Am 17. Juli 2016 ist nach langer schwerer Krankheit Alex Stock verstorben, bei sich zu Hause in Frechen-Königsdorf bei Köln. Keine zehn Tage zuvor hatte ich noch mit ihm telefoniert. Und wir hatten vereinbart, dass ich mich nach meinem Urlaub wieder bei ihm melden dürfe. Johannes Rauchenberger, Leiter und Kurator der „Sammlung für Religion in der Gegenwartskunst“ des KULTUMdepot Graz („Kulturzentrum bei den Minoriten“) hatte mich Ende Juni brieflich informiert: Der Krebs wuchert wieder, die Chemotherapie wurde abgesetzt. Stocks Meisterschüler berichtete verdutzt: Er, der trösten sollte, sei getröstet worden im Blick auf die fruchtbare Zusammenarbeit: „Wir können doch dankbar sein, dass wir zwanzig Jahre miteinander hatten!“
„Morgen“ - Bekenntnis und Vermächtnis
Mir ging es ähnlich, beim Telefonanruf Anfang Juli. Nach einer medizinischen Diagnose („Es kann noch Monate oder Wochen dauern oder nur ein paar Tage gehen, aber ich kann immerhin noch denken und lesen“) sofort die Frage: „Kennen Sie mein letztes Buch?“ Ich hatte es nach dem Anruf von Rauchenberger sofort bestellt. (Bevor das Rezensionsexemplar eintraf, war schon ein Autorenexemplar samt handschriftlicher Widmung des Autors da.) Ich würde es gleich lesen, sagte ich, ahnend, dass es wohl die letzte Veröffentlichung zu Lebzeiten sein könnte: „Morgen. Theologie einer Tageszeit“ in der von Joachim Hake und Elmar Salmann OSB herausgegebenen Reihe „Spuren. Essays zu Kunst und Religion“ (EOS, St. Ottilien).
Und schon erkundigte sich Alex Stock nach einem Pfarrer und Freund, mit dem zusammen ich ihn vor einigen Jahren besucht hatte. Wir saßen damals in einem Restaurant unweit der Kölner Domplatte, Alex Stock war bereits gezeichnet von Bestrahlung und Chemotherapie.
„Morgen“: ein Buchtitel, zunächst liturgisch gemeint, als Vermächtnis - und als Bekenntnis! Denn so ist gekommen, und es war Alex Stock, der seine Freunde daran erinnerte, womit er sein Leben abschloss: Es gibt ein Morgen - nach dem Tod. Ich glaube daran!
1937 geboren, studierte er von 1957 bis 1967 in Frankfurt am Main, Innsbruck, München und Würzburg. 1967 wurde er in Innsbruck bei Karl Rahner SJ promoviert, dozierte von 1969 bis 1971 an der Pädagogischen Hochschule Weingarten, ab 1971 als Professor für Theologie und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Rheinland, ab 1980 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2002 an der Universität zu Köln. Seit 1998 war er Leiter der dort eingerichteten „Bildtheologischen Arbeitsstelle“.
1967 zum Priester geweiht, heiratete er später (1973) - nachdem der Bescheid kam, dass er, nach einem allgemeinen Laisierungsstopp unter Paul VI., nicht mehr laisiert wird. Ende der 1970er-Jahre wurde (vergeblich) versucht, ihm die Lehrbefugnis zu entziehen. Er sollte in die Religionswissenschaft wechseln, Alex Stock wollte in der Theologie bleiben - und hat sich durchgesetzt.
Begegnung mit einer theologische Vision
Auf Alex Stock gestoßen bin ich in den 1990er-Jahren, als ich an meiner Doktorarbeit über die Mysterien des Lebens Jesu bei Karl Rahner arbeitete1. Alex Stock nimmt im dritten Band seiner Christologie innerhalb der großen theologischen Vision einer „Poetischen Dogmatik“ - als einsame Ausnahmeerscheinung der theologischen Szene (!) - ausdrücklich Bezug auf Rahners „Versuch eines Aufrisses einer Dogmatik“ aus den Fünfzigerjahren, in welchem an einen der Theologie abhanden gekommenen Topos erinnert ist: die Mysterien des Lebens Jesu, eine Art konkrete Christologie, die, anders als neuscholastisch geprägte, auf die beiden Pole Geburt und Kreuz konzentrierte und fixierte Christologie (Staurozentrik), die einzelnen Lebensereignisse Jesu nicht dem „pie meditari“ überlässt, sondern theologisch fruchtbar macht.
„Eine systematisch-theologische Rehabilitation dieser von der spekulativ und apologetisch orientierten Dogmatik fast ganz in den Bereich der erbaulichen Betrachtung abgeschobenen Thematik“, erkannte Alex Stock ganz richtig, „verlangte K. Rahners ,Aufriß‘. ,Mysterium Salutis‘, die große heilsgeschichtliche Dogmatik der sechziger Jahre, erfüllte den Wunsch mit einem eigenen umfangreichen Teil ,Die Mysterien des Lebens Jesu‘.“2 Ein Torso blieb der Topos bei Rahner wie im „MySal“, denn es geht tatsächlich darum, ihn „als theologische Erkenntnisquelle“3 und nicht nur als originellen Behübschungstopos ernst und in Anspruch zu nehmen.
