Ins Herz geläutetAlbert Schweitzer zum 150. Geburtstag

Albert Schweitzer (14. Januar 1875 bis 4. September 1965) ist bekannt für romantische, oft spirituelle Kalendersprüche, kurze Weisheiten aus dem Leben und geistreiche Aphorismen („Glücklich sind allein diejenigen, die sich von ihrem Herzen bestimmen lassen“). Er gilt den Deutschen als wichtiger Denker und als die fünftwichtigste Vorbildfigur noch vor dem Dalai Lama: Laut einer Allensbach-Studie, die 2013 anlässlich des einhundertjährigen Bestehens des von Schweitzer und seiner Frau Helene gegründeten „Dschungelkrankenhauses“ Lambaréné in Auftrag gegeben wurde, ist er „88 Prozent der deutschen Bevölkerung bekannt … Er gilt Katholiken kaum weniger als Vorbild als Protestanten“. Der 1913 um das Krankenhaus Lambaréné (der Name bedeutet „Wir wollen es versuchen“ in der Sprache der Galoa) im heutigen Gabun entstandene Ort ist auch jener, an dem der „Urwald-“ oder „Tropendoktor“ 1965 seine letzte Ruhe fand und mit dem die meisten Menschen ihn heute in Verbindung bringen dürften. Sein von mehreren Rückschlägen geprägtes Leben in der damals von Frankreich besetzten Kolonie und sein Einsatz für die Leprakranken in Westafrika ist Gegenstand mehrerer Verfilmungen. Hauptsächlich um Spenden für sein Lebensprojekt zu akquirieren, suchte Schweitzer die Öffentlichkeit, bereiste die USA und Europa, nahm schließlich den Friedensnobelpreis für das Jahr 1952 in Oslo entgegen. Zu diesem Zeitpunkt war er längst vielen ein lebender Held und verschiedenen Größen seiner Zeit ein Freund, etwa Albert Einstein, der ihn zu Beginn des Kalten Kriegs dazu drängte, ebenfalls öffentlich vor den Gefahren der atomaren Aufrüstung zu warnen. Seine pazifistische Haltung brachte Schweitzer allerdings nicht nur Bewunderer ein, sondern auch Feinde, insbesondere in den USA, wo die CIA ihn als Kommunist zu diffamieren versuchte und seine Person und sein Krankenhaus öffentlichkeitswirksam diskreditierten. Dabei wurzelt Schweitzers Pazifismus in einer schon in der Kindheit angelegten, tiefen Religiosität, die er um 1918 in seiner „Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben“ auf den Punkt bringt: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“.

Die spirituelle Tiefe Albert Schweitzers ist denn auch seltener Gegenstand der leider eher schmalen Sekundärliteratur sowohl fachlicher als auch populärer Couleur. Dabei beschloss er erst im Alter von dreißig Jahren, nach einem erfolgreichen Leben als evangelischer Pfarrvikar, angesehener Organist und Bachforscher, Theologieprofessor und promovierter Philosoph, zusätzlich Medizin zu studieren, um als Arzt nach Französisch-Äquatorialafrika zu gehen. Kurz zuvor war er von der Pariser Missionsgesellschaft „wegen seiner liberalen theologischen Ansichten“ abgelehnt worden (vgl. Ärztelexikon. München 1995, 325). Zu seinem 150. Geburtstag verdient die Person Albert Schweitzers eine neue Würdigung, seine zahlreichen Schriften zu Musik, Literatur, Ethik, Theologie und – umfangreich – zur Autobiografie lohnen eine Relecture. Nicht nur seine Predigten und Briefe, sondern auch seine Fachbeiträge etwa zur Medizin oder zur Kulturphilosophie sind stets verständlich verfasst und weisen eine erstaunliche Tiefe und Aktualität auf, insbesondere was Beobachtungen zum Umgang mit der Schöpfung, zum Krieg oder zur Spiritualität anbelangt.

Ludwig Philipp „Albert Schweitzer“ wurde am 14. Januar 1875 im elsässischen Kaysersberg bei Colmar (damals Deutsches Reich) geboren. Sein Vater Ludwig/Louis betreute als Pfarrverweser eine evangelische Gemeinde, seine Mutter Adele war Pfarrerstochter aus dem nahen Mühlbach. Die Familie zog kurz nach Alberts Geburt nach Günsbach um, wo er die Grundschule besuchte und von seinem Vater an das Klavierspielen herangeführt wurde. Noch vor seinem sechsten Lebensjahr ergänzte Albert laut seinen „Selbstzeugnissen“ eigenständig das Gutenachtgebet: „Ganz unfassbar erschien mir, dass ich in meinem Abendgebet nur für Menschen beten sollte. Darum, wenn meine Mutter mit mir gebetet und mir den Gutenachtkuss gegeben hatte, betete ich heimlich noch ein von mir selbst verfasstes Zusatzgebet für alle lebendigen Wesen. Es lautete: Lieber Gott, schütze und segne alles, was Odem hat, bewahre es vor allem Übel und lass es ruhig schlafen.“ In der Günsbacher Kirche durfte der erst neunjährige Albert bereits hin und wieder die Orgel spielen. An einem dieser Sonntage ließ er sich von einem Freund überreden, mit selbstgebastelten Schleudern auf Vogeljagd im Wald zu gehen. „Dieser Vorschlag war mir schrecklich, aber ich wagte nicht zu widersprechen, aus Angst, [mein Freund] könnte mich auslachen. So kamen wir in die Nähe eines kahlen Baumes, auf dem die Vögel, ohne sich vor uns zu fürchten, lieblich in den Morgen hinaussangen. Sich wie ein jagender Indianer duckend, legte mein Begleiter einen Kiesel in das Leder seiner Schleuder und spannte dieselbe. Seinem gebieterischen Blick gehorchend, litt ich unter furchtbaren Gewissensbissen […], mir fest gelobend, danebenzuschiessen. In demselben Augenblicke fingen die Kirchenglocken an, in den Sonnenschein und in den Gesang der Vögel hineinzuläuten... Für mich war es eine Stimme aus dem Himmel. Ich tat die Schleuder weg, scheuchte die Vögel auf, dass sie wegflogen und vor der Schleuder meines Begleiters sicher waren, und floh nach Hause. Und immer wieder, wenn die Glocken der Passionszeit in Sonnenschein und kahle Bäume hinausklingen, denke ich ergriffen und dankbar daran, wie sie mir damals das Gebot: Du sollst nicht töten, ins Herz geläutet haben.“

