"Das Leben wird nicht im Labor gemacht, sondern in der Wirklichkeit"Die Familien-Katechesen des Papstes - und Marco Politis Buch "Franziskus unter Wölfen"

Viele kreiden es Papst Franziskus an, dass er bei der Familiensynode im vergangenen Herbst geschwiegen hat. Nur am Anfang und am Ende hat er etwas gesagt. Dazwischen: kein Wort. Dass er zuhört, dass er schaut, wie Bischöfe in heiklen Fragen miteinander umgehen, wie sie argumentieren, wie sie mit diametral gegenübergesetzten Positionen umgehen - auf diese Idee kamen manche Beobachter überhaupt nicht. Der Ruf nach einem „Machtwort“ wurde laut.

Reden oder schweigen? Oder: Hinhören

In seiner Predigt während der Eucharistiefeier zur Eröffnung der Außerordentlichen Vollversammlung der Bischofssynode hatte er betont: „Die Synodenversammlungen sind nicht dazu da, schöne und originelle Ideen zu diskutieren oder zu sehen, wer intelligenter ist … Sie sind dazu da, de Weinberg des Herrn besser zu pflegen und zu hüten, an seinem Traum, seinem Plan der Liebe für sein Volk mitzuarbeiten.“1

Zum Abschluss der Synode konnte man ihn am 18. Oktober vom „Geist der Kollegialität und Synodalität“2 reden hören. Er ging dabei auf die zutage getretenen Spannungen und unterschiedlichen Geschwindigkeiten ein und benannte fünf Spannungen. Er resümierte: „Ich persönlich wäre sehr besorgt und traurig gewesen, hätte es diese Versuchungen und diese lebhaften Diskussionen nicht gegeben, diese Regungen verschiedener Geister, wie sie der heilige Ignatius nennt“3. Am Ende ging er dann auf seine eigene Rolle ein. Die „Anwesenheit des Papstes“, so Franziskus („cum et sub Petro“), sei „für alle eine Garantie“, dass offen und freimütig die verschiedenen Positionen ins Gespräch kämen. Er stehe dafür, „die Einheit der Kirche zu gewährleisten.“4

Er erinnerte weiter daran, dass „die Autorität in der Kirche Dienst ist“5 und bemühte dafür eine Katechese seines Vorgängers, Papst Benedikt XVI., von 2010. „Liebe Brüder und Schwestern“, setzte er fort, „jetzt bleibt uns noch ein Jahr, um die vorgeschlagenen Ideen mit wahrer geistlicher Unterscheidungsgabe reifen zu lassen und konkrete Lösungen für viele Schwierigkeiten und zahlreiche Herausforderungen zu finden, denen die Familien entgegentreten müssen, und um Antworten zu geben auf die vielen Entmutigungen, die die Familien umgeben und ersticken.“6

Viele Diözesen und Bischöfe, so der Eindruck, haben einen Großteil dieser Zeit der Unterscheidung verschlafen bzw. nicht genutzt. Es setzte ein postsynodales Hickhack ein. Manche meinten, das „Wort Jesu“ und die „Lehre“ selbst gegen den Papst verteidigen zu müssen, der bedenkenlos für „offene Türen“ plädiere und sich der schwerwiegenden Konsequenzen für die Tradition nicht bewusst sei. Lager wurden sichtbar. Tiefe Gräben. Unversöhnlichkeit. Mittlerweile warnen viele vor überzogenen Erwartungen an die am 4. Oktober 2015 beginnende Ordentliche Vollversammlung der Bischofssynode. Andere weisen darauf hin, dass die Kirche, mindestens in unseren Breitengraden, jede Glaubwürdigkeit verliere, wenn sie an den Nöten der Menschen vorbeirede, stur an der Unveränderlichkeit der Lehre festhalte und sich nicht für neue Wege öffne.

