Rezensionen: Geschichte & Biografie

Münkler, Marina: Anbruch der neuen Zeit. Das dramatische 16. Jahrhundert.
Berlin: Rowohlt 2024, 539 S. Gb. 34,–.

Die Professorin für Ältere und Frühneuzeitliche deutsche Literatur und Kultur an der TU Dresden Marina Münkler weitet in angenehm lesenswerter Weise den Blick auf das lange 16. Jahrhundert, das sich mit 1453 (Fall Konstantinopels) oder 1492 (Kolumbus) beginnen und mit dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges (1618) beenden lässt, über den europäischen Raum hinaus. Das ist nicht nur ihren Ausführungen zu den Eroberungszügen von Portugiesen und Spaniern in Amerika geschuldet, sondern auch der eingehenden Behandlung des expandierenden Osmanischen Reiches bis zum Indischen Ozean. Viele Details über die gesellschaftlichen, politischen, religiösen und wirtschaftlichen Veränderungen in diesem Jahrhundert werden geboten und in Beziehung zueinander gesetzt, so dass geschichtlich Interessierte einen sehr guten Überblick gewinnen können.

Bei den europäischen Eroberungen lenkt die Autorin den Blick auch auf die Auseinandersetzung um die Legitimation dieses Geschehens und den Umgang mit der indigenen Bevölkerung Amerikas. Interessant, weil oft nicht so im Blick unseres Geschichtsbewusstseins, sind die Ausführungen über die neue Großmacht im Südosten Europas, das Osmanische Reich, die Unterwerfung des ägyptischen Mamluckenreiches und die Ausdehnung auf Kosten des persischen Safawidenreiches. Das Interesse des Osmanischen Reiches an einem ungestörten Indienhandel brachte es allerdings in Konflikt mit jener europäischen Großmacht, die im Kampf um die Vormachtstellung im Mittelmeer als Gegner nicht aufgetreten war: Portugal. Seine Flotte zeigte dem Osmanischen Reich im Osten (ähnlich der erfolglosen Belagerung Wiens im Westen) aber die Grenze seiner Expansionsfähigkeit auf. Interessant auch, dass gerade italienische Humanisten angesichts der Eroberung Konstantinopels die Kreuzzugsidee aufgriffen und an der sprachlichen Herabwürdigung der Türken als „Barbaren“ und „Bestien“ maßgeblich Anteil hatten. Dagegen beschrieb der Dominikaner Georg von Ungarn deren Religiosität als tiefgehend, das Auftreten des Herrschers als unprätentiöser als dasjenige christlicher Herrscher.

Auch die Reformatoren und ihre Gegner zeichneten sich durch sprachliche Abschätzigkeit des jeweils anderen aus, ein Kampfmittel, ermöglicht durch die Erfindung des Buchdrucks. Dass es auch bei den Reformatoren „Heilige“ gab, meist Märtyrer für den Glauben, zeigt ebenso eine Nähe der Konfessionsparteien zueinander wie auch die ersten Hexenverfolgungen. Auf beiden Seiten wurde verfolgt und gemordet, was vom mittelalterlichen kirchlichen Lehramt noch untersagt war. Dass das 16. Jahrhundert auch ein Zeitalter des Lernens voneinander war, hätte vielleicht doch noch an der Reaktion der katholischen Kirche auf die Reformation gezeigt werden können. Das Trienter Konzil wird nur einmal kurz erwähnt. Das ändert aber nichts daran, dass Marina Münkler ein Buch mit viel Detailwissen einerseits und zugleich gut zugängliche Einblicke in die „Anbrüche“ des 16. Jahrhunderts vorgelegt hat.

                Gundolf Kraemer SJ

Zimmer, Oliver: Prediger der Wahrheit. Von der Reformation zur modernen Elitenherrschaft.
München: Claudius 2024. 100 S. Kt. 20,–.

