Das Neue Evangelium (2020)"Wir sind hier nicht in einem Film!"

Am Donnerstag, 17. Dezember, kommt Milo Raus "Das Neue Evangelium" online in die deutschen Kinos. Die moderne Jesus-Interpretation vermischt viele Genres und findet damit neue Erzählformen für die Frohe Botschaft. In Anknüpfung an Pier Paolo Pasolini bezieht der Regisseur die Bewohner des Drehortes Matera mit ein: insbesondere die zahlreichen Geflüchteten, die in ärmlichen Lagern unweit des berühmten Dorfes leben.

Das neue Evangelium 2020: Wir sind hier nicht in einem Film
© Fruitmarket/Langfilm/IIPM/Armin Smailovic

„Da ist Golgota“ sagt Milo Rau (*1977) und deutet auf einen einsamen Hügel in karger Landschaft. In einem leichten Bogen winden sich kleine alte Häuschen darum. „Den ganzen Jesusfilm kann man hier auf einem Quadratkilometer drehen“. Neben dem Regisseur steht Yvan Sagnet (*1985), noch in zivil. Der in Kamerun geborene politische Aktivist wird später die Rolle Jesu Christi übernehmen: nicht in Jerusalem, sondern im italienischen Matera. Warum ausgerechnet hier?

„Als klar war, dass das süditalienische Matera zur Kulturhauptstadt Europas 2019 ernannt wird, wurde ich gebeten, dort etwas zu inszenieren“, so Milo Rau in einem Statement: „Ich hatte sofort ein Konzept im Kopf: einen neuen Jesus-Film, der die starke kinematografische Tradition der Region mit ihrer heutigen Realität mischt. Mein Vorschlag, meine Version des Neuen Testaments dort aufzuführen, wo Pasolini und Gibson die beiden bekanntesten Jesus-Filme aller Zeiten gedreht haben und dabei professionelle Schauspieler mit Aktivisten zu mischen, stieß bei den Kuratoren sofort auf offene Ohren.“

Anders als zu Pasolinis Zeiten leben heute Hunderte Geflüchtete auf engem Raum in überfüllten Lagern und notdürftig zusammengeflickten Baracken vor Matera – in ganz Italien seien es eine halbe Million. Während die Menschen dort auf eine Aufenthaltserlaubnis warten, arbeiten sie für wenig Geld und zumeist schwarz auf den nahen Orangenplantagen. Ein Anwalt im Film schildert, wie die Agrarwirtschaft von mafiösen Strukturen dominiert wird, welche grausamen Arbeitsbedingungen unter starker Hitze vorherrschen, und dass es weder fließend Wasser und Strom, noch medizinische Versorgung für die Arbeiter gibt.

Dokumentation, Aktivismus oder Schauspiel?

„Das Neue Evangelium“ verlangt Zuschauern einiges an Konzentration ab. Mit vielen Sehgewohnheiten wird gebrochen. Die Rahmenhandlung etwa, nämlich dass der Regisseur und sein Filmteam in Matera drehen, Pressekonferenzen geben und Darstellerinnen und Schauspieler für das Passionsspiel casten, wird nie eindeutig verlassen. Das Extradiegetische – also alles außerhalb der eigentlichen Erzählung – bleibt Allgegenwärtig. 

Allzu oft bleibt unklar, ob eine Szene schon Teil des Christusfilms (intradiegitisch A) sein soll, ob sie noch eine Dokumentation der Entstehung des Projekts darstellt, oder aber eine Dokumentation des realen Alltags und den Reaktionen auf das Passionsspiel in Matera (intradiegetisch B). Meistens trifft sicher mehreres davon zu, beispielsweise wenn Yvan Sagnet verkleidet als Jesus mit Geflüchteten/“Fischern“ am Strand mehrmals die Szene einübt, in der „er“ zwei Apostel gewinnt. Oder als Sagnet über eine der Obst-Plantagen wandert und zwei Feldarbeiter ihm wortlos folgen. Eine zusammenhängende fiktionale Erzählung über Christus (intradiegetisch A) wird jederzeit erwartet, taucht im gesamten Film aber schließlich nicht auf, da jede zunächst fiktional anmutende Passage sogleich unterbrochen wird: durch Passanten mit Smartphones, durch das Eingreifen einer Maskenbilnderin, durch Interviews mit traumatisierten Bootsflüchtlingen ...