Ein „heißer Herbst“ zeichnet sich ab. Läuft die Kirche Gefahr, sich wieder nur mit sich selbst zu beschäftigen? Davor warnte bereits ein argentinischer Kardinal im Vorkonklave („autoreferencialidad“): Jorge Mario Bergoglio SJ, der dann am 13. März 2013 zum Papst gewählt wurde, und dieser wird seither nicht müde, wie Jesus im Evangelium besonders den verwundeten Menschen in die Mitte der (theologischen) Aufmerksamkeit und des (pastoralen) Tuns zu stellen.

Unübersehbar: Der Papst setzt auf synodale Momente in der Kirche. Er ermutigt Bischöfe dazu. Und die tun sich schwer damit. Papst Franziskus appelliert an die Eigenverantwortung der Teilkirchen. Aber wenn dann ein Bischof daran erinnert, dass keine Diözese eine „Filiale“ Roms sei - nachzulesen auch in Konzilstexten -, dann denunzieren andere diese Selbstverständlichkeit postwendend als „Sonderweg“, der einer „Los-von-Rom“-Bewegung gleichkäme. Argumenta non valent - der Eindruck lässt sich nicht von der Hand weisen.

I. Päpstliche Familien-Katechesen

Zwischen den beiden Synoden hat Papst Franziskus zur Thematik regelmäßig gesprochen - in seinen Familienkatechesen während der Mittwochs-Generalaudienzen. Eine repräsentative Auswahl von neunzehn zwischen Dezember 2014 und Juni 2015 gehaltenen Katechesen liegt jetzt auf Deutsch vor7.

Bernd Hagenkord SJ, Leiter der deutschsprachigen Abteilung von Radio Vatikan, hat eine Einführung dazu geschrieben (7-25) - eine nützliche Lesehilfe, aber auch eine gelungene Kontextualisierung. Er betont eingangs sofort, dass diese Katechesen „nicht vom synodalen Prozess zu trennen“ (9) seien: „Manchem Leser mag es so vorkommen, als ob die päpstlichen Texte etwas schwach seien im Vergleich mit den starken Aussagen so vieler Konferenzen und Theologen, Journalisten und Blogger. Aber es ist gar nicht die Absicht von Papst Franziskus, sich in diesen Streit einzumischen, soviel wird klar. Er möchte ein Gespräch über die Familie, er möchte das Nachdenken anregen, nicht das Streiten.“ (11)

Wichtig daher der hermeneutische Hinweis: „Es geht um Meinungsbildung und darum, sein eigenes Gewissen zu formen und zu informieren.“ (23) Gleichzeitig jedoch nimmt der Papst uns die konkrete Anwendung nicht ab, er will anregen, motivieren, aufbauen: „Die Übertragung auf die konkrete Situation müssen wir dann alle selber leisten, das kann uns der Papst mit seinen Katechesen nicht abnehmen. Sie sind keine Regieanweisung und kein Regelbuch, was genau zu tun sei, dazu sind Katechesen nicht da.“ (ebd.)

Der Stil des Papstes ist bekannt: eine einfache Sprache, eingängige Bilder, starke Vergleiche, kein Moralin. Er wirbt. Da hat der Papstkenner Hagenkord schon Recht: „Es ist ein Andenken und Sprechen, ein Vorschlagen und Prüfen. Schritt für Schritt geht Franziskus vor und betrachtet die einzelnen Dinge, ohne in die Fallen der Streitigkeiten und Parteiungen zu stürzen. Schaut man sich die Formulierungen an, fällt auf, dass niemand sie vor den eigenen Karren spannen kann. Der Papst spricht frei und überlegt, freier als die innerkirchlichen Debatten es können. Und das macht diese Katechesen so interessant.“ (12)

Dem kann ich nur zustimmen. Man verkennt diesen Papst total, wenn man ihn als den guten alten Mann in Weiß von nebenan abtut.