„Dem Menschen, der zur Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben gelangt ist,
ist jedes Leben als solches heilig.“

Nach weiterführenden Schulen in Münster und Mulhouse und Orgelunterricht bei Eugen Münch studierte Albert Schweitzer Theologie und Philosophie in Straßburg und nahm Orgelunterricht bei Charles Marie Widor in Paris. Bis 1902 publizierte er seine Dissertationen „Kritische Darstellung unterschiedlicher neuerer historischer Abendmahlsauffassungen“ und „Die Religionsphilosophie Kants von der Kritik der reinen Vernunft bis zur Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ sowie seine Habilitationsschrift „Das Messianitäts- und Leidensgeheimnis“. Er dozierte an der theologischen Fakultät in Straßburg (ab 1912 als Professor) und begann auf Bitten französischer Kollegen mit seinem Werk „J.S. Bach, le musicien-poète“, das 1905 in mehreren Sprachen erschien (später dt. „Johann Sebastian Bach“. Leipzig 1908). 1913 promovierte sich Albert Schweitzer mit der Dissertation „Die psychiatrische Beurteilung Jesu“ zum Doktor der Medizin. Seine Beschäftigung mit der historischen Person Jesu hielt über Jahrzehnte an und prägte den theologischen Diskurs um die „Leben-Jesu-Forschung“, in der Schweitzer die Position bezog, dass die Versuche, das Leben Jesu historisch zu rekonstruieren, fast ausnahmslos Projektionen der Forscher seien. Allein die Evangelien hält er für wahrhaftig, da Markus und Matthäus „bis in die Einzelheiten“ eine „wahrhaftige“ Überlieferung böten: „Wenn in dieser Überlieferung einiges dunkel oder verworren ist, so geht dies in der Hauptsache darauf zurück, daß schon die Jünger selber in einer Reihe von Fällen den Sinn der Worte und des Handelns Jesu nicht verstanden“ (nach: Das Albert Schweitzer Lesebuch. München 2011, 77). Schweitzers Betrachtungen zum Leben Jesu mündeten in seine Schrift über „Die Mystik des Apostels Paulus“ und eine Deutung der Eschatologie, die, kurz gesagt, die Verkündigung der Kirche im Diesseits zum eigentlichen Vermächtnis Christi erhebt, was damals sehr umstritten war.

Schon zu Lebzeiten wurde Albert Schweitzer in der gesamten westlichen Welt verehrt. Nicht nur als Tropendoktor bereiste er Europa, sondern auch als Organist, Philosoph, Ehrendoktor an zahlreichen Universitäten, als Philanthrop und als Vater und Großvater. In Frankfurt am Main nahm er den Goethepreis entgegen und hielt die Rede zu Goethes 100. Todestag, später in den USA die zum 200. Geburtstag. Er vermählte seinen Jugendfreund Theodor Heuss mit Elly Heuss-Knapp, schrieb Briefe an Präsident Eisenhower, Präsident Kennedy, Walter Ulbricht, Einstein, Oppenheimer und viele mehr. Schon zu Lebzeiten wurden Schulen nach Albert Schweitzer benannt, die erste kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Schließlich übernahm er die Patenschaft für die ersten Kinderdörfer. Die turbulenten und schrecklichen Zeiten des Nationalsozialismus verbrachte er in Lambaréné. Seine Frau Helene, Tochter jüdischer Eltern aus Berlin, war schon 1932 vor den Nationalsozialisten in die Schweiz geflohen, 1940 über Frankreich nach Lambaréné zu ihrem Mann. 1957 starb sie in Zürich, aber ihre Asche wurde in Lambaréné beigesetzt. Dort fand auch im Alter von neunzig Jahren Albert Schweitzer seine letzte Ruhe.

Albert Schweitzers Vermächtnis lebt dank zahlreicher internationaler Stiftungen und NGOs fort. Im Neubau seines Krankenhauses wurden 2017 fünftausend stationäre Aufnahmen, 24.000 ambulante Behandlungen und eintausend Geburten gezählt. In Deutschland widmet sich die Albert-Schweitzer-Stiftung vor allem seiner Tierethik, verstanden als Werbung für eine fleischfreie Ernährung. „Dem Menschen, der zur Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben gelangt ist, ist jedes Leben als solches heilig. Er hat Scheu davor, ein Insekt zu töten, eine Blume abzureißen … Wo ich irgendwelches Leben schädige, muss ich mir darüber klar sein, ob es notwendig ist. Über das Unvermeidliche darf ich in nichts hinausgehen, auch nicht in scheinbar Unbedeutendem.“ Angesichts des rasenden Klimawandels, des Artensterbens und der Zerstörung von Lebensräumen bleibt diese Einsicht aktueller denn je.

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