Von da an verfolgte ich das Erscheinen jedes einzelnen Bandes: 1995 ist der erste erschienen, 2016 der letzte - vier Bände Christologie, drei Bände Gotteslehre, zwei Bände Schöpfungslehre, zwei Bände Ekklesiologie, insgesamt fast 3000 Seiten4. Schon die Untertitel lassen erahnen, dass hier nicht herkömmliche abstrakte theologische Kost geboten wird, und sie machen neugierig: Namen - Schrift und Gesicht - Leib und Leben - Figuren (Christologie) ; Orte - Namen - Bilder (Gotteslehre); Himmel und Erde - Menschen (Schöpfungslehre); Raum - Zeit (Ekklesiologie).
Mit seiner 11-bändigen, kurz vor seinem Tod abgeschlossenen „Poetischen Dogmatik“ - bezeichnenderweise erschien der letzte Band der Reihe, der zweite Band der Ekklesiologie unter dem Titel „Zeit“ fast parallel zu dem Bändchen „Morgen“ - überraschte er die Fachwelt. Und stürzte sie in Verlegenheit. Bis heute verzweifeln manche daran. Was anfangen mit „schöngeistigen“ Beobachtungen aus Kunst und Liturgie? Welchen Erkenntniswert sollten verschüttet gegangene Traditionen im starren dogmatischen Fächerkanon haben? Noch immer wissen Kollegen nicht, wie sie damit umgehen sollen - von Schülern und Freunden abgesehen, die jeden Band sehnsüchtig erwarteten.
Bewunderer und Verächter hielten sich dabei keineswegs die Waage. Für Erstere war Alex Stock stets ein Geheimtipp. Ich habe immer wieder Rezensionen aufgespürt oder zufällig entdeckt. Wer verstanden hat, was Alex Stock wollte, konnte nur begeistert sein - die anderen schwiegen. Mir fielen Besprechungen in „Geist und Leben“, „Erbe und Auftrag“, „Theologie und Philosophie“, „Orientierung“ oder in den „Stimmen der Zeit“5 auf. Elmar Salmann OSB, Dominik Terstriep SJ, Georg Maria Roers SJ, Eva-Maria Faber, Peter Hofmann oder Hermann Pius Siller setzten sich, unter verschiedenen Rücksichten, mit dem Opus oder Teilen davon auseinander, um einige Namen zu nennen. Sie staunten - und luden zum Staunen ein.
Was sich hinter dem Begriff „Bildtheologie“ verbirgt, war die Rehabilitation und Repristination des Bildes nach einem zweiten Bilderstrurm - der Sechzigerjahre, als Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils. Die Liebe fürs Latein - Alex Stock hat mehrere kleine Publikationen zu Orationen vorgelegt - sollte nicht dazu verführen zu meinen, man habe es mit einem Konservativen zu tun gehabt. Alex Stock war in der Tradition der Kirche daheim. Er bewahrte und griff wieder auf - um zu retten. Um zu zeigen, dass die Tradition der Kirche - liturgisch, dogmatisch, kunsthistorisch - reicher ist als die von Traditionalisten dargebotene.
In den „Stimmen der Zeit“ veröffentlichte Alex Stock im Februar 2016 noch einen kleinen Artikel über späte Gedichte Hölderlins: „Linien des Lebens“. Zuvor hatte er im Dezember 2012 aufmerksam gemacht auf die weitreichende Bedeutung der von Papst Benedikt XVI. erzwungenen Änderung des „pro multis“ im Messbuch; im deutschen Sprachraum kam sie, anders als anderswo, bisher doch nicht zustande6.
Alex Stocks Gespür für Sprache machte ihn in mehrfacher Hinsicht zum Übersetzer. Unter anderem von Gebeten und Texten eines Huub Oosterhuis, gegen dessen drohende Verbannung aus dem neuen „Gotteslob“ er vehement zu Felde zog. Die „Abfallprodukte“ finanzierten das große Projekt der Poetischen Dogmatik. Was Alex Stock in den theologischen Betrieb einbrachte, war mehr als eine Liebhaberei. Von manchen als Forschungsnische oder Spielerei abgetan, muss die wahre Bedeutung seiner Theologie wohl erst noch angemessen gewürdigt werden.
Ein theologischer Gigant?
Die Kollegen von „Christ in der Gegenwart“ würdigten Alex Stocks Lebenswerk als „Theologie voller Poesie“7. Sein geistiger Nachlasswalter und Schüler Johannes Rauchenberger nannte ihn einen „theologischen Giganten“ und stellte der Poetischen Dogmatik „eine lange Halbwertszeit“ in Aussicht8. „Eine Stimme, die fehlen wird“9: Ja, sie wird fehlen. Aber Alex Stock hinterlässt ein Werk, das inspiriert, ermutigt, meine theologische Fantasie beflügelt - und ihn überlebt. Im Dezember 2001 habe ich ihn zum ersten Mal live erlebt, bei einem Studientag in München, an der Katholischen Akademie in Bayern: „Geist im Advent. Inspirationen der Kunst“. Wenige Veranstaltungen habe ich derart lebhaft und ergriffen in Erinnerung wie diese. Sie wirkt nach. Danke, Alex Stock!