Lehnert, Christian: Das Haus und das Lamm. Fliegende Blätter zur Apokalypse des Johannes.
Berlin: Suhrkamp 2023. 268 S. Gb. 26,–.
Sehr genau nimmt Christian Lehnert die Natur wahr: im Kleinklein der Insekten, Blätter und ihren Farbnuancen wie in der Weite der Wälder und Täler und Wolken, in Wildheit und Chaos wie in Kraft und Zielstrebigkeit, im Wachsen und Blühen wie im Fressen und Gefressenwerden. Ein Ich-Erzähler verbringt in einer Lebenskrise viel Zeit in einem abgelegenen alten Haus im Erzgebirge. Er ist radikal alleine und setzt sich zuinnerst der Natur aus – und wird zum Dichter und Mystiker. Immer wurzelt er sich ein in Realität und transzendiert sie zugleich. Er wird zum Beter, aber er betet zu einem durchgestrichenen Gott, der eben nicht Sklave unserer Begriffe oder Bilder ist, sondern ganz der andere Gott.
Entlang des letzten und rätselhaftesten Buches der Bibel, der Offenbarung des Johannes, geht Lehnert große theologische Themen durch: Apokalypsis ist Bloßlegung, also Nacktheit, Öffentlichkeit; Gott zeigt seine Zukunft (39). Die Not des Betens: Verse zu repetieren, ist eigenartig hohl, aber darin zeigt sich Kraft. Die Worte sind ratlos, sie kreisen wie Krähen am Himmel, lassen sich nieder. Zu sagen gibt es nichts vor dem Gott, aber zu vertrauen… (56 f.). Und wieder die Poesie der Natur: „Der Hochwinter klärte die Formen der Bäume, ließ die Zweige der Kronen wie erstarrte Explosionen aus Wurzeln und Stämmen erscheinen, ausgestoßener Atem Holz. Jeder Baum war geronnene Lauterkeit, ein Auflodern – gelassen im Verströmen, das ihn bildete. Bei ihm und in ihm war der Raum, wie er sein sollte: erfüllt“ (115). Über das Feuer denkt Lehnert mit Heraklit und Hölderlin nach: Es ist dauernde Verwandlung, Atem, Austausch und Verfließen. Auch im „atmenden Körper“ des Erzählers „ging ein dauerndes, verborgenes Brennen, Vermischung von Asche und Gas und Rohstoff, verwandelt zu Wärme und Bewegung“. Das Holzfeuer im Ofen ist „Ball und Wirbel. Immer ist ein Feuer ein Opferfeuer. Denn es verzehrt, um etwas anderes zu eröffnen“, ist Verwandlung. „Brennen, Atmen, Opfern, Beten – das sind im Ursprung Synonyme“ (216). Über das tausendjährige Reich (Offb 20): Es weder ganz ins Jenseits zu verlagern noch ins Diesseits zu zwingen, wie es politische Utopien immer wieder versuchten, mit unendlichem Leid…, sondern es als „einen solchen heiklen Zwischenraum, eine schnell entzündliche Berührungsstelle“ zu halten, das geht für Lehnert nur über die Inkarnation, über die biblischen Geschichten um Jesus, seine Heilungskraft, seine Auferstehung; die Sprache wird wieder ambivalent, kreisend, dichterisch (218 ff.). Über das Leiden zu sprechen, misslingt in mehreren Versuchen; schließlich nähert sich Lehnert ihm über das Lamm der Apokalypse: Gott wird „er selbst am Kreuz“, in der vollkommenen Liebe, als sprachloser logos, in dem die leidende Kreatur vergöttlicht wird (249).
Lehnert geht an Grenzen und über Grenzen, sprachlich und denkerisch. Sein Buch ist Narration, Essay, Reflexion, Dichtung, alles an der Grenze zum Verstummen, und doch in faszinierender sprachlicher Meisterschaft. Berührend, wie er immer wieder zur Natur zurückkehrt und diese zur Lehrmeisterin der Theologie und Mystik wird. Das Buch ist ein Kosmos, immer wieder zu lesen, zugleich klar und wirr, kostbar und unauslotbar, aufbrechend und vorantreibend, geisterfüllt, tröstend.
Stefan Kiechle SJ
Schmidt-Lauber Brigitta / Liebig, Manuel (Hgg.): Begriffe der Gegenwart. Ein kulturwissenschaftliches Glossar.
Wien-Köln: Böhlau 2022. 312 S. Kt., 30,–.
