David Miller, Philosoph in der Tradition des kritischen Rationalismus und Dozent in Warwick/Coventry, entwickelte im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise und der Diskussion um „Obergrenzen“ den Begriff der „compatriot partiality“: Bevorzugung der Landsleute. Das Thema, das hier angesprochen ist, beschäftigte schon in der Antike die Köpfe. Es taucht immer wieder in den Debatten um humanitäre Interventionen auf. Auch diese Zeitschrift beschäftige sich damit (vgl. Simmen der Zeit 1/2018, 10 ff.). Im Kern geht es um die Frage: Wieviel Verantwortung trägt die Politik eines Nationalstaates für die Menschen außerhalb seiner Grenzen? Aktuell taucht das Thema nun wieder bei der Frage nach der gerechten Verteilung von Covid-Impfstoffen auf. Wie in vielen Bereichen deckt auch hier Corona in aller Nüchternheit und Brutalität sehr grundsätzliche Probleme und Konflikte auf.
Die Weltgesundheitsbehörde versucht mit der COVAX-Initiative (= Covid-19 Vaccines Global Acces) eine gerechte globale Verteilung des Impfstoffs unabhängig von der Kaufkraft einzelner Länder voranzutreiben. Nach Auskunft des Verbands der forschenden Pharmaunternehmen (vfa, 23.12.2020) nehmen von insgesamt 200 Staaten 190 an der Initiative teil, 98 wohlhabendere Staaten und 92 weniger wohlhabende und mittellose Staaten. Wohlhabendere Staaten zahlen den vollen Preis für den Impfstoff; die ärmeren Staaten sind gebeten, sich finanziell zu beteiligen, haben aber einen Anspruch auf Gratislieferungen, wenn sie nicht zahlen können. Einige wohlhabendere Länder, darunter auch Deutschland, unterstützen ärmere Länder unabhängig von COVAX. Die EU beteiligt sich mit insgesamt 500 Millionen Euro. 16 führende Pharmaunternehmen unterstützen zusammen mit der Bill-&-Melinda-Gates-Stiftung die Initiative.
Trotzdem bleibt festzustellen: Die reichen Länder haben schon jetzt die Schlacht um den Erwerb von Impfstoffen für ihre jeweils eigenen Bevölkerungen gewonnen. In kritischen Kommentaren macht deswegen das Wort vom „Impfnationalismus“ die Runde. Stand 19.12.2020 sind 7,7 Milliarden Impfdosen verkauft worden, wovon der größere Teil an die G20-Länder ging. Ganz vorne sind die USA, Indien, die EU, Kanada und Großbritannien. Sie planen Herdenimmunität für ihre Bevölkerungen im Laufe des Jahres 2021. In den 92 ärmeren Ländern werden die Impfungen wohl erst 2021 beginnen und in diesem Jahr nur 20% der Bevölkerung erreichen. Forderungen etwa von Muhammad Yunus, Desmond Tutu, Michail Gorbatschow und anderen nach einer gerechteren Verteilung der Impfdosen (vgl. aerzteblatt.de, 29.6.2020) fanden kein Gehör. Die Regierungen fühlten sich vielmehr im Sinne der „compatriot partiality“ verpflichtet, ihren eigenen Bevölkerungen einen Vorrang einzuräumen.
Mitleid und Moral global
Mehrere Argumente für die ethische Vertretbarkeit von „compatriot partiality“ lassen sich nennen: Hilfen werden meist effektiver im eigenen Zuständigkeitsbereich umgesetzt als außerhalb der eigenen Grenzen, weswegen es sinnvoll ist, mit dem Naheliegenden anzufangen. Bürgerinnen und Bürger in Staaten bilden durch Arbeitsteilung ein „umfassendes System der Zusammenarbeit“ (Miller) und damit ein System der gegenseitigen Versorgung, das sie einander gegenüber mehr verpflichtet als gegenüber denen, die nicht zu diesem System gehören. Und schließlich ist die menschliche Fähigkeit zu Empathie nicht so geschaffen, dass sie das nahe und das ferne Leiden emotional gleichsetzt: Wenn in meiner unmittelbaren Umgebung ein Mensch leidet, bin ich mehr aufgerufen, ihm oder ihr zu helfen als den leidenden Menschen, die mir räumlich fern sind. Universalistische Ethik und kosmopolitisches Handeln erfordern eine hohe Abstraktionsleistung gegenüber spontanen Gefühlen, wie sie sich meist nur in Nahbeziehungen einstellen. Für den Universalisten Immanuel Kant hatte Mitleid sogar nichts mit Moral zu tun, da es nur ein Gefühl sei, welches sich dem allgemeinen Gesetz entziehe. Umgekehrt könnte man deswegen auch sagen: Der ethische Universalismus darf im politischen Handeln nicht so weit getrieben werden, dass er die Fähigkeit zur Empathie hier und jetzt vor Ort beschädigt.
