Kulturelle Identität und Weltreligion

Kürzlich saß ich nachmittags in einer leeren Kirche, um für einen Moment durchzuatmen. Ein etwa zehnjähriges Kind betrat die Kirche und fragte seinen Vater: „Papa, wer ist der Mann da am Kreuz?“ Antwort: „Das weiß ich leider auch nicht.“ Ich verließ die Kirche und nahm mit der Geschichte die naheliegende Frage mit: Was passiert, wenn sich unsere westlichen Gesellschaften immer mehr vom Christentum abwenden?

Die Frage geht nicht nur Christen an. Es verhält sich ja keineswegs so, dass Erwartungen von Politik und Gesellschaft an die Kirchen in dem Maße abnehmen, wie die Zahl kirchlich-religiös orientierter Menschen sinkt. Im Gegenteil, auch bei religiös Indifferenten wachsen Erwartungen an die Kirche, oft gepaart mit kulturpessimistischen Untergangsängsten: Die Gesellschaft verliere mit der Abwendung von Religion wichtiges Wissen und den Zugang zum kulturellen Erbe in Literatur, Kunst, Musik und Philosophie; gleichzeitig spüre man eine tiefe Unbeholfenheit im Umgang mit religiös geprägten Kulturen hierzulande und weltweit. Stimmt. Das alles verunsichert eben nicht nur Kirchlich-Religiöse.

Lange Zeit ging die westliche Aufklärung davon aus, dass der – für die Moderne entscheidenden – Trennung von Kirche und Staat zwangsläufig ein irreversibler Prozess vollständiger Säkularisierung folgen würde. Das ist aber nicht passiert. Religion ist aus den säkularen Gesellschaften nicht verschwunden. In den Einwanderungsgesellschaften des Westens finden zudem immer wieder religiös geprägte Menschengruppen neue Heimat. Inmitten dieser Pluralität muss darum stets neu nach einem einigenden Konsens gesucht werden. Alle Versuche, Spannungen zwischen Religion und säkularer werdender Gesellschaft durch Bekämpfung und Beseitigung der Religion aufzulösen, sind kläglich gescheitert. Selbst jene Systeme, die sich von ihrem Selbstverständnis her ausdrücklich als antireligiös-atheistisch verstanden, konnten die Religion nicht ausrotten. Religion überlebte im Widerstand. Sie feierte zugleich perverse Rückkehr, etwa als quasi-religiöser Personenkult atheistischer Diktatoren, die sich zu gottgleichen Personen erhoben.

Mit dem Wiedererwachen völkischen Denkens erhält nun die religiöse Aufladung nationaler und kultureller Identität neuen Auftrieb. Aber auch sie kann die Spannung zwischen Religion und säkularer Gesellschaft nicht auflösen. Im Gegenteil, sie macht Religion irreligiös , entsprechend dem exemplarischen Diktum des Putin-Vertrauten Wladimir Jakunin: „Wir Russen sind Christen, egal ob wir glauben oder nicht.“ Dagegen steht christlich das Bekenntnis: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen ... denn wir sind alle eins in Christus“ (Gal 3,28). Kirche ist ein Volk aus allen Völkern. Basis eines solchen Selbstverständnisses ist der ethische Universalismus. Theologisch fußt er auf dem Schöpfungsbegriff. Das Gebot der Nächstenliebe ist nicht begrenzbar auf bestimmte Nächste, weil Gott Schöpfer aller Menschen ist. Darum ist – im wahrsten Sinne des Wortes – nur eine alle umfassende „Welt“-Religion anschlussfähig an den allgemeinen Menschheitsbegriff, der in der Moderne im Bekenntnis zur allgemeinen Menschenwürde seinen Ausdruck findet. Universalistische Religion und säkulare Gesellschaft stehen zueinander in einem konstruktiv-kritischen Verhältnis.

Es gehört zu den Eigenheiten einer „Welt“-Religion, in partikulare Kulturen einfließen zu können, ohne in ihnen aufzugehen. In diesem Sinne gehören ihre Symbole, Gebäude und Festtage durchaus zur kulturellen Identität einer säkularen Gesellschaft. Ihr Beitrag gelingt allerdings nur, wenn er mehr leistet als nur, zu kultureller Identität beizusteuern. Vielmehr hält ernst genommene Welt-Religion das Fenster zu einer größeren, kultur-transzendierenden Identität geöffnet.

„Wer von Menschheit spricht, der will betrügen.“ Dieser Satz von Carl Schmitt wird neuerdings wieder zustimmend zitiert, nicht zuletzt in der rechtsextremen intellektuellen Szene. Wenn Schmitts Behauptung stimmt, folgt daraus nicht nur Feindschaft gegen das moderne Menschenrechtsdenken, sondern auch Feindschaft gegen Welt-Religion. Das führt im Umkehrschluss zu einer Allianz der beiden. Kants kategorischer Imperativ geht von der „Menschheit“ in einer jeden „Person“ aus. In Sure 5.32 steht zu lesen: „Wir haben den Kindern Israels vorgeschrieben: Wenn jemand einen Menschen tötet, so ist es, als hätte er die ganze Menschheit getötet.“ Im Christentum ist es der eine Mensch Jesus, dessen Tod von universaler Bedeutung für alle Menschen ist. Ein Mensch repräsentiert alle Menschen. In ihm wird die ganze Menschheit getötet: „Ecce homo!“ (Joh 19.5).

Kurz und gut: Wenn die Frage danach, wer der Mann am Kreuz ist, unbeantwortet bleibt, geht mehr verloren als nur Wissen um eine historische Kreuzigung auf Golgatha. Es geht Wissen verloren, das religiöses Bekenntnis ermöglicht: Sein Tod ist aller Tod, seine Hoffnung über den Tod hinaus ist Hoffnung für alle.

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