Öfters steht in dem schmalen Buch „epistokratisch“, ohne dass dieser Neologismus definiert oder erklärt würde. Er meint wohl, dass kenntnisreiche, vielleicht auch weise Menschen regieren; eine Elite von hoch gebildeten Personen verfügt über das Herrschaftwissen ihrer Zeit und dominiert dadurch in Gesellschaft, Staat und Kirche. Die These des Buches ist nun, dass nach der mittelalterlichen klerikalen Epistokratie sich im Gefolge der Reformation eine neue Elite von Pastoren formte, die, ausgebildet und unterstützt von Kirche und Staat und in ihrer Lehre auf Linie gebracht vor allem durch das Instrument der Katechismen, für Jahrhunderte die gesellschaftliche Vorherrschaft übernahm. Heute ist diese Epistokratie auf den Stand der Richter übergegangen, die durch ihr Wissen auch über den Staat und die Gesetzgebung – siehe die Dominanz des Bundesverfassungsgerichts – wachen und diese beherrschen.

Der Essay ist gut lesbar und anregend, seine These wirkt bestechend. Oliver Zimmer ist Historiker mit guter Kenntnis der Reformation – in diesem Feld argumentiert er ausführlich und überzeugend. Beim schnellen Sprung zur Gegenwart fragt sich, ob die Dominanz der Juristerei nicht überschätzt wird. Herrschaft gibt es auch durch andere Wissenschaften und durch andere soziale – vor allem wirtschaftliche, auch politische – Eliten; in Zeiten weltweit zunehmender rechtspopulistischer und autokratischer Herrschaften verschiebt sich das Gefüge nochmals massiv, weg vom Wissen, hin zu demagogischen Mechanismen oder zur puren Macht.

Eher kurz kommt bei Zimmers Geschichte der katholische Anteil: Das Mittelalter wird nur kurz gestreift, so dass die Reformation in diesem Aspekt als innovativer erscheint, als sie wohl war. Auch die katholische Reform – ihre Katechismen, ihre Bildungsarbeit – wird nur kurz erwähnt, der Beitrag der Jesuiten und jener des Trienter Konzils kommen wenig vor. Die katholische „Epistokratie“ wurde im konfessionellen Wettstreit freilich weniger durch eine mehr oder weniger egalitäre geistige Elite ausgeübt, sondern sie war und ist hierarchischer, auch zentralisierter und globalisierter als jene der evangelischen Pastorenschaft. Fraglich ist auch, ob man so allgemein bei den Wissenden, also den hoffentlich auch Klügsten und Kompetentesten, die Macht vermuten darf – die Realität bestätigt dieses Ideal nicht immer.

                Stefan Kiechle SJ

Conrad, Sebastian: Die Königin. Nofretetes globale Karriere.
Berlin: Propyläen 2024. 386 S. Gb. 29,–.

In der Einleitung werden alle Aspekte entfaltet, die seit der Präsentation Nofretetes 1924 in Berlin aus ideologischer, politischer und kinematografischer Perspektive die Existenz und den Besitz der Büste diskutieren. Dabei spielt sicherlich die technische Entwicklung der Visualisierung und digitalen Präsentation eine Rolle. „Schönheit“ und „schwarz“ oder „weiß“ (15 f.) sind Beschreibungskategorien und Versuche, die Büste für identitätspolitische Interessen zu vereinnahmen (17).

Am Anfang steht die spannende Erzählung, wie, wann, wo und von wem (21 f.) die Büste gefunden wurde. Wie schon in früheren Fällen wurde der ursprüngliche Finder ignoriert oder vergessen (23). Einen Hintergrund verrät die vom Grabungsleiter übersetzte laienhafte Versdichtung, die ein Schlaglicht auf die Verfahren bei archäologischen Grabungen wirft (26 ff.). Die Kolonialmächte Frankreich und Deutschland schoben sich Ergebnisse ihrer Grabungsarbeit gegenseitig zu. Der führende Ägyptologe, Ludwig Borchardt, seit 1907 Direktor des Deutschen Instituts für ägyptische Altertumskunde in Kairo, war Grabungsleiter und wurde von James Simon gesponsert (33 f.). Ein hochgeachteter Vorarbeiter, Muhammad Ahmad al-Sanusi, fand die Büste, er fehlt aber auf dem gestellten Foto, was der Autor umgehend ausgleicht (43). Für Conrad ist die dokumentierte Fundteilung Ergebnis einer erfolgreichen Mogelei. Belege dafür bilden für den Autor eine Ausstellung der Grabungsergebnisse (56 ff.) ohne die Büste (1913/14), wenngleich die Exponate aus der Werkstatt des Thutmosis, Echnatons Hofbildhauer, damals Begeisterung auslösten (60 f.).