Rivolta della dignità - Revolution der Würde

Die markanteste Unterbrechung – oder besser: Para-Erzählung –, die wenig sanft über der bruchstückhaften Christusgeschichte liegt, ist der politische Aktivismus der Geflüchteten (intradiegetisch B): Keineswegs als Metaplot, sondern stets sowohl mit den biblischen Inhalten als auch mit dem „Making-Of“-Charakter des Filmes vermischt, beherrscht der Kampf der Geflüchteten um bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen, die reale Bewegung „Rivolta della dignità“, das Geschehen: „Es ist eine Vereinigung aller Kämpfe“, reflektiert Sagnet seine eigene Rolle, eine „Kampagne“, die zu helfen versucht, den unter Ungerechtigkeiten Leidenden eine Stimme zu geben. 

Der Regisseur reflektiert im eigenen Film (autodiegetisch): „Ich merkte, dass ich nicht einen Jesusfilm wie Pasolini machen konnte. In der heutigen Zeit kann man keinen Jesusfilm machen, ohne die vorherrschenden sozialen Missstände zu berücksichtigen, und somit auf das Evangelium zurückzukommen und auf die soziale Revolution zu verweisen, für die Jesus steht.“

Pasolinis Jesus tauft Raus Jesus

Geschickt verknüpft der Film Szenen aus dem heutigen Italien mit dem Evangelium. Vor heruntergekommenen Baracken wird eine junge Frau über den Hof gejagt. Yvan Sagnet – in einfachen antiken Gewändern – hält sie auf: „Wer von euch ohne Sünde ...“. Kurz darauf erhalten Zuschauer Einblicke in die Situation geflüchteter Frauen, die als Prostituierte auf dem Straßenstrich im italienischen Bahnhofsviertel gestrandet sind.

Oder andersrum: Maia Morgenstern, die auch schon in Mel Gibsons „Passion Christi“ (2004) Maria Muttergottes spielt, gibt nun Yvan Sagnet Schauspiel-Tipps und verfolgt aufmerksam im Publikum seine Pressekonferenzen.

Geschickt verknüpft wird auch die filmische Tradition mit biblischen Topoi: Der Jesus aus Pasolinis „Das Erste Evangelium – Matthäus“ (1964), Enrique Irazoqui († 16. September 2020), spielt bei Milo Rau nun Johannes den Täufer und tauft Yvan Sagnet, krönt ihn damit zum legitimen neuen Film-Jesus.

Zufall oder Inszenierung?

Eindeutig zufällig passend ist die Aufmachung der italienischen Polizei, die in strenger Formation, fast archaisch ausgerüstet mit Schilden, Helmen und Schlagstöcken, die Demonstrationen für Anerkennung und Respekt der Geflüchteten beobachtet: Der optische Vergleich zur römischen Besatzung im antiken Jerusalem drängt sich auch ohne bewusste Inszenierung auf.

Manchmal ist aber nicht eindeutig ersichtlich, welche biblischen Bezüge durch Zufall entstanden oder doch bewusste Inszenierung sind: Der Petrusdarsteller etwa, Papa Latyr „Herve“ Faye, hält auf einer (nicht vom Regisseur inszenierten) Kundgebung im modernen Matera eine brennende Rede über sich und die anderen Arbeiter: „Jeder von ihnen hat die Wüste durchquert, hat das Meer überquert ..., um hier an Ausbeutung zu sterben für drei Euro fünfzig ... Jeder Italiener findet auf seinem Teller heute Abend Nahrung, die wir gepflückt haben.“ Dieses Temperament passt auch zum biblischen Petrus, ebenso wie der Streit unter den anderen Aposteldarstellern, einschließlich Judas, um die beste Vorgehensweise zum Erreichen der Ziele in das biblische Bild der keineswegs immer einmütigen Jünger Jesu passt. 

