Rezensionen: Politik & Gesellschaft

Plagemann, Johannes / Maihack, Henrik: Wir sind nicht alle. Der Globale Süden und die Ignoranz des Westens.
München: C.H. Beck 2023. 249 S. Kt. 18,–.

In Wir sind nicht alle versuchen zwei norddeutsche Politikwissenschaftler mit beträchtlicher Auslandserfahrung eine Perspektive der gegenwärtigen Globalisierungsphase zu konstruieren, in der die in Mitteleuropa normale Sichtweise zwar durchaus konsistent erscheint, aber eben nur eine unter mehreren anderen ebenso konsistenten Sichtweisen ist.

Insbesondere die europäische Kolonialherrschaft und die von den USA jahrzehntelang angeführte militärische, technologische, wirtschaftliche und finanzielle Vorherrschaft, die sich bis heute in den Chefetagen und Strategien der wichtigsten internationalen Institutionen widerspiegelt und die in der Covid-Pandemie schmerzhaft deutlich wurde, haben wie auch der Irak-Krieg oder viele Maßnahmen gegen die grenzüberschreitenden Fluchtbewegungen dazu beigetragen, dass vor allem im Globalen Süden die Rede von Menschenrechten, Klimagerechtigkeit und weltweiter sozialer Verantwortung eher als Ausdruck hegemoniestützender Doppelmoral denn als echter Überzeugung angesehen wird. Gleichzeitig tragen die in Europa wenig wahrgenommenen prozentualen Umschichtungen der Weltbevölkerung in China, Indien und Subsahara-Afrika ebenso wie steigende Pro-Kopf-Bruttosozialprodukte und technologische Fortschritte im Globalen Süden dort zu wachsendem Selbstbewusstsein und zur Rechtfertigung verschiedenster, wenngleich nicht notwendigerweise demokratisch legitimierter Forderungen nach internationalen Beziehungen auf Augenhöhe bei. „Warum man im Globalen Süden ein anderes Geschichtsverständnis hat als im Westen“, „Wie sich kleine und große Staaten im Globalen Süden Alternativen zum Westen zunutze machen“, „Warum man im Globalen Süden den Westen für viele Krisen verantwortlich macht“ und „Wie internationale Organisationen auf den Wandel der Weltpolitik reagieren“ heißen die vier Kapitel dieses überaus lesenswerten Buches, dessen Einleitung und Schlusskapitel den Titel „Wir sind nicht alle“ wiederaufnehmen. Es ist insgesamt ein gelungener Versuch, das zitierte Diktum eines indischen Außenministers zu ergründen und zu klären: „Europa muss aus der Denkweise herauskommen, dass die Probleme Europas die Probleme der Welt sind, aber die Probleme der Welt nicht die Probleme Europas“ (138).

Man mag kritisieren, dass das Buch zu stark aus der Perspektive Afrikas und Asiens und zu wenig aus lateinamerikanischer und karibischer Sicht geschrieben ist, die kulturellen und religiösen Dimensionen des Nord-Süd-Konflikts kaum zur Sprache kommen, die gegenwärtige Substitution des Nordatlantiks durch den Indopazifik als weltweitem Zivilisationszentrum oder die international agierenden kriminellen Vereinigungen zu wenig Aufmerksamkeit erhalten. Aber das wird durch die große Zahl eindrücklicher Beispiele und vieler präziser Vergleichszahlen aus jüngster Zeit mehr als wettgemacht. Diese führen übrigens auch zu interessanten Überlegungen hinsichtlich konkreter politischer und diplomatischer Möglichkeiten der Bundesrepublik Deutschland, welche allerdings von den gerade erneuten Budgetkürzungen für Goethe-Institute, humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit bedroht sind.

Eine viel weiterreichende, prinzipielle Frage – etwa an Massenmedien, Bildungs- und politische Institutionen – wirft der im Untertitel enthaltene Begriff „Ignoranz“ auf. Nicht wenige LeserInnen werden bei der Nennung zahlreicher Konflikte und Politiker des Globalen Südens nämlich Schwierigkeiten haben, sich an diese zu erinnern oder sie spontan korrekt einzuordnen. Zusätzlich zu der von den Autoren geforderten Korrektur des bestehenden soziokulturellen Zentrismus geht es also auch um die Schaffung von Mechanismen, damit die Mitglieder der sich langsam herausbildenden, sozioökonomisch so gespaltenen Weltgesellschaft von acht Milliarden Menschen in fast 200 höchst ungleichen Staaten, diese Weltgesellschaft überhaupt vernünftig in den Blick bekommen und behalten können.

