Dominanz der Kanonisten?

Juristen denken und handeln rechtlich – das ist ihre Aufgabe, in jeder Gesellschaft. Manche fordern, dass die soziale Realität nach den Rechtsnormen gestaltet wird und messen sie daran. Wo sie diesen nicht entspricht, seien die Verhältnisse widerrechtlich und damit verwerflich. Wo diese Juristen die Realität bestimmen, bekommt das Recht Dominanz. Ist diese nicht manchmal zu groß?

Das heutige Kirchenrecht ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Schon vorher wurde die Leitung der römischen Kirche zentralisiert und verrechtlicht, ein Vorgang, der im Ersten Vatikanischen Konzil mit dem Lehr- und Jurisdiktionsprimat des Papstes seinen Höhepunkt fand. Frühere Rechtssammlungen wurden im Anschluss daran zusammengeführt und 1917 als weltweit gültiger Codex Iuris Canonici (CIC) etabliert. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde dieser dem neuen Kirchenbild angepasst, allerdings ohne sich im Grundsatz – in der juristischen Denkweise und in der zentralen und klerikalen Leitung der Kirche – wesentlich zu ändern. Seither gab es nur noch kleinere Anpassungen.

Papst Franziskus fördert die Synodalität. Gegen sie werden immer wieder kirchenrechtliche Einwände vorgebracht: Die neuen synodalen Gremien, vor allem, wenn sie die alleinige Leitungsvollmacht der Bischöfe im Sinne der Gewaltenteilung begrenzen, würden nicht dem Kirchenrecht entsprechen und seien daher ungültig und verwerflich. Etwa der Brief dreier Kurienkardinäle vom 16.2.2024 an die deutschen Bischöfe argumentiert so gegen den geplanten synodalen Rat. Er erklärt auch, dass die Bischöfe nicht einmal Vollmacht hätten, die Satzung des vorbereitenden synodalen Ausschusses zu verabschieden. Die neue Realität würde dem alten Recht widersprechen – und darf daher nicht sein.

Nun ist die Kirche nicht nur eine rechtlich verfasste Institution, sondern auch eine Weggemeinschaft, die vom Geist geführt wird und sich in der Geschichte immer entwickelt und erneuert. Sie ist kulturell vielgestaltig, farbenprächtig, bisweilen chaotisch, ein Zoo mit vielen bunten Vögeln; manches ist ungeordnet, manches sündhaft, und dennoch geschieht viel Gutes in ihr. Selbstverständlich braucht sie eine Rechtsordnung. Die Doppelung in ihrem Charakter zwischen Charisma und Recht ist letztlich in der Inkarnation grundgelegt. Die so widersprüchlich erscheinenden zwei Pole bilden gleichsam ihr Mysterium – und führen notwendig immer wieder zu Konflikten. In dieser Spannung muss die Kirche ihren Weg durch die Zeit suchen und finden.

Wenn der Geist die Kirche zu neuen Sozialformen oder zu neuen spirituellen Stilen führt, dann nicht durch obrigkeitliche Anweisung oder durch neu gesetztes Recht. Vielmehr bildet sich Neues an der Basis: Christen reagieren auf veränderte Realitäten und neue Fragen, sie bilden neue Gemeinschaften, probieren einen anderen Stil der Kommunikation und der Leitung, gestalten ihr Leben nochmals neu nach dem Evangelium. Zunächst passt dies nicht – wen wundert’s? – zu bestehenden rechtlichen Bestimmungen. Manches Neue bewährt sich nicht und verschwindet wieder; anderes bleibt und verbreitet sich, es bekommt Kraft und Geist und den Zuspruch sehr vieler Christen.

Kluge Kirchenführer geben neuen Gruppen und Initiativen Raum; nach der Regel des Gamaliel (Apg 5,38 f.) wird ein Werk, das von Menschen stammt, zerstört, während man es nicht vernichten kann, wenn es von Gott stammt. Juristen können, wenn sie sich auf die Perspektive ihrer Profession beschränken, das Neue oft nicht gut verstehen und nehmen deswegen Anstoß. Das Recht hinkt nach – oft braucht es Jahrzehnte oder Jahrhunderte, um neue Bewegungen in neue Rechtsformen zu gießen. Was ist daran so gravierend, dass das Neue erst einmal dem Geist folgt, auch ohne schon rechtlich eingefangen zu sein? Großzügige Leader lassen den Geist walten, ohne den ja Recht im schlimmsten Fall zu Unrecht werden kann. Der Sabbat ist für den Menschen da – wenn der Mensch geistgeleitet vorangeht, werden die Sabbatregeln zum Geist finden und nicht umgekehrt. Nicht die Juristen haben den Christen zu erklären, was sie dürfen und was nicht, sondern die Kirchenführer haben die Juristen zu beauftragen, für Neues neue rechtliche Rahmen zu entwickeln.

Warum ernennt Rom so oft Kanonisten zu Bischöfen? Klar, eine Zentrale bekommt leicht Angst vor Unordnung, vor Zerfall, auch vor Negierung der zentralen Gewalt. In ihrem Interesse liegt es, die bestehende Ordnung zu wahren, und dies garantieren am ehesten Juristen, gleichsam die Spitzenbeamten der Civitas Dei. Braucht es nicht auch Charismatiker auf den Bischofsstühlen? Der derzeitige Papst immerhin ist einer, zum Missfallen mancher Kanonisten.

Synodalität ist auszuprobieren, zu entwickeln. Den päpstlichen Segen dazu hat die weltweite synodale Bewegung schon. Die Kanonisten sollten sich zunächst zurückhalten – später wird man sie in guter Weise einsetzen, um Misswuchs zu verhindern und das Neue auf das eine Ziel hin, das Reich Gottes, auszurichten. Recht soll nicht dominieren, sondern dazu helfen, den Geist in die ecclesia semper reformanda zu implementieren.

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