Viele ältere Zeitgenossen stellen fest: Ihre Kinder und Enkel sind weit weg von Religion, Glaube, Kirche. Die Erziehung stützt die religiöse Kultur nicht, im Umfeld der Kinder kommt sie kaum vor. Spätestens mit der Firmung verabschieden sich die Jugendlichen von der Kirche. Viele Eltern und Großeltern machen sich darüber Sorgen.
Eine ganze religiöse Kultur geht verloren. Biblische Geschichten und Bilder, die auch bei Nicht-Kirchgängern verinnerlicht waren und gleichsam kollektiv die Psyche prägten, werden fremd: Adam und Eva und die Schlange, der Turmbau zu Babel, das Kind in der Krippe und seine Mutter, Zachäus der Zöllner, der verlorene Sohn, der Auferstandene und Magdalena, das himmlische Jerusalem. Vor allem das Kreuz, schon immer anstößig, ist nicht nur als Glaubenszeugnis fremd, sondern auch als schon halb profaniertes Symbol abendländischer Kultur, das mancherorts noch in öffentlichen Räumen hochgehalten wird, aber auf Ablehnung trifft. Kirchengebäude in Innenstädten werden von den meisten Zeitgenossen geschätzt, allerdings eher als kulturelle Identitätsmarker, auch als Räume der Stille, als zweckfreie Orte, die Seele erhebend, meist gratis offen für alle, auch touristisch und damit wirtschaftlich attraktiv – aber auch hier geht der innere Bezug verloren. Kirchen, die künstlerisch weniger attraktiv sind und für Gottesdienste kaum genutzt werden, sind von Profanierung und Verkauf bedroht. Geistliche Musik wie etwa Bach-Passionen oder Requiems von Mozart bis Dvořák werden auf hohem Niveau aufgeführt, sie berühren und bewegen, aber die Musikkultur und der Bezug zum Inhalt der Musik schwinden, bei Musikern wie beim Publikum. Religiöses Brauchtum: Es wird zur Folklore.
Ist es platter Kulturpessimismus festzustellen, in der Breite der Bevölkerung und auch im Bildungsbürgertum gehe eine religiöse Kultur verloren? Wohl nicht, eher ist es einfach nur realistisch, und eine Trauer darüber darf sein. Was bleibt, wenn diese Kultur verdampft ist? Kirchen werden zu Bibliotheken oder zu Gasthäusern – beides passt vielleicht noch halbwegs. Oder sie werden abgerissen. Oder zu Museen. Und doch wurden sie erbaut als Räume des Gebets, deren Kunstwerke aus Glauben und zur Anregung des Glaubens mit großen Mühen und Kosten gestiftet wurden. Museale Kunstwerke machen staunen und sie erregen Bewunderung, aber die Inhalte befremden, und die bloß ästhetische Funktion entfremdet sie ihres Geistes und der Intention ihrer Künstler. Durchbetete Räume sind selbst Zeugnis – kulturelle Denkmäler bilden und erbauen zwar die Seele, führen aber nicht zu Gott. Doch es fehlen Christen, die diesen Namen verdienen, also Gläubige: Wer würde Gebetsräume betend füllen, ja auch sie pflegen, sie finanzieren?
Muslime zeigen ihre kulturelle Zugehörigkeit unbefangener, durch Kleidung etwa, durch Bräuche wie Ramadan, durch Minarette. Ihre religiöse Kultur wird wahrgenommen. Mal wird sie als fremd und unsere Kultur überfremdend abgelehnt, oft mit feindlichen Untertönen, mal auch bestaunt und bewundert. Der Islam zeigt uns, dass es eine öffentliche religiöse Kultur braucht.
Religiöse Kultur tröstet in Krisen: individuell und sozial, nicht platt gefühlig, nicht kommerzialisiert, nicht „cocacolisiert“ (Papst Franziskus), sondern mit guter Sinnlichkeit, aus tiefer Wahrheit und in gelebter Hoffnung auf einen heilenden und rettenden Gott. Was sonst tröstet? Wer sonst tröstet? Und wenn es uns gut geht: Wem sonst können wir noch danken?
Freilich waren auch früher – in der nicht immer guten alten Zeit – nicht alle, die eine religiöse Kultur pflegten, gläubig; und nicht alle, die wenig oder keine religiöse Kultur pflegten, waren ungläubig. Es gibt Unglaube in der Religion, und es gibt Glaube außerhalb von kirchlicher Religion. Sollen heute die kirchlich Religiösen mehr die religiöse Kultur zu retten versuchen und sie fördern: also kämpfen um den Erhalt von Kruzifixen und Kirchen, um einen Religionsunterricht, der biblische Inhalte vermittelt, und das alles eventuell durch kantige, kulturell abgrenzende Symbolik – auf dass diese Kultur noch Glauben anstoße? Oder sollen sie mehr den Glauben verkünden: durch neue katechetische Versuche, durch Präsenz im Internet und in Sozialen Medien, durch Mega-Glaubensevents – auf dass dieser Glaube auch wieder kulturell lebendig werde? Glaube ist flüchtig, leicht verdampfend unter dem Druck säkularer Kultur, aber er ist überall. Glaube braucht eine Kultur, denn ohne sinnliche Konkretheit lebt er nicht. Die Alternative, die Kultur oder den Glauben zu fördern, ist falsch: Christen sollen den Glauben leben und verkünden, zugleich sollen sie ihre Kultur pflegen und verbreiten – beides nicht in Konkurrenz, sondern ineinander und sich gegenseitig bereichernd.
Wir dürfen gelassen bleiben: Auch wenn sowohl die religiöse Kultur als auch der Glaube derzeit schwinden – wie in den Wellenbewegungen der Geschichte immer wieder –, ein guter Kern wird bleiben und weitergehen. Er wird wieder lebendig werden und die so krisengeschüttelte Welt verwandeln. Unsere Kinder und Enkel durchwandern eine Durststrecke, doch Israel fand nach vierzig Jahren Wüste ins gelobte Land.