Richtungen, aus denen Antworten kamen, waren vielfältig: Neukantianismus und Marxismus, materiale Wertethik und Existentialismus, Psychoanalyse und Lebensreform, religiöser Sozialismus und Naturrechtslehre, kritische Theorie und kritischer Rationalismus.
Aus all diesen Diskussionszusammenhängen soll hier eine Spur verfolgt werden, die seit Bernsteins Zeiten – erstmals 1890 von Viktor Cathrein SJ formuliert – die sozialdemokratische Programmatik verfolgte. 1931 wurde sie von Papst Pius XI. in seiner Enzyklika Quadragesimo anno – wohl auf Vorschlag von Gustav Gundlach SJ – wiederholt: Der Sozialismus sei mit der Lehre der Kirche nicht vereinbar, weil er in Wirtschaft und Gesellschaft „lediglich eine Nutzveranstaltung“ sehe und die Unterordnung an die Sachnotwendigkeiten verfolge, nicht aber die freie Persönlichkeit des Menschen schützen möchte. Man könnte jetzt die Meinung vertreten, damit hätte man kirchlicherseits die Positionierung des ethischen Sozialismus in der SPD unterstützen wollen. Aber tatsächlich wurden diese Vorwürfe auch noch nach der Verabschiedung des Godesberger Programms weiter mehrfach geäußert.
Worum ging es? Es ging um die Bedeutung des katholischen Verständnisses des Naturrechts für die Grundwerte der allgemeinen Politik. Den Erneuerern der sozialdemokratischen Programmatik blieb das naturrechtliche Denken weitgehend verschlossen. Es scheint so, als bliebe bei ihnen eine Distanz bestehen aus der Vermutung heraus, das Naturrecht werde von einer nicht kontrollierbaren kirchlichen Instanz verwaltet. Fast alle führenden Gestalter des Godesberger Programms stammten aus dem Protestantismus. So bemerkte der aktive evangelische Christ Adolf Arndt, das lutherische Misstrauen gegen die Vernunft, der ausschließliche Bezug der Reformation auf die Offenbarung, die Vorstellung vom Menschen als dem bleibenden Sünder und die Lehre von den zwei Reichen mache es einem Protestanten nicht möglich, von einem Naturrecht zu sprechen, also von den der sittlichen Vernunft des Menschen von Gott mitgegebenen Kategorien und Kriterien für eine menschliche Gestaltung der weltlichen Gemeinschaft. Denn genau darum geht es: Die Naturrechtsethik verweist die praktische Vernunft an die von der theoretischen Vernunft erkannte Natur des Menschen. Natur meint hier: Es gibt Erkenntnisse, die sind a priori evident, so wie: „Tue das Gute, meide das Böse.“ Es gibt andere Begriffe dafür, die aber dasselbe meinen: Vernunftrecht, überpositives Recht, Grundwerte, Menschenrechte. Unabhängig von Religion und Weltanschauung gelten diese Prinzipien. Sie können autonom erkannt und befolgt werden. „Naturrecht“ ist eine Bezeichnung, die darauf hinweist, dass das damit gemeinte „vorgegeben“ ist, d.h. nicht vereinbart und auch nicht befohlen wurde. Es ist unabhängig vom menschlichen Willen oder von gesellschaftlichen Mehrheiten. Das klingt alles sehr nach Kant und den Grundlagen eines ethischen Sozialismus. Damals aber klang das etwa im Streit um die Bekenntnisschule in der Bundesrepublik noch völlig anders. Von katholischer Seite wurden aus dem Naturrecht ausschließlich Imperative des Erhaltens und Bewahrens gefolgert. Hier stand Autorität gegen Eigenverantwortung. Der Verdacht, dass der Bezug auf das Naturrecht der Ideologisierung und Klerikalisierung diene, stand im Raum.
