Reckwitz, Andreas: Verlust. Ein Grundproblem der Moderne.
Berlin: Suhrkamp 2024. 464 S. Gb. 32,–.
Ein großes, umfassendes, bewegendes Buch: Seine These, sehr vereinfacht, lautet: Die Moderne hat seit etwa 250 Jahren das Fortschrittsparadigma über alles gestellt; alles wird immer besser und mehr, der Wohlstand, die Lebensqualität, die gesellschaftliche Freiheit, die Gerechtigkeit und der Friede, das lange und gesunde Leben. Verluste, die emotional treffen und in dieses Paradigma nicht passen, gab es immer – sie wurden verdrängt, überspielt, wegrationalisiert, als kleine Unfälle auf dem steten Weg nach oben bagatellisiert. In der gegenwärtigen Spätmoderne, beginnend etwa mit den 1980er-Jahren, die das Paradigma des Fortschritts nur teilweise überwindet, eskalieren die Verluste; sie werden unabweisbar und immer bedrängender, bezüglich der Zukunft werden die Menschen pessimistisch, ängstlich, auch aggressiv.
Andreas Reckwitz, inzwischen führend unter Soziologen, entfaltet diese These ausführlich und genau, mit großer Sprachkraft und einer beeindruckenden Belesenheit und Klarheit in der Argumentation. Verluste sind, so seine Begrifflichkeit, nicht nur ein Verschwinden, sondern sie bewirken die Störung einer emotionalen Bindung, sie werden als irreversibel und unverfügbar erlebt, sind letztlich ein Selbst- und Weltverlust. Beeindruckend ist die Breite der geschilderten Verlusterfahrungen: Menschen, Dinge und Räume werden verloren, sozialer Status vergeht und die Angst vor diesem Verlust wächst, kulturelle Errungenschaften und Heimat gehen verloren, es gibt Scheitern, Niederlagen, Traumata – alles auch mit psychologischem Gespür beschrieben. Im zweiten Teil des Buches wird der paradoxe Umgang der Moderne mit den Verlusten analysiert: Verluste werden mehr, denn unter anderem hat man – einfach gesagt – mit zunehmendem Wohlstand mehr zu verlieren; zugleich werden sie invisibilisiert und narrativ relativiert, nostalgiert – „Retro“ usw. verklärt das Verlorene ästhetisch – und psychologisiert.
In der Spätmoderne stellt Reckwitz neue Verlustschübe fest: Die Verlierer des modernen Industrialismus werden mehr. Der Klimawandel schafft Verlierer. Die politische Regression im Populismus baut auf die Ressentiments der sozialen Verlierer. Historische Wunden von Individuen oder Volksgruppen – Opfern von Missbrauch, Kolonialismus usw. – werden artikuliert. Das stärker emotional geprägte Selbst braucht mehr personale Bindung, die im Verlustfall tiefer erschüttert oder gekränkt wird und nicht ersetzbar ist. Der alternden Gesellschaft geht die Jugend und ihre Energie verloren, Krankheit und Tod als existentielle Verlusterfahrungen werden übermächtig. Das letzte Kapitel (doing loss) beschreibt wunderbar und teilweise mit sanfter Ironie, wie die Spätmoderne mit diesen Verlusten umgeht: Vulnerabilität und Resilienz sind die neuen Paradigmen. Das kulturell Wertvolle wird mit Übereifer zu retten gesucht. Eine „Restorative Justice“ sucht Opfer anzuerkennen und vergangene Verluste auszugleichen. Der Populismus ist eine Art Verlustunternehmertum, das den Rachedurst der Verlierer gegen die (vermeintlichen) Gewinner politisch ausschlachtet. Die neue Askesebewegung verkauft Verluste als eigentlichen Gewinn. Eine neue Trauerkultur will Verluste besser integrieren.
Nur wenig thematisiert Reckwitz den christlichen Umgang mit Verlusten: Erwähnt wird die Reich-Gottes-Erwartung (132), die das Fortschrittsparadigma der Moderne theologisch umzusetzen scheint. Mehr reflektieren könnte man darauf, dass in christlicher Weltanschauung Verluste immer schon eingepreist sind: Diese Welt vergeht, eine neue wird kommen. Wer sich zu sehr an irdische Güter – materielle, geistige, soziale… – bindet, schließt sich von den himmlischen ab. Durch den Tod gelangen wir zum Leben. Christen können Verluste leichter annehmen und sie durchleiden, weil sie, so die Verheißung, alles Verlorene wiederbekommen, dreißig-, sechzig- und hundertfach. Dieses christliche Erbe ist in dem von Reckwitz hauptsächlich thematisierten Westen durchaus präsent, oft indirekt und abgedrängt in den Untergrund, aber doch mit der Option, dass es zum „Grundproblem der Moderne“ einiges zu sagen hätte.