Die Gegenargumente lauten, verkürzt: Menschenrechte gelten global für alle Menschen, auch das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit; die Globalisierung hat schon längst den Globus in ein „umfassenden System der Zusammenarbeit“ verwandelt; sie bringt im Übrigen auch die Fernen in erreichbare Nähe für Empathie. Aber nehmen wir trotzdem einmal an, dass die Argumente für „compatriot partiality“ stark genug sind, um eine Schieflage in der globalen Verteilungsgerechtigkeit zu begründen: Wo wäre dann die Grenze gegenüber plattem Nationalegoismus? Eine wäre sicherlich da, wo bestimmte Staaten und Gesellschaften aktiv durch ihr Verhalten globalen Schaden anrichten, wie es etwa beim CO2-Ausstoß und beim Konsumverhalten der reichen Länder der Fall ist. „Compatriot partiality“ legitimiert nicht eine Politik von Staaten, die auf Kosten anderer Staaten geht.
Die Grenzen der "compatriot partiality"
Was Corona betrifft, so zeigen sich Grenzen von „compatriot partiality“ nicht nur in der Impfstoff-Verteilungspolitik, sondern noch mehr in den globalen Folgen der Lockdown-Politik, gerade für die ärmeren Länder. Das kirchliche Hilfswerk RENOVABIS (Internationaler Kongress, 9.11.2021) wies bereits früh darauf hin, dass in Südosteuropa die Verlierer des Lockdowns die Arbeitsmigrantinnen und -migranten sowie ihre Familien, die Kranken in den kollabierenden Gesundheitssystemen sowie vor allem die Kinder sind. Dies gilt genauso für das globale Nord-Südgefälle: Die ärmeren Länder leiden mehr unter dem Lockdown in den reicheren Ländern als umgekehrt. Und auch der Lockdown in den ärmeren Ländern hat für die dortigen Bevölkerungen schlimmere Folgen. UNICEF zählte im Frühjahr etwa 370 Millionen Kinder weltweit, die durch Schließungen von Schulen und durch Kontaktsperren keine Schulspeisung mehr erhielten (UNICEF, 29.4.2020). Ende Oktober 2020 waren es laut UNICEF immer noch 265 Millionen. Lebensbedrohlich können sich auch die gestoppten Impfkampagnen gegen Masern und Kinderlähmung auswirken.
Mitarbeitende von NGO´s wie etwa dem Jesuiten-Flüchtlingsdienst berichten von der explodierenden Gewalt in Familien. Swiss Policy Research (swprs.org) berichtet im Dezember 2020: „Die WHO erklärte, dass der Lockdown eine schreckliche globale Katastrophe ausgelöst habe. Laut WHO sind durch Lockdowns 1,6 Milliarden Menschen vom akuten Verlust ihrer Lebensgrundlagen sowie 150 Millionen Kinder von akuter Armut bedroht. Arbeitslosigkeit, Konkurse und psychologische Probleme haben weltweit Höchstwerte erreicht.“ David Nabarro, Sonderberichterstatter der WHO, ergänzt in einem Interview mit Spectator TV am 13.12.2020: „Wir bei der Weltgesundheitsorganisation befürworten Lockdowns nicht als Hauptmittel, um das Virus zu kontrollieren. In unseren Augen sind Lockdowns nur dafür gerechtfertigt, um Zeit zu gewinnen, und zwar Zeit, um umzuorganisieren, um sich neu aufzustellen, und die eigenen Ressourcen neu auszutarieren, und um das medizinische Personal zu schützen. Aber im Großen und Ganzen raten wir von Lockdowns ab.“
Es befremdet, wenn bei der aktuellen Impfkampagne sehr kritisch und sorgfältig über die gerechte internationale Verteilung des Impfstoffs diskutiert wird – einschließlich lautstarker Stellungnahmen aus dem Vatikan (vgl. katholisch.de, 25.12.2020) –, aber zugleich die globale Gerechtigkeitsfrage wenig erkennbaren Einfluss auf die Entscheidungen über die nationale Lockdown-Politik im reicheren Norden hat, obwohl diese noch weitreichendere Folgen gerade für die ärmeren Länder mit sich bringt. Der Blick der Öffentlichkeit in den reichen Ländern richtet sich auf die Infektionszahlen auf nationaler Ebene. Auch das gehört zu den Gefahren und Kollateralschäden eines Tunnelblicks: Die globalen Folgen der Lockdowns fallen aus der Aufmerksamkeit heraus. Mit „compatriot partiality“ lässt sich das allerdings nicht rechtfertigen.