Rezensionen: Politik & Gesellschaft

Carrère, Emmanuel: V13. Die Terroranschläge in Paris. Gerichtsreportage.
Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Berlin: Matthes & Seitz 2023. 275 S. Gb. 25,–.

„V13“ ist die Kurzformel für Freitag/Vendredi der Dreizehnte. Am 13.11.2015 wurden Paris und ganz Frankreich von den Terroranschlägen auf die Konzerthalle Bataclan, auf die Caféterassen im Osten der Stadt und vor dem Stade de France erschüttert, wo das Länderspiel Frankreich-Deutschland ausgetragen wurde. Die Anschläge rissen einhundertdreißig Menschen in den Tod. Der V13-Prozess begann sechs Jahre danach und dauerte von September 2021 bis Juni 2022. Neun Mitglieder des Kommandos waren zwar tot, aber aus dem tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützerumfeld standen vierzehn Angeklagte vor Gericht. 1800 Nebenkläger und 350 Anwälte wirkten bei dem Prozess mit. Die Akten stapelten sich auf 53 Meter Höhe.

Der Autor, einer der wichtigsten zeitgenössischen Schriftsteller Frankreichs mit nicht zuletzt besonderem Interesse an den „pathologischen Mutationen“ (149) von Religionen, hier besonders des Islam, besuchte die Verhandlungen vom ersten bis zum letzten Tag und schrieb Kolumnen für den „Nouvel Observateur“, die er in der vorliegenden Reportage überarbeitet und ergänzt. Er beschreibt den Prozess mit seiner konsequent arbeitenden Logik, die Zeugenaussagen der Betroffenen, Arbeit und Auftritte der Staatsanwaltschaft, der Nebenkläger und auch der Verteidigung, den Richter, die Journalisten, das Publikum, die Angeklagten. Er zitiert Simone Weil: „Das imaginäre Böse ist romantisch, romanhaft und immer verschieden. Das reale Böse ist trist, öd und langweilig. Das imaginäre Gute ist langweilig; das reale Gute ist immer neu, wunderbar und berauschend“, und er ergänzt: „Man spricht zu oft und zu bereitwillig vom Mysterium des Bösen. Zum Sterben bereit sein, um zu töten, oder zum Sterben bereit sein, um zu retten – welches ist das größere Mysterium?“ (60). Man lese dazu nur die Geschichte von Sonia (180-192), die ihren „Verrat“ an einem der flüchtigen Attentäter damit bezahlen muss, für den Rest des Lebens mit der Todesdrohung zu leben, und die es nicht bereut. „Das Wort reuig ist einigermaßen absurd, handelt es sich doch um eine Frau, die Dutzende von Leben gerettet hat und dafür ein normales Leben für sich und ihre Familie für immer aufgeben musste“ (192).

Die Tristesse des Bösen wird hingegen sichtbar bei denjenigen Beschuldigten, die sich als Opfer der Beschuldigung präsentieren (der Hauptangeklagte beklagt sich bei seiner Befragung darüber, dass die Justiz „sein Leben zerstört“ habe – 169). Hinter dem Vorhang von Lüge und Wahn zeigt sich dann die Banalität des Bösen, das elende Milieu der Konspiration, die Süchte und gegenseitigen Abhängigkeiten, die Lächerlichkeit des Größenwahns sowie die Verlogenheit einer Brüderlichkeit, die „Brüder“ in den Abgrund mit hineinzieht, bloß um sich selbst zu retten.

Zwei Dinge sind es, die diese Lektüre für mich lohnend gemacht haben: Die Momente der Menschlichkeit, die während der Verhandlung aufleuchten, und dies nicht nur auf der einen oder anderen Seite des Gerichts. Und: Die versöhnende Kraft der Rechtsprechung in einem Rechtsstaat, der sich an seine Regeln und auch an seine Grenzen hält. Das ist eine ermutigende Botschaft für alle, die den Rechtsstaat bejahen, weil sie mehr von ihm erwarten als bloß, dass er ihnen Recht gibt, auch dann, wenn er ihnen tatsächlich Recht gibt.

                Klaus Mertes SJ

Huth, Werner: Glaube, Ideologie und Wahn. Der Mensch zwischen Realität und Illusion.
Freiburg: Herder 2023. 442 S. Gb. 32,–.