Mehr eigene Interpretation als theologisches Kalkül wiederum scheinen viele der doch markanten Abweichungen in den vordergründig eher biblischen Szenen von der Heiligen Schrift zu sein. Die markanteste Abweichung stellt – sicher kein Zufall – der Rassismus dar, der Milo Raus Jesus entgegenschlägt. Vor der Kreuzung ruft der Pöbel im Passionsspiel „Tötet den Drecksschwarzen!“ und die Soldaten verhöhnen Yvan Sagnet mit Affenlauten. 

Die Kreuzigung schließlich endet nicht mit einem Lanzenstich, auch nicht mit Jesu letzten Worten „... warum hast Du mich verlassen?“, sondern mit dem lauten „Cut!“ des Filmteams und dem Abhängen des Schauspielers Sagnet ... Hinabsteigen in das Reich des Todes und Auferstehung? Fehlanzeige. Passionsspiel: Ende (intradiegetisch A).

Wir sind hier nicht in einem Film“

Manchmal wird auch das andere Gefilmte (intradiegetisch B) unübersehbar, zum Teil sogar ungeplant, durchbrochen: Der Aktivist Gianni Fabris, der sich in Matera (tatsächlich) für die Arbeiter einsetzt, geht das Filmteam nach einer frustrierenden Erfahrung forsch an: „Wir sind hier nicht in einem Film! Ich organisiere den politischen Kampf! Ihr könnt mir nicht so auf die Eier gehen, alles drehen und auf den Kopf stellen!“

Zum Bruch der Erzählweisen passt auch die Musik: Mal Reggae, mal Folklore, zumeist aber Klassik. Das häufigste wiederkehrende Motiv entstammt Mozarts „Maurerischer Trauermusik“, aber auch Bach, Wagner (Götterdämmerung) und Schubert untermalen solche Szenen, in denen wohl vor allem das Biblische hinter dem Gezeigten betont werden soll.

Religiöser Film oder politisches Manifest?

„Das Neue Evangelium“ von Milo Rau enthält zu wenig Christus, um ein Christusfilm im religiösen Sinne zu sein. Der Politaktivist und das Gesicht der „Rivolta della dignità“, Yvan Sagnet, setzt sich für die Plakate seiner Bewegung selbst die Dornenkrone auf: Wird hier Jesus zum Karl Marx des Volkes degradiert? Und funktioniert es überhaupt, die Frohe Botschaft – die ja eine auch transzendentale Heilsbotschaft ist – allein als (freilich edles) antirassistisches und sozialpolitisches Manifest zu erzählen? Jesus stand eben nicht nur für eine „soziale Revolution“. Das Religiöse kommt hier deutlich zu kurz, um Christus als Sohn Gottes ansatzweise erzählerisch zu fassen. Das mag damit zu tun haben, dass der Regisseur selbst sich als nicht-gläubig bezeichnet.

Trotzdem stellt Milo Raus Film ein intelligentes Kunstwerk dar, das auf den kinematografischen Traditionen bekannter Jesusfilme aufbaut. Die experimentelle Erzählweise vermischt Bibel, Fiktion, Tradition, Reflexion und Gegenwart, was die Taten Jesu sehr plastisch in die Lager der Geflüchteten bei Matera holt. Kitsch und Verklärung werden dabei weiträumig umschifft. Auf diese Weise kann ein glaubwürdiger moderner Bezug zum Biblischen hergestellt werden, vor allem in Sachen Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit.

Von Philipp Adolphs

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