Wenn der Papst spricht …

Von Nazaret ist die Rede, wo Jesus aufgewachsen ist: „Er hat 30 Jahre vergeudet!“ (28) Die Familie Jesu wird nicht stilisiert, sie wird nicht als Modell hingestellt („Heilige Familie“). Es heißt realistisch: „Wie viele Schwierigkeiten mussten sie überwinden!“ (30) In einer anderen Katechese wird die Kirche als Mutter vorgestellt, mit einem schönen Zitat von Óscar Arnulfo Romero, der vom „mütterlichen Martyrium“ (33) gesprochen hat.

Der Vatergestalt sind zwei Katechesen gewidmet, in jener vom 4. Februar 2015 (vgl. 42) fiel das nachmalig viel zitierte Klaps-Zitat, worauf auch Hagenkord eingeht: „Diese Bemerkungen haben viel Aufmerksamkeit erregt. Daran lässt sich eine Falle zeigen, in die der Leser tappen könnte. Eine Einordnung der Bemerkungen über das Schlagen lautet, das sei ,halt lateinamerikanisch‘. Damit baut man eine innerliche Distanz auf mit dem Ergebnis, dass man das ganze Gesagte gar nicht mehr an sich heranlässt.“ (24)

Auch Söhne und Brüder kommen zur Sprache. Zwei Katechesen sind den Großväterngewidmet. Vom „Virus des Todes“ (53) ist dort die Rede, von der „Aussonderung“ alter Menschen aus der Gesellschaft: „Es liegt etwas Niederträchtiges in dieser Gewöhnung an die Wegwerfkultur.“ (54; vgl. 61) Details kann man in „Evangelii gaudium“ (November 2013) nachlesen! Franziskus schlägt vor, „eine Spiritualität der älteren Menschen zu entwerfen“ (58). Das Gebet von älteren Menschen und Großeltern ist für ihn eine „große Injektion an Weisheit“ (60).

Den Kindern sind ebenfalls zwei Katechesen gewidmet, in denen der Papst auf ihre Leidensgeschichte eingeht: „Was nützen uns feierliche Erklärungen der Menschenrechte und der Kinderrechte, wenn wir dann die Kinder für die Fehler der Erwachsenen bestrafen? […] Jedes Kind, das beiseite geschoben, sich selbst überlassen wird, das bettelnd auf der Straße lebt, mit allen möglichen Notbehelfen, ohne Schule, ohne medizinische Versorgung, ist ein Schrei, der zu Gott aufsteigt und das System anklagt, das wir Erwachsene geschaffen haben.“ (67)

Mann und Frau - dort ein kleiner Seitenhieb auf die Gender-Theorie („Ausdruck von Frustration und Resignation“, 71) - und die Ehe sind weitere Themen. Nicht allen wird gefallen: „Denn die Frau muss nicht nur mehr gehört werden, sondern ihre Stimme muss echtes Gewicht, anerkannte Autorität in der Gesellschaft und in der Kirche haben.“ (72) Sehr realistisch sieht der Papst, dass viele junge Menschen nicht mehr heiraten wollen.

Eine vielbeachtete Katechese war die über „Die drei Wörter“ (86-90). „Bitte“, „danke“, „Entschuldigung“ sind für Franziskus „gleichsam die Eingangstür zu einer Reihe von Reflexionen über das Leben der Familie, ihr konkretes Leben, mit seinen Zeiten und seinen Ereignissen.“ (86) Der Papst beklagt darin „einen Formalismus guter Manieren“, der „zur Maske werden kann, hinter der sich Kaltherzigkeit und Desinteresse gegenüber dem anderen verbergen.“ (86 f.) Eine häufige Papstvokabel - manche können sie schon nicht mehr hören: „Es genügt eine zärtliche Geste! Ohne Worte.“ (90)

Zum Thema Erziehung liest man: „Auch in den besten Familien muss man einander ertragen! Aber so ist das Leben. Das Leben wird nicht im Labor gemacht, sondern in der Wirklichkeit. Auch Jesus ist durch die familiäre Erziehung hindurchgegangen.“ (96) Zum Thema Verlobung: „Es gibt keine Express-Ehe: Man muss an der Liebe arbeiten, man muss auf dem Weg sein.“ (98). Familie und Armut sowie Familie und Krankheit sind weitere Themen.