Es überrascht, wenn ein Buch von 1984 neu aufgelegt wird. Doch dieses monumentale, überarbeitete Werk ist heute aktueller denn je! Der Münchner Psychiater und Therapeut Werner Huth (geb. 1929) ist auch Meditationslehrer und obendrein philosophisch und theologisch gebildet. Er nähert sich dem Phänomen „Glauben“ von der Empirie des Psychologischen, des Sozialen in modernen Gesellschaften und von der philosophisch-theologischen Vernunft her. Diese letzte Zugangsweise ist vor allem inspiriert von Karl Rahner, mit dem er als Kollege an der jesuitischen Hochschule für Philosophie in München im gegenseitigen Austausch war.

Huth analysiert den Glauben als „zentrales, ganzheitliches menschliches Phänomen“ (373), wohingegen „Ideologien und Wahn … Irrformen des Glaubens“ (373) sind. Er setzt dabei „Glauben“ nicht „mit religiösem Glauben“ gleich (117). Es geht ihm um ein „allgemeinmenschliches Phänomen“ (117). Für unseren Autor ist der Mensch nicht unrettbar religiös, aber „unrettbar gläubig“, und das in allen Schattierungen der Wortbedeutung: vom vorpersonalen putare, „vermuten“, bis zu personalem und transpersonalem credere, „sein Herz geben“. Huth diagnostiziert den Glauben „als personalen Vorgang von äußerster Komplexität“ (161) im Gegensatz zu den ideologischen und wahnhaften „Zerrformen des Glaubens“. Ideologen pressen den Glauben in ein klar definiertes System (247-336); Wahnkranke, die vom Zerfall ihres Ichs bedroht sind, schaffen sich ein illusionäres Ego-Reich (337-370). Beide Schwundformen wurzeln im Narzissmus, in der Reduktion von Wahrnehmung und in existentieller Angst. Der Wahnhafte lebt seine „Es-Anteile“ in der scheinbaren Steigerung der Lust, der Ideologe ordnet sich einem „Über-Ich“, dem großen Führer oder der definitiven Heilslehre unter und gibt seine Freiheit auf.

„Glauben“ ist für Huth ein Lebensprozess, der sich entwickelt im Dreieck von Ich-Identität, von Zuwendung zur Wirklichkeit und von personaler Zuwendung zum Du, zur Mitwelt. Ideologien und Wahn sind weder ganzheitlich noch werden sie der Interpersonalität und dem vielschichtigen Selbst des Menschen gerecht. In einem realen Menschen wie in den faktischen Religionen sind immer Elemente des Glaubens auch mit Ideologie oder wahnhaften Vorstellungen durchsetzt. „Glauben“ ist ein anspruchsvoller, offener Prozess. Der Glaube kennt die „Erschütterlichkeit“, er ist nicht einfach „absolute Gewissheit“ (152). Vielmehr hält er die manchmal unerträglichen Antinomien aus und versucht, sie als Ambiguitäten, als Polaritäten, zu begreifen und fruchtbar zu machen. Die Spannung zwischen Partizipation an göttlicher Kraft bei gleichzeitiger Erfahrung des eigenen Elends produktiv auszutragen, kann nur ein „pontifex oppositorum“ (Brückenbauer der Gegensätze), wie Huths Lehrer Leopold Szondi den Glaubenden charakterisiert. Ein Ideologe müsste alles, was gegen seine Lehre spricht, bekämpfen oder gar ausrotten. Ein Wahnkranker würde die Gegensätze leugnen oder überspielen. Die spannungsvolle Trias von Glaube, Liebe und Hoffnung ist beiden fremd.

Huths fundamentales Werk passt in eine Zeit neuer nationaler Ideologien, in der wahnhafte Führungsgestalten Oberwasser gewinnen, Kriege anzetteln und Angst schüren. Es passt in eine Epoche der Individualisierung, in der die Kirchenzugehörigkeit schwindet und gleichzeitig eine neue Sehnsucht nach Spiritualität aufbricht. Huths Analysen könnten den interreligiösen Dialog befruchten und aus „verbildetem Glauben“ (Viktor E. Frankl) zum wahren Glauben führen.

                Karl Kern SJ

Mayer-Tasch, Peter Cornelius: Von Glanz und Elend der Gnade. Ein Beitrag zur Politischen Theologie.
Regensburg: Friedrich Pustet 2023. 96 S. Kt. 18,–.

