Lob der Dankbarkeit

„Sie haben dankbar zu sein.“ Der amerikanische Präsident Donald Trump schleuderte diesen Satz dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Oval Office ins Gesicht. Der Vorgang ist inzwischen im kollektiven Gedächtnis der Weltöffentlichkeit angekommen. Er stellt eine alte Frage neu auf die Tagesordnung: Kann man Dank schulden?

In der antiken Welt wird Dankbarkeit als allgemeingültige sittliche Pflicht gegenüber einem Wohltäter gesehen. Das vergeltende Wohltun (ant-euergetein) ist die positive Variante des Schadensersatzprinzips und gehört somit in den Bereich der Gerechtigkeit. Man kann das Gegenseitigkeitsprinzip allerdings auch überbieten: Der „Großgesinnte“ (megalopsychós) des Aristoteles gibt mehr zurück, als er empfangen hat. Die Gerechtigkeit verlangt dieses Mehr nicht. Nur die gleichwertige Gegengabe ist sittliche Pflicht. Und natürlich missachtet man den Geber, wenn man ihm zu wenig zurückgibt.

Die antike Tugendlehre verfügt auch über kritische Überlegungen zu den Motiven des Dankens. Das lässt sich am Beispiel des aristotelischen „Großgesinnten“ verdeutlichen. Der Großgesinnte beeilt sich, die erfahrene Gunst mit einer größeren Gunst zurückzuzahlen. Soweit so gut. Doch es kann sich dabei für Aristoteles ein weiteres Motiv hineinmischen: Der Großgesinnte möchte dem lästigen Gefühl der Verpflichtung zum Dank entgehen. Anders ausgedrückt: Es schleicht sich da ein Motiv in die Dankbarkeit hinein, das eigentlich nichts mit Dankbarkeit zu tun hat, eher mit Freiheit. Wer empfängt, begibt sich in Abhängigkeit. Der Gebende steht oben, der Empfangende unten. Das kann – nach Aristoteles’ Empfinden – demütigen. So schleichen sich auch Machtfragen in die Beziehung zwischen Geber und Empfänger. Das muss aber nicht immer so sein. Allgemein gilt in der Antike, dass das vergeltende Wohltun eigentlich nur dann sittlichen Wert hat, wenn es aus frei schenkender Güte hervorgeht. Das geht schon aus der Doppelbedeutung des Wortes cháris hervor – „Dank“ und „Gunst“. Für Cicero ist Dankbarkeit sittliche Pflicht, aber unter Einbezug der Grundhaltung der benevolentia.

Durch den Monotheismus der biblischen Tradition kommt ein Gedanke hinzu, der über die philosophische Tradition hinausgeht. Was könnte das Geschöpf seinem Schöpfer zurückgeben, was es nicht schon vorher vom ihm empfangen hätte? Es muss also, von Gott her gedacht, ein Geben existieren, das gar nicht mit der Gegengabe rechnet. Anders gesagt: Gott verlangt gar nicht die Gegengabe als Erfüllung eines Gebotes der Gerechtigkeit. Der megalopsychós des Aristoteles würde an dieser Stelle mit Gott hadern. Vielleicht würde er diese Gottesvorstellung als demütigend ansehen und sie deswegen ablehnen – wie es ja viele tun. Hier deutet sich ein zentrales Motiv der neuzeitlichen Religionskritik am Christentum an.

Man muss bei diesem Gedanken aber nicht stehen bleiben. „Ahmt Gott nach“ (Eph 5,1). Es müsste auch dem Menschen ein Geben möglich sein, das frei von der Erwartung der Gegengabe ist. Hier geht es um eine Grundentscheidung. Wenn man von der Prämisse ausgeht, dass jedes Geben den Gesetzen der Gegenseitigkeit unterworfen ist, dann wäre auch das Zurückgeben im Dank immer ein Handlung aus Pflicht. Aber genau dieses Prinzip wird in demjenigen Akt des Gebens durchbrochen, der gar keine Gegengabe mehr erwartet. Wenn man von der Prämisse ausgeht, dass ein solches Geben möglich ist, wäre es dann nicht geradezu die „Pflicht“ der „Gerechtigkeit“ in einem erweiterten Sinne, die empfangene Gabe gar nicht vergelten zu wollen, sondern sie einfach nur anzunehmen? Der Dank bestünde dann gar nicht darin, etwas für das Empfangene zu erstatten, sondern die Gabe einfach anzunehmen und darin die selbstlose Großzügigkeit des Gebers anzuerkennen. „Demut“ wäre dann die Tugend, sich beschenken zu lassen, ohne dem Impuls zu folgen, etwas zurückgeben zu müssen. Das bedeutet ja nicht, dass ich meinerseits dann nicht auch etwas geben kann. Aber dieses Geben wäre dann kein Zurückgeben, um einen Ausgleich im Sinne der Gerechtigkeit zu schaffen, sondern ein genauso freies Geben wie das Geben des Anderen. Dank wäre dann letztlich ein Ausdruck der Liebe.

Staaten müssen nicht selbstlos handeln und tun es auch nicht. Im Verhältnis zwischen Staaten geht es um Interessen. „Sie sollten dankbar sein“, dieser Satz aus dem Oval Office in Washington, enthält also eine ebenso unpolitische wie anmaßende Botschaft: „Ich habe dich selbstlos unterstützt.“ Und daraus folgend der Imperativ: „Huldige mir!“ Für diese Sorte von „Dank“ ist der tyrannische Mensch bereit, einen Deal zu machen, mehr noch: Er kann Dank nur in dieser Kategorie denken. Wehe, wenn der Deal nicht gelingt. Die Angst davor steht den huldigenden Bystandern förmlich ins Gesicht geschrieben – und dem Tyrannen letztlich auch. Jedenfalls: Mit Dankbarkeit hat das alles nichts zu tun. Man muss dieses ebenso kostbare wie unverzichtbare Wort heute wieder vor der Vergiftung durch Tyrannen und deren Claqueuren schützen.

Anzeige: Andreas Knapp - Lebensspuren im Sand. Spirituelles Tagebuch aus der Wüste. Mit einem Vorwort von Carmen Rohrbach

Die Stimmen der Zeit im Abo

Mut zur Tiefe und klare Standpunkte zeichnen die „Stimmen der Zeit“ aus. Es gilt die Kraft der Argumente.

Zum Kennenlernen: 2 Ausgaben gratis

Jetzt gratis testen