Dem Bändchen ist ein Nachwort von Kurienkardinal Kurt Koch beigegeben, das auf einen Kurzvortrag im Februar 2015 zurückgeht (vgl. 116-127). Bedenkenswert: „Was für eine gute Ehevorbereitung gilt, muss auch von der Begleitung nach geschlossener Ehe gesagt werden. Diesbezüglich nehme ich als Grundproblem wahr, dass unsere Ehe- und Familien-Pastoral, jedenfalls was den Durchschnitt betrifft, weitgehend eine ,Ehe-Abschluss-Pastoral‘ und nicht wirklich eine Pastoral für Ehe und Familie ist. Zumeist liegt die ganze pastorale Sorge darin, sich um den Eheabschluss zu kümmern. Die große pastorale Verantwortung muss aber in der Frage bestehen, wie die geschlossenen Ehen begleitet werden können“ (124).

Man muss Bernd Hagenkord zustimmen, der zusammenfasst, diese Katechesen machten deutlich, dass Familie für den Papst „ein Lernort“ (15) sei. Das wache Gespür für die Realität, auch der Brüche, des Scheiterns, der Dramen von Ehe und Familie scheint in vielen Bemerkungen, Anekdoten oder Erzählungen aus der eigenen Lebensgeschichte durch - der Papst hat nicht nur vage Ahnungen, eigene Erfahrungen sind ihm wichtig geworden und haben ihn nachdenklich gemacht. „Natürlich“, so Hagenkord, „will niemand die Familie neu erfinden, aber das Zitieren reicht allein auch nicht mehr aus, die Lehre muss auf die Situation heute angewandt werden. Ganz wichtig und wesentlich ist dabei eines: Das persönliche Leben von Christen, die Irrungen und Wirrungen, die Freude und die Entwicklung eines Lebens dürfen nicht dazu gebraucht werden, Prinzipien vorzuführen.“ (17) Wer meint, „Barmherzigkeit“ sei eine Marotte des Papstes, ein elegantes Schlupfloch eines „Weltpfarrers“, sollte darauf achten: „Bei der Barmherzigkeit zeigt sich aber, dass es um jeden einzelnen Menschen mit seiner Geschichte geht, nicht um Prinzipien.“ (18)

Wie praktisch-pragmatisch Papst Franziskus diesbezüglich denkt, zeigt seine mittels eines „Motu proprio“ Anfang September verkündete Entscheidung, Eheannullierungsverfahren zu vereinfachen. Das Prinzip „salus animarum suprema lex“ nimmt er ernst.

II. Ein Papst unter Wölfen?

Von daher verwundert aber auch nicht, warum der Vatikan-Berichterstatter Marco Politi in Anspielung auf Franz von Assisi und dessen Tierliebe zu dem starken, hintersinnigen Titel „Franziskus unter Wölfen“ gegriffen hat8.

Politi hat über zwanzig Jahre für die italienische Tageszeitung „La Repubblica“ gearbeitet, dann kam er als Kolumnist zu „Il Fatto Quotidiano“. Hierzulande ist er mit seinen Kommentaren in DIE ZEIT und FAZ bekannt geworden, er hat auch einige Zeit in München gelebt. Mit „Benedikt. Krise eines Pontifikats“ (2012) hat sich Politi bei Bewunderern des deutschen Papstes keine Freunde gemacht. Führungsschwäche warf er dem „Prof. Dr. Papst“ vor. Von Franziskus schwärmt er.