                Stefan Krotz

Bockwyt, Esther: Woke. Psychologie eines Kulturkampfes.
Neu-Isenburg: Westend 2024. 224 S. Kt. 17,99.

„Da derzeit die woke Grundhaltung zunehmend institutionell und vor allem medial repräsentiert ist, entstehen mehr und mehr nun eben auch Gegenkräfte aus der sogenannten Mitte, von Menschen, die gerade nicht radikal fühlen und denken. Menschen, die das schon mehrmals erwähnte gesunde Ausmaß nach Veränderung durchaus mitgehen möchten, aber die sich nun, wenn sie erfahren, dass Literatur, Kunst und vieles andere mehr durch ausgeprägte Reglementierungen eingeengt werden, … mit einem psychologischen Mechanismus reagieren, den wir Reaktanz nennen und der eine entscheidende Rolle im Verständnis gesellschaftlicher Zerwürfnisse spielt“ (199). Die Autorin, Psychologin, psychologische Gutachterin und Autorin mehrerer Fach- und Sachbücher plädiert in dieser Situation dafür, der Tendenz zu Eskalation und Zerwürfnis mit Rückbesinnung auf Ambivalenzen entgegenzutreten, die zum Menschsein gehören. „Die Welt in ihrer Tiefe zu verstehen heißt, den Widerspruch zu verstehen“, zitiert sie Nietzsche (193). Sie bezieht sich für die genauere Analyse der „Woken Psyche“ insbesondere auf Fritz Riemanns Klassiker Grundformen der Angst (101-192). Es geht ihr um mehr als um eine Auseinandersetzung mit Meinungen Einzelner. Mit „wokem Denken meine ich also nicht ausschließlich diejenigen, die sich dem woken Weltbild verschrieben haben, sondern auch die woken Anteile im Menschen grundsätzlich“ (105).

Nun könnte man anzweifeln, dass es so etwas wie ein „wokes Weltbild“ überhaupt gibt. Um der Analyse von Bockwyt zu folgen, muss der Leser also zunächst klären, ob er mit ihrer Darstellung „Woke(r) Welten“ in den Antirassismus-, Gender- und End-the-stigma-Diskursen (15-100) mitgehen kann, und auch mit der Grundannahme der Autorin, dass hier – mit Bezug auf Butler, Foucault u.a. – über Sprache neue Realitäten erschaffen werden soll, oder anders gesagt: ob Wokes Denken tatsächlich ein utopisches Gesellschaftsprojekt verfolgt. Oft enden die woke-kritischen Diskurse ja, bevor sie begonnen haben, mit dem Hinweis, hier würde etwas aufgebauscht; laut Duden bedeute Wokeness schließlich nur „Wachsamkeit gegenüber Diskriminierung“, und gegen diese Wachsamkeit könne niemand etwas haben, außer eben Rassisten, Sexisten, Klassisten sowie Homo- und FLINTA-Phobe. In ihrer Liste von „woken Totschlagargumenten und Gegenargumenten“ (97-99) hält sie in diesem Falle dagegen, dass die Duden-Definition gerade nicht Annahmen umfasst, die in „gelebter Wokeness“ und Identitätspolitik mitgedacht sind.

Sich selbst positioniert Bockwyt zwischen den Stühlen der eingangs genannten Extremismen. „Zwischen den Stühlen“ bedeutet nicht „neutral“, zumal der Titel ja schon klar macht, dass der „woke Extremismus“ im Fokus der Aufmerksamkeit und der Kritik steht. Das findet der Rezensent auch vollkommen in Ordnung und nimmt deswegen die Einladung zur Debatte gerne an, zu der dieses Buch herausfordert.

                Klaus Mertes SJ

Palaver, Wolfgang: Für den Frieden kämpfen. In Zeiten des Krieges von Gandhi und Mandela lernen.
Innsbruck: Tyrolia 2024. 120 S. Kt. 18,–.

„Kriegstüchtigkeit“ ist seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine ein Schlüsselbegriff, der die Rückkehr der Politik ins Militärische beschreibt. Da lässt ein Buch aufhorchen, das einen anderen Weg in den Blick nimmt, den einer Friedenstüchtigkeit, die sich Mahatma Gandhi und Nelson Mandela verbunden weiß. Geschrieben hat es der Sozialethiker Wolfgang Palaver, bis 2023 Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Universität Innsbruck und derzeitig Präsident von Pax Christi Österreich.