Im deutschen Sprachraum ist die andernorts sogenannte Sozial- und/oder Kulturanthropologie aufgespalten, und zwar in die ehemals „Volkskunde“ genannte Disziplin, die ursprünglich inländische, heutzutage meist als „Europäische Ethnologie“ innereuropäische Gesellschaften untersucht, und in das weithin als „Völkerkunde“ bekannte Fach, das gegenwärtig unter Namen wie Ethnologie oder Anthropologie auf das Studium außereuropäischer Gesellschaften spezialisiert ist. Beide Disziplinen verstehen sich als empirische Kulturwissenschaften, pflegen weitgehend denselben qualitativen und holistischen Forschungsansatz, für welchen die Teilhabe an der jeweiligen Alltagskultur von zentraler Bedeutung ist – und werden beide oft immer noch als etwas kuriose Orchideenfächer angesehen, obwohl sie nicht nur für Philosophie und Theologie, Entwicklungszusammenarbeit und alle Formen interkultureller Begegnungen und Konflikte wertvolle und geradezu unverzichtbare Kenntnisse vermitteln.
In dem von zwei Europäischen Ethnologen der Universität Wien herausgegebenen Sammelband werden 32 gegenwärtig in vielen Diskussionen und Analysen gesellschaftlicher Probleme anzutreffende Begriffe von 36 AutorInnen kritisch begutachtet, von denen über die Hälfte in Instituten Europäischer Ethnologie tätig ist. Die im als Handbuch konzipierten Band alphabetisch angeordneten Begriffe könnte man auch in drei größeren Gruppen (etwa: Kultur, Volkskultur, Tradition, Brauch, Werte, Kulturelles Erbe; dann: Asyl, Flüchtling, Fluchthilfe, Integration, Migration, Migrationshintergrund, Willkommenskultur; und: Heimat, Einheimisch, Ethnisch, Volk, Gemeinschaft, Nationalstaat, Deutsch) und sechs Zweiergruppen (Identität, Rassismus; Angst, Sicherheit; Moderne, Globalisierung; Geschlecht/Gender, Verwandtschaft; Europa, Islam; Demokratie, Populismus) lesen. Die jeweils sieben bis acht Seiten langen Artikel haben stets denselben Aufbau: Auf eine Kurzdefinition folgt eine knappe Darstellung des gegenwärtigen problematischen Wortgebrauchs in öffentlichen Debatten. Darauf werden die Geschichte des Begriffs in historischer, weitestgehend auf den deutschen Sprachraum beschränkter Perspektive und dann seine kulturwissenschaftlichen Implikationen und Verschiebungen skizziert. Abschließend gibt es einen „Ausblick“ mit Empfehlungen oder Warnungen zum unkritischen Wortgebrauch und eine kleine Literaturliste für weiter am Thema Interessierte, wobei immer wieder unterstrichen wird, dass es sich um Begriffe der deutschen Sprache handelt, deren wörtliche Übersetzungen in anderen europäischen Sprachen nicht selten nicht genau dieselben, sondern unter Umständen sogar recht verschiedene Bedeutungen haben.
Die beiden ausgezeichneten kurzen Einführungen der beiden Herausgeber erklären sowohl den Ursprung des Buches (eine Vortragsreihe „Begriffe als Probleme: Wortgebrauch in Wissenschaft und Gesellschaft“) als auch an wen es sich richtet, nämlich an „ein breites Publikum, an MultiplikatorInnen wie JournalistInnen oder LehrerInnen, an Wissbegierige, die sich eine eigene Meinung bilden wollen wie SchülerInnen und Studierende unterschiedlichster Fachrichtungen, sowie allgemein an politisch, sozial und kulturell interessierte LeserInnen, die den gesellschaftlichen Wortgebrauch reflektieren und ihr Begriffsverständnis schärfen wollen“ (12).
Etwas seltsam mutet jedoch die Bemerkung an, dass das Buch zwar auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und analytischen Beobachtungen der AutorInnen basiere, aber „weder einen Anspruch auf Vollständigkeit und Objektivität noch auf Wahrheit“ (14, Hervorhebung d. Rez.) erhebe. Werden auf diese Weise nicht die Empfehlungen und Warnungen zu Meinungen herabgestuft? Auch scheint die wiederholt zum Ausdruck gebrachte Sorge um die mögliche Rechtfertigung von oder sogar Anstiftung zur gesellschaftlichen Ausgrenzung durch einseitig definierte Kampfbegriffe oder einfach nicht genügend reflektierten Wortgebrauch gelegentlich außer Acht zu lassen, dass Ethnologische Kulturanthropologie ja auf der Anerkennung von unterschiedlichen Lebens- und Denkformen und somit auf darstellender und theoretischer Abgrenzung und Kontrastierung beruht. Auch deswegen wäre es interessant, zu erfahren, wie die Liste der ausgewählten Begriffe erstellt wurde.