Politi ist ein exzellent vernetzter Vaticanista. Deswegen weiß er, dass sich der Papst „vom anderen Ende der Welt“ auf dünnem Eis bewegt. Kurienreform, Kollegialität, Synodalität, Vatikanbank, sexueller Missbrauch, Mafia - Papst Franziskus, abschätzig oft „Pfarrer der Welt“ genannt, hat viel angepackt und an vielen Tabus gerührt. Manche meinen: an zu vielen. Und immer noch kann man hören, dieser Papst müsse erst „liefern“. Genügt nicht die Lektüre von „Evangelii gaudium“?

Im vatikanischen Unterholz …

Papst Franziskus redet zuviel vom Evangelium und zu wenig von Machterhalt: „Der unbeirrbar einfache Stil des Papstes wirbelt die Traditionen durcheinander.“ (27) Viele an der Basis wittern Morgenluft. Traditionsbewusste Katholiken hingegen wissen: Der Mann verändert das Papstamt. „Seit dem Tridentinischen Konzil hat kein Papst die Macht der römischen Kurie so radikal zur Debatte gestellt.“ (39) Franziskus will die ganze Kirche reformieren, man kann nicht oft genug in „Evangelii gaudium“ nachlesen, woraus Politi (leider ohne Angabe der entsprechenden Abschnitte) reichlich zitiert!

Dagegen wird protestiert, es baut sich Widerstand auf, sogar Sabotage. Vermutlich stimmt es: „Der heimtückischste Feind von Franziskus’ Reformpolitik lauert im vatikanischen Unterholz.“ (179) Solche Leute geben die Parole „Aussitzen“ aus. Vielleicht verdrängen manche: „Franziskus ist sanftmütig, aber er lässt nicht mit sich spaßen.“ (42)

Es sind „kleine Dolchstiche“ (237), die durchaus ihre Wirkung haben, nicht frontale Angriffe. Wer Kardinal Kasper beschießt, meint Papst Franziskus. Einschüchtern lässt sich dieser Papst nicht. Er hat mit Widerstand gerechnet. Dass es keine Machtkämpfe hinter den Mauern des Vatikans gibt, glaubt längst niemand mehr. Manche Kardinäle und Kurialen wollen angeblich „nur Schlimmeres verhindern“: „,Ich möchte als Katholik sterben und hoffe, dass Bergoglio seinem Nachfolger noch die Möglichkeit lässt, Papst zu sein!‘, so die aufgebrachten Worte eines reformfeindlichen Prälaten, der sich hinter der Anonymität versteckt.“ (238)

Franziskus unter Wölfen: „Die Feinde von Papst Franziskus agieren und reden im Verborgenen. Sie applaudieren mit den anderen, heucheln Papsttreue und mögen es gar nicht, wenn man sie als Gegner des argentinischen Pontifex bezeichnet. Schließlich, so sagen sie, wollen sie doch nur verhindern, dass er Fehler macht. Doch wenn sie unter sich sind, wetzen sie ihre Messer.“ (166) Wenn auch nur die Hälfte stimmt von dem, was Politi da auf 271 Seiten zusammengeschrieben hat - auch das reicht, um sich zu empören und zu fragen: Was hat das alles mit Jesus zu tun? Vatikanbank, Seilschaften, der „Krieg der Kardinäle“, die „Nostalgiker des Ratzingerismus“ (167), das „,klerikale Magma‘, das im Untergrund brodelt“ (175) ...

„Eine geradezu paranoide Verteidigung unserer Wahrheit“

Ein Papst, für den das Zweite Vatikanische Konzil eine „Schule der Freiheit“ und eine „Schule der Beteiligung“ (185) ist, stört. Ein Papst, der nach eigenem Bekunden „kein Renaissancefürst“ (30) sein will, dem die monarchische, höfische Aura des Amtes fremd ist, der manche nachweinen und die sich nicht wenige zurücksehnen, ist eine Bedrohung des „Systems“. Eine US-amerikanische Website listet laufend Protokollverstöße des Papstes auf (vgl. 169 f.).