In einer autobiografisch gefärbten Einführung (9-21) zeichnet er nach, wie sein friedensethisches Denken sich entwickelt hat. Er vertritt in Kapitel I keinen absoluten Pazifismus, der Frieden um jeden Preis anzielt. Denn ein Friede, der auf Unterdrückung fußt, sei immer zu bekämpfen, wobei der Ansteckungsgefahr der Gewalt zu widerstehen ist. Wirklicher Friede ist mit Gerechtigkeit verbunden, der die Opfer nicht ausblenden darf. Mit Václav Havel und Simone Weil kritisiert Palaver einen Pazifismus, der in der „Abscheu vor dem eigenen Sterben“ (32), also in der eigenen Todesfurcht gründet. Dieser führe oft zu Blindheit und falscher Nachgiebigkeit. Ein Pazifismus als „Abscheu vor dem Töten“ wurzele dagegen in einem Lebenssinn, der die eigene Todesfurcht überschreitet und den Einsatz des eigenen Lebens beinhalten kann (33). Wegen dieser verschiedenen Auslegungen sowie der häufigen Assoziation von Pazifismus mit Passivität beschreibt Palaver seine Position als „vorrangige Option der Gewaltfreiheit“ (34).

Was für eine solche Haltung von Gandhi und Mandela zu lernen ist, wird im Kapitel II dargelegt. Gandhi nannte einen gewaltfreien Einsatz: „Festhalten an der Wahrheit“, die für ihn Gott war. Er prägte dafür das Wort „satyagraha“ (49). Er war überzeugt, dass der Mensch seine Verbundenheit mit Gott verliere, wenn er den Weg der Gewalt gehe. Gefühle und Gedanken von Hass und Feindschaft sind deshalb zuerst im eigenen Herzen zu überwinden – als Voraussetzung für jegliche Form von gewaltfreiem Einsatz. Da wirkt eine Spiritualität, die die Welt vom Gesetz der Liebe und göttlicher Allgegenwart bestimmt sieht (54).

Für Mandela ist Gewaltfreiheit kein unantastbares Prinzip, sondern „Taktik, die je nach Situation anzuwenden sei“ (60) und auch nur dann, wenn sie effektiv sei. Er hatte aber die ihn leitende Einsicht, dass jeder Weg von Vergeltung dazu führt, „der Barbarei der Tyrannen nachzueifern“ (64). Zeitlebens rang Mandela deshalb um einen Weg zwischen Gewaltfreiheit und Gewalt. Er betonte immer wieder seinen Glauben an das Gute im Menschen – eine „im Wesen religiöse“ Haltung (65), die seine politischen Schritte geprägt hat.

Beide stehen nicht für ein passives Hinnehmen von Unrecht. Es braucht einen Widerstand, der der Gewalt allen Nährboden – gewaltfrei – entzieht. Dabei kann die Bereitschaft eingefordert sein, das eigene Leben zu riskieren. Gefühle von Vergeltung, Rache und Hass brauchen Verwandlung (76). Gandhis und Mandelas Lehren sind eingeflossen in die aktuelle ökumenische Friedensethik, die nicht mehr vom „gerechten Krieg“, sondern vom „gerechten Frieden“ spricht.

Palaver sieht vorrangig die Christ:innen in der Pflicht, durch ihr Friedensengagement „die langfristige Bedeutung der Gewaltfreiheit einer Politik vor Augen zu halten, die immer wieder in Gefahr steht, nur die militärische Sichtweise im Blick zu haben“ (81). Was es bedeutet, das Handwerk des Friedens auszuüben, ist Inhalt in Kapitel III.

Dieses Buch gibt wesentliche Denkanstöße in schwierigen Zeiten. Der Mainstream redet vom Krieg, nur wenige sprechen vom Frieden und erinnern Gestalten aktiver Gewaltfreiheit. Dieses Buch steht für Per-
spektiven, die derzeit vielfach für ver-rückt (!) gehalten werden. Aber sie beschreiben m.E. Perspektiven, die inspirieren, eben nicht verrückt zu werden. Dieses Buch motiviert, sich das „Dennoch der Hoffnung“ (97) zu bewahren. Es ist eine Aufforderung zum Handeln. Handeln ist wesentlich Anfangen – und das auch bei mir selbst.

                Klaus Hagedorn

Richter, Hedwig / Ulrich, Bernd: Demokratie und Revolution. Wege aus der selbstverschuldeten ökologischen Unmündigkeit.
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2024. 368 S. Gb. 25,–.