Dem Rechts-, Politik- und Kulturwissenschaftler Peter Cornelius Mayer-Tasch, der sich mit seiner Publikation in teils theologische Fahrwasser wagt, gelingt es, aufgrund seines Streifzugs durch die wechselvolle Geschichte des Christentums einen Beitrag zur politischen Theologie zu leisten.

Wer sich heute in der Theologie und darüber hinaus mit dem Themenkomplex der Gnade auseinandersetzt, muss sich zuallererst an eine Definition des Begriffs machen. Dazu beleuchtet Mayer-Tasch kritisch das „Gnadenvermittlungsmonopol“ (16) der Kirche im Laufe der Geschichte. Dem Begriff der Gnade wohnt eine Dialektik inne, welche sich auch anhand etymologischer Überlegungen erhärtet. „Samt seinen diversen Variationen verweist der Begriff der Gnade also in aller Regel auf einen eher lebensfreundlichen und daher auch erfreulichen Befund“ (20).

In einem zweiten Abschnitt (24-41) skizziert der Vf. „Gott“ (im weitesten Sinne verstanden) als Urquell der Gnade und die Religionen als Nutznießerinnen der Gnade, die sie im Verlauf der Geschichte auch für ihre Interessen zu verwenden wussten. „Korruptions- und (sexuelle) Missbrauchsskandale, die in früheren Zeiten erfolgreich vertuscht und in den kirchlichen Untergrund verwiesen werden konnten, werden immer häufiger aufgedeckt und beschleunigen auf diese Weise die Delegitimationsdynamik der christlichen Kirchen“ (38).

Aber nicht nur innerkirchlich, sondern auch im nunmehr „weltlichen“ Bereich (42-58) ist spätestens seit Karl dem Großen die Rede vom „Gottesgnadentum“, welches für zahlreiche Herrscherdynastien Europas vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert und deren rechtmäßigen Herrschaftsanspruch maßgebend, aber mitunter auch für Konflikte zwischen Kreuz und Krone verantwortlich war (bspw. Gang nach Canossa). Dem Vf. gelingt es, aufgrund seiner kritischen Auseinandersetzung eine umfassende Darstellung zu skizzieren, und er weist auf einige mit einem Theismus und dem Gottesgnadentum verbundene Probleme und Herausforderungen hin, welche seiner Auffassung nach eher eine Abkehr vom Gedanken des Gottesgnadentums befeuern, als ihn zu bestärken. „Den endgültigen Todesstoß versetzte dem Gottesgnadentum als ernsthaft behauptetem politischem Legitimationskonzept der Erste Weltkrieg […]“ (52). Seitdem ist es in der Gegenwart obsolet geworden.

Ebenso wie ein Vorstoß des Christentums (59-77) ohne die Figur Kaiser Konstantins möglich gewesen wäre, hängt auch die enge Verbindung zwischen politisch-weltlicher und kirchlicher Macht und die aus dieser Verbindung resultierende wechselvolle Geschichte des Christentums mit dem römischen Kaiser zusammen. „Insoweit lässt sich aus politikwissenschaftlicher Sicht wohl mit Fug und Recht sagen, dass die Lichtgestalt des Christentums zu einem ‚Gott von Kaisers Gnaden‘ wurde – wie immer es sich mit seiner (für uns nicht wirklich erfassbaren) ‚wahren Natur‘ verhalten (haben) mag“ (77).

Im abschließenden Kapitel dieser knappen Publikation beschreibt der Vf. den Begriff der Gnade von einem rationalen (78-84) und von einem metarationalem (85-89) Standpunkt aus, ehe eine Gegenüberstellung des Begriffspaars der docta ignorantia von Nikolaus Cusanus mit dem dargestellten Verständnis von Gnade den Gedankengang abschließt.

                Tobias Simonini

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

Stimmen der Zeit-Newsletter

Ja, ich möchte den kostenlosen Stimmen der Zeit-Newsletter abonnieren und willige in die Verwendung meiner Kontaktdaten zum Zweck des E-Mail-Marketings durch den Verlag Herder ein. Den Newsletter oder die E-Mail-Werbung kann ich jederzeit abbestellen.
Ich bin einverstanden, dass mein personenbezogenes Nutzungsverhalten in Newsletter und E-Mail-Werbung erfasst und ausgewertet wird, um die Inhalte besser auf meine Interessen auszurichten. Über einen Link in Newsletter oder E-Mail kann ich diese Funktion jederzeit ausschalten.
Weiterführende Informationen finden Sie in unseren Datenschutzhinweisen.