In seiner Enzyklika Tertio Millennio Adveniente schreibt Johannes Paul II.: „Der Ökumenismus der Heiligen, der Märtyrer, ist vielleicht am überzeugendsten. Die Gemeinschaft der Heiligen spricht mit lauterer Stimme als die Urheber der Spaltung“ (Nr. 37). So ist es. Warum wird dann im Land der Reformation nur leise darüber gesprochen, dass in demselben Land „Gott unter den Getauften die Gemeinschaft unter dem höchsten Anspruch des mit dem Opfer des Lebens bezeugten Glaubens“ aufrecht erhielt (vgl. Nr. 84), ja vielleicht noch stärker formuliert: erneuerte, und zwar genau damals, in den letzten Kriegsjahren, als sich die Zeugen im Widerstand gegen die nationalsozialistische Barbarei neu fanden, in den Kerkern von Dachau und Tegel, in den Hinrichtungsstätten von Plötzensee und Stadelheim? Wie kann man in Deutschland auf die Geschichte der Konfessionstrennungen zurückblicken, ohne sich den Blick durch 1944/45 verstellen zu lassen?
Kurze Erinnerung an das markante Beispiel der Zeugen-Gefährtenschaft von Alfred Delp SJ und Helmuth James Graf von Moltke: Gemeinsam standen sie am 10. Januar 1945 vor dem Berliner Volksgerichtshof, der sie zum Tode verurteilte. Man konnte ihnen nichts anderes nachweisen als dies, dass sie miteinander im „Kreisauer Kreis“ gesprochen hatten. Was die Gefährten aber am Prozessverlauf überraschte, war: Der Anklagepunkt wurde dahingehend präzisiert, dass sie als Christen miteinander über die Zukunft Deutschlands konferiert hatten. Seiner Frau Freya schreibt Moltke: „Und dann wird dein Wirt [Selbstbezeichnung Moltkes, KM] ausersehen, als Protestant vor allem wegen seiner Freundschaft mit Katholiken attackiert und verurteilt zu werden, und dadurch steht er vor Freisler nicht als Protestant, nicht als Adliger, nicht als Preuße, nicht als Deutscher – das ist alles ausdrücklich in der Hauptverhandlung ausgeschlossen –, sondern als Christ und als gar nichts anderes ... Zu welch einer gewaltigen Aufgabe ist Dein Wirt ausersehen gewesen: All die viele Arbeit, die der Herrgott mit ihm gehabt hat, die unendlichen Umwege, die verschrobenen Zickzackkurven, die finden plötzlich in einer Stunde am 10. Januar 1945 ihre Erklärung. Alles bekommt nachträglich einen Sinn, der verborgen war.“ Und er fügt in eindrucksvoller Souveränität hinzu: „Das hat den ungeheuren Vorteil, dass wir nun für etwas umgebracht werden, was wir a. gemacht haben, und was b. sich lohnt.“
Wenn nun, wie sich abzeichnet, ein Seligsprechungsverfahren für Alfred Delp begonnen wird, gehört es nicht zuletzt mit Blick auf einen möglicherweise positiven Abschluss dieses Prozesses und eines möglicherweise feierlichen Seligsprechungsaktes hinzu, diese beiden Texte Moltkes sehr ernst zu nehmen. Ein „gewaltige Aufgabe“ entdeckt Moltke. Es ist nicht mehr die Aufgabe, Deutschland nach dem Krieg wieder aufzubauen, sondern die noch größere, die Konfessionsgrenzen durch das Martyrium zu überschreiten, letztlich also: Die Kirche neu aufzubauen. Dazu sieht er sich rückblickend „ausersehen“. Das ist biblischer Sprachstil, Passivum divinum. Moltke, der in der Gefangenschaft insbesondere mit Delp und Gerstenmaier intensiv die Bibel gelesen hat, kennt die Sprache der Bibel. Er deutet sein Todesurteil geschichtstheologisch: Gott handelt in diesem Prozess selbst. Er hat Moltke „ausersehen“. Er gibt den ganzen Jahren vorher bis hin zum Prozess „nachträglich einen Sinn, der verborgen war.“ Und dieser Sinn heißt: Ökumene. Für Moltke „lohnt“ es sich, dafür zu sterben. Das ist der innere Friede, ein Trost im Heiligen Geist, welche die theologische Erkenntnis Moltkes bestätigt.
Glauben wir als Katholiken das, was Moltke da sagt? Wenn wir es glauben, dann hat das Konsequenzen, nicht zuletzt für den anstehenden Seligsprechungsprozess und seine Zielsetzung. Alfred Delp war ein Mann des Widerstandes; die Glaubwürdigkeit seiner geistlichen Texte lebt nicht zuletzt von diesem Zeugnis. Aber der Widerstand zeitigte auch eine Frucht, die über den Widerstand hinausging: Ökumene. Wegen der konfessionsverbindenden Gemeinschaft der una sancta in vinculis, der „einen heiligen Kirche in Fesseln“, wie Delp sie nannte, wäre er auch deswegen als „selig“ zu bezeichnen, weil er in Moltkes Zeugnis für die Einheit der Christen hineingezogen wurde. Seine starken Texte über Ökumene, die er im Kerker von Tegel schrieb, weisen darauf hin, dass sich da in den Wochen vor dem 10.1.1945 etwas vorbereitete: „Wenn die Kirchen der Menschheit noch einmal das Bild einer zankenden Christenheit zumuten, sind sie abgeschrieben. Wir sollen uns damit abfinden, die Spaltung als geschichtliches Schicksal zu tragen und zugleich als Kreuz. Von den heute Lebenden würde sie keiner noch einmal vollziehen. Und zugleich soll sie unsere dauernde Schmach und Schande sein, da wir nicht imstande waren, das Erbe Christi, seine Liebe, unzerrissen zu hüten.“ Ob Delp der geistlichen Deutung Moltkes über sein Todesurteil zugestimmt und daraus Hoffnung über die Schmach und Schande hinaus geschöpft hätte?
Ich vermute: Ja.