Man kann den AutorInnen dieses für die genannten Leserkreise sehr nützlichen und interessanten Glossars nur wünschen, bald einen zweiten Band dieser Art vorzulegen.
Stefan Krotz
Brüggemann, Axel: Die Zwei-Klassik-Gesellschaft. Wie wir unsere Musikkultur retten.
Frankfurt am Main: Frankfurter Allgemeine Buch 2023. 248 S. Gb. 24,–.
Die Klassik-Musik-Branche ist im Umbruch: Das Publikum ist überaltert, gesellschaftlich werden die hohen Subventionen infrage gestellt, die alten Formate passen nicht mehr in die digitale Welt. Axel Brüggemann ist Musikjournalist und beschreibt die Phänomene kenntnisreich und umfassend: Das Klassik-Publikum sei eine „sterbende Generation“, antagonistisch zur „letzten Generation“ – daher seine „Zwei-Klassik“-Rede. Zwischen dem Wunsch nach klassischen Opernritualen und dem modernen Regietheater sieht er einen großen Konflikt. Die autoritären Machtstrukturen und die ungünstigen Arbeitsbedingungen verhindern, dass gutes Personal gewonnen wird. Die Musikkritik und ebenso die schulische Musikbildung sind am Ende – blamabel für die Musiknation Deutschland. Der Klassikbetrieb ist zu wenig ökologisch nachhaltig – siehe die Tourneen großer Orchester oder die allzu üppigen Opern-Inszenierungen. Der politisch-gesellschaftliche Auftrag, Debatten zu führen, wird zugunsten tagespolitischer Einwürfe vernachlässigt. „Die Politik“ fördere zu wenig die Musikkultur. Der Tonträgermarkt über die alten Labels sei am Ende. In der Pandemie lernten die Musikinstitutionen zwar, wie sie über Streaming ihre Produkte weiterhin verbreiten können, aber die Formate blieben zu traditionell, als bloßes Abfilmen klassischer Aufführungen, es brauche ganz neue, ins Digitale passende Formate.
Was wird neu kommen? Hier beschreibt das Buch einige innovative Projekte, recht anregend. Darüber hinaus bleibt es eher allgemein, mit sehr viel „sollte und „muss“, ohne konkrete Angabe der Akteure. Das Buch ist recht journalistisch gemacht, mit schnellen Urteilen, teilweise auch eher von oben herab. Etwa im heiklen Kapitel über Kunst und Politik meint der Autor, Künstler sollen sich nicht in Politik einmischen: Igor Levit wird wiederholt abgebürstet, weil er viel redet („findet es in Ordnung, wenn Kunst sich mit der Realpolitik ins Bett legt“; „hat diesen musikalisch-politischen Beischlaf zur eigenen Kunst erhoben“; 121); Currentzis hingegen sündige durch Schweigen – wie Gergiev habe er sich der Politik verkauft. Dann gibt es wieder ein Loblied auf ältere politisierende Kunst: Beuys, Chereau, Peymann, Schlingensief. Thielemann will – auch das wird gelobt – die reine, politikfreie Kunst. Brüggemann ist in all dem nicht sehr kohärent, er mäandert, bleibt im Kern konservativ bei den Alt-68ern. Der Titel ist sprachlicher Unsinn: Meint er zwei „Klassiken“, was immer das sei, oder zwei Gesellschaften – hat der Verlag kein Lektorat? Das Buch ist eher leichtgewichtig, teilweise schwach: „Gerade in Zeiten klammer Kassen ist es wichtig, nicht verbohrt alte Privilegien zu verteidigen, sondern neue Chancen zu ergreifen“ (179) – solche Binsen gibt es zuhauf. In der Analyse ist es für Nichtfachleute noch recht informativ, in der Innovation hält es das Versprechen des Untertitels nicht ein und bleibt ähnlich ratlos wie die ganze Branche. Über Musik erfährt man kaum etwas.
Stefan Kiechle SJ