Was Erzbischof Jorge Mario Bergoglio SJ seinen Priestern in Buenos Aires sagte, sagt er jetzt Kardinälen und Bischöfen: „Die Kirche ist nicht dazu da, die Leute zu kontrollieren, sondern sie dort zu begleiten, wo sie gerade stehen.“ (20) Franziskus setzt auf Eigenverantwortung und Beteiligung. Dass er den Menschen so viel zutraut, dass er Bischöfen sagt, die Herde habe manchmal „ihren eigenen Spürsinn“ (122), das provoziert natürlich. Und nervt. Die Kurie soll eine Serviceeinrichtung werden, ein Instrument sein und nicht ein Eigenleben entwickeln. „,Verbeißen wir uns nicht in eine geradezu paranoide Verteidigung unserer Wahrheit‘“ (122), sagt Franziskus fast so nebenbei.

In seiner Heimatdiözese hat er gelernt: „,Autorität auszuüben, […] heißt nicht, den Kommandostock zu schwingen, sondern die Menschen um sich herum wachsen zu lassen.‘“ (115) Als Erzbischof wurde ihm das Bonmot zugeschrieben: In Rom wollen sie „,die Welt in ein Kondom stecken‘“ (177).

Einige Einwände noch: Wie ein Fremdkörper wirkt auf mich der Abschnitt 5 „Die heimlichen Pfarrerinnen“ (73-86), in dem man gleichwohl Interessantes über die de-facto-Gemeindeleitung durch Frauen in Effretikon im Kanton Zürich erfährt. Befremdlich ist heutzutage der Ausdruck „Heiliges Offizium“ (66) für die Kongregation für die Glaubenslehre. Und kann man Kardinal Gerhard Müller wegen seiner Peru-Kontakte wirklich als „Schüler“ des Befreiungstheologen Gustavo Gutiérrez OP bezeichnen (vgl. 194)? Warum aus dem italienischen Untertitel „Das Geheimnis einer Revolution“ (Il segreto di una rivoluzione) auf Deutsch „Franziskus und seine Feinde“ wird, muss vielleicht an die Adresse des Verlags gefragt werden. Der italienische Untertitel ist hier präziser! Aber auch der Verlag Herder, der sich immer noch vom Schock zu erholen scheint, dass „Wir sind Papst“ nicht mehr gilt, liebt die Sensation.

Ein begrenztes Zeitfenster …

Marco Politis Beobachtungen und Analysen treffen immer wieder punktgenau. Er ist dabei Realist: „Die Kirche ist ein Organismus, der sich langsam bewegt und sich noch langsamer verändert. Bergoglio hat nur ein begrenztes Zeitfenster, um sein Programm in die Tat umzusetzen.“ (230) Man muss schon sehr naiv sein zu meinen, die Kirche tue sich insgesamt leicht mit der „pastoralen Wende“, die Papst Franziskus eingeleitet hat. Ob sie gelingt oder scheitert, steht in den Sternen - und auch Politi ist kein Prophet: „Manche hoffen sogar, dass der argentinische Papst eine vorübergehende Ausnahme bleibt.“ (235) Sein Buch, erschienen im Vorfeld der Familiensynode im Oktober, kam es zur rechten Zeit, und der Autor hat auf einer Leserreise durch Deutschland auch kräftig dafür geworben.

Ach ja, trotz aller Unabwägbarkeiten sollten wir auf eines nicht vergessen: Das Wirken des Heiligen Geistes ist subversiv. Dass ein 77-jähriger Papst keine neunzig Tage nach seiner Wahl im Januar 1959 ein Konzil ankündigt, war nicht vorgesehen für diejenigen, die sich damals einen kurzen, schmerzlosen Übergangspontifikat erwartet hatten. Kein Wunder, dass Papst Franziskus so oft mit Papst Johannes XXIII. verglichen wird.

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