Weltanschauung und Menschenbild
Nach zehnjähriger KZ-Haft rief Kurt Schumacher, der schwerkranke Parteivorsitzende der SPD, unmittelbar nach dem Krieg aus, es sei gleichgültig, ob sich jemand dem Sozialismus zuwende aus marxistischer oder aus humanitär-ethischer Gesinnung oder ob er dem Geist der Bergpredigt folge. Politik und Parteien sind keine Weltanschauungsprojekte, sondern von Menschen und ihren gemeinsamen sittlichen Werten geprägt. Das „Godesberger Programm“ stellte das als Grundsatz der Partei gleich an den Anfang.
Die Menschen sind verschiedenartig, aber nicht verschiedenwertig. Genau das meint die Überzeugung von der Gleichheit der Menschen. Und damit wären wir wieder bei Kant und dem Sozialismus. Wer den Wert eines Menschen von seinem sozialen Nutzen abhängig macht oder von der Art seiner Leistungen, der sieht ihn vielleicht als gleichartig, sicherlich aber als verschiedenwertig an. Unterschiede dürfen bei der Legitimation von politischer Macht keine Rolle spielen. Das Ziel der Sozialdemokratie besteht nicht in der Nivellierung der Individuen, sondern im Gegenteil in der optimalen Entfaltung und der größten Anerkennung ihrer jeweiligen Individualität. Der zentrale Ordnungsgedanke des Godesberger Programms liegt darin, den Menschen in seiner personalen Würde zum Grund und Ziel der Gesellschaft zu erklären. Es beschreibt den Menschen als Person in Freiheit und Gemeinschaft. Die Tatsache, dass dem Menschen in der Würde seiner Freiheit und mitmenschlichen Verantwortlichkeit ein unantastbarer Wert und der absolute Vorrang gegenüber allen Institutionen zukommt, ist der bestimmende Gedanke zu den Grundwerten der Politik.
Die Katholische Akademie in Bayern hatte im Januar 1958 zu der später legendär gewordenen Tagung „Christentum und demokratischer Sozialismus“ eingeladen. Dort warf Pater Gundlach der SPD vor, sie sei gar keine Partei, weil sie keine Weltanschauung vertrete. Als Prototyp der politischen Partei galt ihm wohl die Christdemokratie, als Gegenstück die Liberalen. Nun traf er bei den Sozialdemokraten einen wunden Punkt, hatten sie sich doch intern wie extern gegen den marxistischen Materialismus als Weltanschauung gewehrt. Adolf Arndt antwortete auf der Tagung gegen Gundlachs Kritik: „Wenn damit gemeint sein soll …,
daß alle politische Entscheidung auch sittliche Entscheidung ist und daß es keine politische Auffassung gibt ohne eine ethische Fundierung und Motivation, dann sind wir darüber völlig einig, nur würden wir das nach dem bisherigen Sprachgebrauch noch nicht eigentlich als Weltanschauung bezeichnen, ...“. Die SPD basiert auf Werten, nicht auf weltanschaulichen Wahrheiten! Sie hat sich über mehr als 160 Jahre behaupten müssen gegen materialistisches, christlich-konservatives und liberales Gedankengut.
„Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, hatte Kant als Motto der Aufklärung vorangestellt. Mut und Verstand – unter großen Opfern haben die freiheitlich-demokratischen Sozialisten gegen „Nationalsozialismus“ und „real existierenden Sozialismus“ gestanden. Die sittliche Idee von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität für alle und überall bewegte sie dabei. Sie sind „eine Gemeinschaft von Menschen, die aus verschiedenen Glaubens- und Denkrichtungen kommen. Ihre Übereinstimmung beruht auf gemeinsamen sittlichen Grundwerten und gleichen politischen Zielen … Der Sozialismus ist eine dauernde Aufgabe – Freiheit und Gerechtigkeit zu erkämpfen, sie zu bewahren und sich in ihnen zu bewähren.“ So lautet die bekannte Formulierung des „Godesberger Programms“, die die praktische Philosophie Immanuel Kants mit den Erfahrungen der Arbeiterbewegung zu einer demokratischen Reformpolitik verbindet.