Stefan Kiechle SJ
Resing, Volker: Friedrich Merz. Sein Weg zur Macht.
Freiburg: Herder 2025. 223 S. Gb. 22,–.
Ob der Wahlsieg von Friedrich Merz am 23.2.2025 wirklich ein Sieg war, darüber kann man trefflich streiten. Ich streite aber nicht darüber, ob es sich lohnt, Volker Resings Buch über den CDU-Spitzenkandidaten auch nach Merz’ Wahlsieg zu lesen. Es lohnt sich vielmehr, und zwar deswegen, weil hier mehr als ein Buch über den Wahlkampf vorliegt, in dem es erschien. Resings Einblicke helfen, die längeren Linien zu verstehen, die sich jetzt zeigen werden, wenn darum geht, komplexe Lagen zu analysieren und dann auf Entscheidungen hin zuzuspitzen.
Naheliegenderweise ist das Buch in drei Abschnitte aufgeteilt: 1. Der Aufstieg von Merz in den Wende-Jahren, zunächst als auffallend eloquenter Neuling im Bundestag, dann der gemeinsame Aufstieg mit Angela Merkel, dann die Entfremdung beider bis hin zur „Scheidung“. Es folgt 2. der Wechsel auf die Seitenlinie und in die Wirtschaft, und schließlich 3. das Comeback nach dem Rücktritt von Merkel als CDU-Vorsitzende 2018 sowie der mühsame, lehrreiche und schließlich gelungene Aufstieg bis zur Kanzlerkandidatur. Volker Resing, der ja bereits als Merkel-Biograf bekannt wurde, zeichnet die gemeinsamen Anliegen und unterschiedlichen Akzente der Haupt- und Nebenakteure, die taktischen Meisterstücke und Volten sowie die Verstrickungen der unterschiedlichen Charaktere ineinander kenntnisreich nach. Er geht aber auch über die Personalisierung der Konflikte in der CDU hinaus: „Die Enttäuschung von Merz wurzelte auch in den Richtungsentscheidungen, die seine Partei mit dem Modell Merkel zunächst weniger inhaltlich getroffen hatte, sondern mehr, was den politischen Stil angeht … Merz ist das Gegenteil: Politik darf und muss sogar den starken, pointierten Auftritt suchen … Leidenschaft in der Sache und die Kunst zu debattieren in einem Wettstreit der Argumente und Abwägungen sind für die Merz’sche Variante elementar“ (87 f.).
Die Phase zwischen dem Ausscheiden aus dem Bundestag und der ersten Kandidatur zum CDU-Parteivorsitzenden ist das, was Merz’ Biografie „so überraschend und ungewöhnlich macht. Merz steigt nicht aus, um sich zu verabschieden, sondern im Nachhinein lässt sich sagen: Er war kurz mal weg, um was zu lernen. Merz kommt als ein anderer zurück“ (153). Das macht auch den besonderen Reiz und Informationswert des mittleren Abschnitts (101-154) aus, weil Merz sich in dieser Zeit eher am Rande der öffentlichen Aufmerksamkeit bewegte, aber doch eben präsent blieb, nicht zuletzt als „Großkritiker von außen“ (116), so dass sein plötzlicher Aufschlag nach dem Rücktritt von Merkel vom Bundesvorsitz intern weniger überrascht, als er seinerzeit tatsächlich von außen gesehen viele überraschte. Dass Wolfgang Schäuble dabei eine wesentliche Rolle spielte, ist bekannt. Weniger bekannt ist, was Resing auch deutlich macht, nämlich: wie zentral die Rolle Schäubles für den Aufstieg von Merkel und Merz von Anfang an war, und wie sehr Schäuble die ganzen Jahre über auch in sich selbst auf eine – wie ich meine – unversöhnte Weise die beiden Politik-Stile in sich trug, die in den von ihm geförderten Protagonisten repräsentiert waren.
Jedenfalls: Auch nach der Wahl lohnt die Lektüre von Resings Buch. Gerne hätte ich allerdings noch mehr über Merz’ inhaltliche Bindung an das Christentum und den Katholizismus erfahren als nur das, was die mageren Hinweise auf S. 21 f. bieten: Beheimatung im katholischen Herkunftsmilieu, Kritik an der mangelnden Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche, Bekenntnis zum „jüdisch-christlichen Wertefundament“. Irgendwie scheint mir das zu wenig zu sein für eine kraftvolle programmatische Erneuerung des C in der Politik. Der beiderseitige „Entfremdungsprozess von Kirche und Politik“ (22), den Resing konstatiert, fordert beide Seiten neu heraus, aufeinander zuzugehen, auch im Verhältnis von Kirche und CDU, das in den letzten Wochen des Wahlkampfes eher angespannt wirkte.
Klaus Mertes SJ