Durch eine Medienkampagne wurde die Büste publikumswirksam zusammen mit den Grabfunden des Tutanchamun 1924 öffentlich ausgestellt (82 ff). Auch dieser Grabungserfolg von Howard Carter ist eigentlich einem kleinen Jungen zu verdanken: Hussein Abd al-Rasul, einem Wasserträger, dem es 1922 gelang, den Eingang zur Grabkammer Tutanchamuns zu finden (79 ff.). International bewunderte man seitdem die Nofretete-Büste (86 f). Conrad bringt sie kompensatorisch als kulturelles Gegengewicht zum Verlust der Kolonien ins Spiel und betont ihre Bedeutung auch für die Frauenbewegung der Zwischenkriegszeit (96 f.).

Für die NS-Ideologie galt Uta von Naumburg (102 f.) als eigentliches deutsches „Schönheitsideal“. Erzählerische Bearbeitungen versuchten, Ägypten und Nofretete zu einem für die NSDAP anschlussfähigen Modell zu machen. Auch Nico Dostals Operette und Josef Magnus Wehners (107 f.) Erzählung „Echnaton und Nofretete“ werden ebenso erwähnt und kommentiert wie Savitri Devi. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Erwähnung Thomas Manns mit seinem Joseph-Roman, der eine innere Neuausrichtung Manns erkennbar macht (112). Auch die Präsentation der Büste als zeitlos spiegelt ihre öffentliche Wahrnehmung. Zeitgleich erfolgt ihre Vereinnahmung als „weiß“ (124 f.). Conrad stellt jedoch klar, dass die Pigmentierung der Büste auf eine Konvention zurückgeht, was jedoch filmische Adaptionen unbeeindruckt lässt. Bis heute sind deutsche Besitzansprüche der Büste ein strittiges Thema zwischen Ägypten und Deutschland. Ein Machtwort Hitlers (145 f.) beendete vorerst die Diskussion.

1967 – nach einem Exil in Hessen – zieht die Büste ins Ägyptische Museum in Charlottenburg (148 f.). Jahrelang verlangt die SED-Regierung die Auslieferung an Ostberlin.
Internationale Filmfestspiele in Kairo seit 1976 verleihen als Hauptpreis die „Goldene Nofretete“. In einer Resolution beschloss die UN-Generalversammlung die Rückgabe von Objekten, die während der Kolonialzeit in ein anderes Land verlagert wurden (158 f.).
Kulturstaatsminister Bernd Neumann erklärte Nofretete „zum Teil eines globalen Erbes“ (163 f.). Weltweite museale Kritik (168 f.) führte zu der Klarstellung: Die Büste muss in Berlin bleiben. Präsident Macron gab 2017 einen Bericht über die Restitution afrikanischer Kulturgüter in Auftrag. Daraufhin erneuerte Zahi Hawass, der ägyptische Minister für Altertumsgüter, die Forderung Ägyptens nach einer Rückgabe der Büste (171 f.). Nicht nur Nelson Mandela reklamierte die ägyptische Königin als „Afrikanerin“ (213 ff.).
Amerikanische Künstlerinnen sehen in Nofretete ein afrozentrisches Symbol. Diese Auffassung blieb nicht unumstritten (238 ff.). Zunehmend scheint Nofretete zum Spielball politischer und medialer Auseinandersetzung zu werden (244 ff.).

Immer noch ist die zeitlose Schönheit der Büste unumstritten, wenn auch jetzt in ihrer Bedeutung als „kulturelles Erbe“. Als Unikat unterliegt sie den Gesetzen des Marktes. Auch in Zukunft wird die Forderung nach Restitution im Rahmen der „Rückgabe von Kulturgütern“ nicht verstummen. Zusammen mit der Forderung nach „Entschuldigung“ und „Entschädigung“ (283 ff.) wird die öffentliche Debatte neu belebt. Im Epilog wird die Bedeutung der Büste im Rahmen der Globalisierung erneut diskutiert. Die reiche Bebilderung trägt erheblich zum Lektüregenuss bei. Die facettenreiche Erläuterung, verbunden mit jeweils historisch begründeten Entwicklungen, lässt eine eindrucksvolle und machtbewusste Pharaonin im Fokus moderner medialer Strömungen erkennen.

                Eberhard Ockel

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