Die Autorin, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München, und der Autor, Redakteur der ZEIT, haben ein Buch verfasst, das mit seinem Erscheinen sofort heftige Reaktionen ausgelöst hat. „Revolution der Eliten gegen das Volk“ (WELT), „Wie viele Steaks verträgt die Demokratie?“ (FAZ), und so weiter. Den beiden werden diese Reaktionen als paradoxe Bestätigung willkommen sein. Denn wer das Buch liest, wird schnell erkennen, dass ihnen klar war, dass sie etwas riskieren. Man merkt das an Untertiteln wie „Körper, Verletzlichkeit und, ja, Disziplin“ (235 ff.) oder an Kapitel-Auftakten wie „Beginnen wir mit dem berüchtigten Verzicht“ (292). Beim Stichwort Verzicht sind wir bei einem weiteren Schlüsselbegriff des Buches: Zumutung. Der Weg aus der selbstverschuldeten ökologischen Unmündigkeit wird nicht ohne Zumutungen zu beschreiten sein, nicht ohne Konsumverzicht, Veränderungen von Lebensgewohnheiten, Mentalitätswandel. Das Problem: „Es existiert … keine politische Kraft, die eine Politik propagieren würde, die auch den Menschen etwas abfordert … Sogar die scheinbar so Radikalen der Letzten Generation fordern lediglich ein Tempolimit und ein staatlich subventioniertes Bahnticket für alle. Nichts also, was ernstlich jemandem etwas abverlangen würde“ (96).

Die ambivalente Wachstums-Fortschrittsgeschichte der Moderne, die mit der Dampfmaschine begann, wurde bis zum Ende dieses Jahrhunderts von einer nicht minder ambivalenten „Fortschrittsgeschichte zweiter Ordnung“ begleitet, der Geschichte der Demokratie und des Sozialstaates. Sie federte die vielfältigen Zumutungen des technischen und industriellen Fortschritts erfolgreich ab. Dieses Verdienst bleibt. Doch alle Versuche der Politik seit dem „ecological turn“ der 1970er-Jahre, die unfassbar komplizierte ökologische Krise (Klima-Krise und Artensterben, vgl. dazu 189-214, Erwärmung der Meere, Mikroplastik etc.) durch einen Masterplan zu managen, der mehr oder weniger zumutungsfrei umzusetzen wäre, funktionieren nicht mehr (Teil 1: Geschichte: 19-102). Sie sind inzwischen vielmehr Teil des Problems. Im Klima-Jahr 2023 gipfelten sie im „Heizungskrieg, in Beschlussmagie, sozialdemokratischem Paternalismus und resignativem Plebiszitismus“ (99). Fortschrittsgeschichte zweiter Ordnung und Destruktion sind also enger verflochten als gedacht. Deswegen kommen wir auch mit dem Denken des 20. Jahrhunderts nicht mehr weiter. Es muss im 21. Jahrhundert „aufgehoben“ werden in ein Umdenken, das die ökologische Krise als Krise eigener Art in den Blick nimmt (Teil II: Gegenwart, 103-214), als eine „Menschenkrise“ (124). Die Vorstellung nämlich, den Menschen sei letztlich nichts zuzumuten, produziert den homo suicidalis des 21. Jahrhunderts. Die Menschen sind Täter und Opfer ihrer eigenen Zerstörung geworden, und die Politik hat sich unausgesprochen darauf eingestellt (vgl. dazu 123 f. „Sind wir Monster?“).

Stimmt es aber „überhaupt, dass die Leute in ihrer großen Mehrheit zu egoistisch und zu gefangen sind, um für die Zukunft ihrer Kinder und der Demokratie Gewohnheiten und Bequemlichkeiten aufzugeben?“ (128). Richter und Ulrich meinen: Nein. Die Geschichte der Demokratie zeigt, dass und wie radikale Transformationen systemimmanent gelangen und zukünftig auch gelingen können. Dem Nachweis dafür dient der Blick auf „Neues aus der Demokratiegeschichte“ (Teil III – 215-289), und auf Befreiungsperspektiven (Teil IV – 291-318). Offensichtlich treffen Richter und Ulrich mit ihrer These hier einen Nerv. Es ist billig, ihre Hinweise auf die Unvermeidbarkeit von Zumutungen als autoritären Übergriff abzukanzeln. Vielmehr bleibt dem Leser an Ende der Lektüre das mulmige Gefühl, er oder sie selbst könne gemeint sein, und nicht nur die Politik. Und das ist kein Übergriff von oben. Es könnte ja sein, dass in diesem Gefühl sich die Stimme meldet, von der es in der ignatianischen Unterscheidung der Geister heißt: „Bei denjenigen, die von Todsünde zu Todsünde gehen … wendet der gute Geist die entgegengesetzte Weise an, indem er ihnen (den übenden/reflektierenden Personen – KM) durch die Urteilskraft der Vernunft die Gewissen sticht und beißt“ (GÜ 314).

                Klaus Mertes SJ

Anzeige: Traum vom neuen Morgen. Ein Gespräch über Leben und Glauben. Von Tomáš Halík

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