Politik ist keine einfache Sache, zumal nicht in der Gegenwart. Im zurückliegenden Wahlkampf haben sich die Parteien deutlich voneinander abgrenzt, um das eigene Profil hervorzuheben und sich als konsequente Problemlöserinnen zu präsentieren. Vereinfachung, Übertreibung und Polemik haben die Dynamik des Wahlkampfs verschärft. Wenn es um eine Richtungsentscheidung geht, sind solche Überzeichnungen im Wahlkampf nachvollziehbar. Jedoch schwächen Verunglimpfungen einzelner Politiker oder einer demokratischen Partei und vor allem Superlative wie „Tor zu Hölle“, die an die politischen Diskurse in den USA erinnern lassen, das Vertrauen in eine pluralitätsfähige Politik. Sie verzerren und überdecken das konstruktive Tagesgeschäft der Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die sich für eine verantwortliche Politik einsetzen.
Nach den Wahlen hat sich der Bundestag neu aufgestellt. Die Koalitionsverhandlungen verlangen den künftigen Bündnispartnern einiges ab. Die Zeiten, in denen eine der beiden Volksparteien mithilfe einer kleineren Partei die Regierung bildete und der Interessensausgleich weitgehend innerhalb der großen Parteien stattfand, sind längst vorbei. Die Ausdifferenzierung des Parteienspektrums mit Aufkommen und Etablierung populistischer, teils extremistischer Parteien an den Rändern hat zur Folge, dass die demokratischen Parteien in einer Koalition ihren Interessensausgleich untereinander öffentlich verhandeln müssen. Die Kunst des Kompromisses ist ein zentrales Kennzeichen einer funktionierenden Demokratie. Zugleich müssen die Parteien ihrem Programm treu bleiben und die Interessen ihrer Wählerschaft vertreten. Die Ampel, von Anfang an eine Koalition wider Willen, hat gezeigt, zu welchen Reibungsverlusten und Konflikten dies führen kann und wie dadurch eine gemeinsame Regierungsarbeit überstrapaziert wird.
Das Agenda-Setting lautstarker Minderheiten, die durch das Befeuern gesellschaftlicher Triggerpunkte und die Stilisierung politischer Gegner Vorteile für sich erhoffen, geht an den politischen Akteuren in der Mitte der Parteienlandschaft nicht spurlos vorbei. Der Soziologe Steffen Mau beobachtet auch bei diesen Parteien eine zunehmende Profilierung durch „Inszenierung von Gegnerschaft“, so dass der politische Betrieb selbst zur gesellschaftlichen Polarisierung beiträgt. Für Koalitionsbildungen macht es das nicht einfacher. Denn eine verantwortliche Politik – ob in Regierungsverantwortung oder in Opposition – weiß nicht nur, dass die Wirklichkeit vielschichtig ist, sondern ist auch bestrebt, auf die komplexen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen angemessene Antworten zu finden.
Die politischen Entscheidungen so zu vermitteln, dass sie von den Bürgerinnen und Bürgern nachvollzogen und mitgetragen werden können, ist mehr als eine Kompetenzbeschreibung von Regierungssprechern. Im günstigen Fall ist ein solches Vorgehen vorbildlich für eine politische Kultur, die jenseits vom Schwarz-Weiß-Denken emotionalisierter Konflikte nach Wegen kommunikativer Verständigung im Dienst des Gemeinwohls sucht. Im Gegensatz zur Funktionslogik vieler Social-Media-Plattformen, die zur Simplifizierung nötigt und vor allem extreme, aufsehenerregende Negativ-Botschaften unabhängig von deren Wahrheitsgehalt in den Vordergrund stellt, bemüht sich eine solche politische Kultur um eine Haltung der Ambiguitätstoleranz.
Ambiguitätstoleranz lässt sich als Haltung beschreiben, konstruktiv mit Mehrdeutigkeiten, Unsicherheiten und Widersprüchlichkeiten umzugehen und diese produktiv für die Bearbeitung der drängenden Zukunftsfragen zu nutzen. Im Kanon der demokratischen Tugenden kommt ihr in unserer pluralen Gesellschaft eine besondere Rolle zu, sowohl für die Politikerinnen und Politiker als auch für die Bürgerinnen und Bürger. Als politische Kompetenz steht die Ambiguitätstoleranz im Kontrast zu den Tendenzen der Vereindeutigung, wie sie der Kulturwissenschaftler Thomas Bauer in Politik, Kultur und Gesellschaft diagnostiziert. Wer vorschnell mittels einer Rhetorik vermeintlicher Alternativlosigkeit andere Sichtweisen und Positionen abtut oder durch Moralisierung stigmatisiert, nimmt sich die Chance einer differenzierteren Betrachtungsweise und trägt selbst zur gesellschaftlichen und politischen Polarisierung bei.
In den Koalitionsverhandlungen und der nun beginnenden Legislaturperiode muss es darum gehen, den politischen Diskurs ambiguitätstolerant zu gestalten und bei aller Identifizierbarkeit der eigenen Positionen Kompromissbereitschaft zu zeigen. Doch: Was trägt eine kompromissfähige und ambiguitätstolerante Politik? Die liberale Demokratie gründet in der Achtung der Würde eines jeden Menschen, wie sie sich wesentlich in der freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes spiegelt. Im konkreten politischen Handeln wird sich zeigen, ob die politischen Akteure der Versuchung der Vereindeutigung unterliegen oder der Komplexität und Ambiguität der drängenden gesellschaftlichen Herausforderungen gerecht werden. Die politische Tugend der Ambiguitätstoleranz hat Hochkonjunktur.