Die Hoffnung am Leben erhaltenChristliche Gedanken aus Jerusalem zum 7. Oktober

Der ehemalige Lateinische Patriarch von Jerusalem, Michel Sabbah, veröffentlichte anlässlich des Jahrestags des Überfalls der Hamas auf Israel vom 7. Oktober die folgende Mitteilung „Keeping Hope Alive“. Michel Sabbah wurde 1933 in Nazareth geboren. Der palästinensische katholische Theologe wurde 1955 zum Priester geweiht und wirkte zunächst in Jordanien, bevor er 1973 an der Pariser Sorbonne promovierte. Bis 1987 war er Präsident der Universität von Betlehem. 1987 ernannte ihn Papst Johannes Paul II. zum Patriarch von Jerusalem, ein Jahr später weihte er ihn zum Bischof.

Sabbah, Michel, CC BY 3, Gied ten Berge

Nach einem Jahr ständigen Krieges, in dem sich die Spirale des Todes unvermindert weiterdreht, verspüren wir als Christen und als Bürger das Bedürfnis, nach Hoffnung zu suchen, die aus unserem Glauben kommt. Wir müssen uns eingestehen, dass wir von Trauer und Angst erschöpft und gelähmt sind. Wir blicken in die Dunkelheit. Die gesamte Region liegt im Griff von Blutvergießen, das immer weiter eskaliert und niemanden verschont. Vor unseren Augen wird unser geliebtes Heiliges Land und die gesamte Region in Schutt und Asche gelegt.

Täglich trauern wir um Zehntausende Männer, Frauen und Kinder, die vor allem in Gaza, aber auch im Westjordanland, in Israel, im Libanon und darüber hinaus in Syrien, Jemen, Irak und Iran getötet oder verletzt wurden. Wir sind empört über die Verwüstung, die in der Gegend angerichtet wurde. In Gaza liegen Häuser, Schulen, Krankenhäuser und ganze Stadtviertel jetzt in Trümmern. Es herrschen Krankheit, Hunger und Hoffnungslosigkeit. Ist das das Vorbild dafür, was aus unserer Region werden soll?

Um uns herum liegt die Wirtschaft am Boden, der Zugang zur Arbeit ist versperrt und Familien haben Schwierigkeiten, Essen auf den Tisch zu bringen. In Israel trauern zu viele und leben in Angst und Furcht. Es muss einen anderen Weg geben!

Unsere Katastrophe begann nicht erst am 7. Oktober 2023. Die Wellen der Gewalt haben seit dem Jahr 1917 kein Ende genommen. Ihren Höhepunkt erreichten sie 1948 und 1967 und sie dauern bis heute an. Hat der zionistische Traum von einem sicheren Zuhause für Juden in einem jüdischen Staat namens Israel heute Sicherheit für Juden gebracht? Und die Palästinenser? Sie sind schon zu lange in der Realität von Tod, Verbannung und Verlassenheit gefangen und warten, während sie beharrlich das Recht einfordern, in ihrem Land, in ihren Städten und Dörfern bleiben zu können.

Schockierenderweise schaut die internationale Gemeinschaft fast teilnahmslos zu. Rufe nach einem Waffenstillstand und einem Ende der Verwüstung werden wiederholt, ohne dass ein sinnvoller Versuch unternommen wird, die Verwüster unter Kontrolle zu bringen. Massenvernichtungswaffen und Mittel zur Begehung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit strömen in die Region.

Während dies alles so weitergeht, stellen sich immer wieder diese Fragen: Wann wird das enden? Wie lange können wir so überleben? Wie sieht die Zukunft unserer Kinder aus? Sollen wir auswandern?

Als Christen stehen wir auch vor anderen Dilemmata: Handelt es sich um einen Krieg, in dem wir lediglich passive Zuschauer sind?  Wo stehen wir in diesem Konflikt, der allzu oft als Kampf zwischen Juden und Muslimen dargestellt wird, zwischen Israel einerseits und der vom Iran unterstützten Hamas und Hisbollah andererseits? Ist das ein Religionskrieg? Sollten wir uns in der prekären Sicherheit unserer christlichen Gemeinschaften isolieren und uns von dem abschotten, was um uns herum geschieht? Sollen wir einfach abseits stehen und zusehen und beten, in der Hoffnung, dass dieser Krieg irgendwann vorübergehen möge?

Die Antwort ist ein klares Nein. Dies ist kein Religionskrieg und wir müssen uns aktiv für Gerechtigkeit und Frieden, Freiheit und Gleichheit einsetzen. Wir müssen allen zur Seite stehen – Muslimen, Juden und Christen –, die Tod und Zerstörung ein Ende setzen wollen.

Wir tun dies aus unserem Glauben an einen lebendigen Gott und aus unserer Überzeugung heraus, dass wir eine Zukunft gemeinsam aufbauen müssen. Obwohl unsere christliche Gemeinschaft klein ist, erinnert uns Jesus daran, dass unsere Präsenz mächtig ist. Im Vertrauen auf seine Auferstehung haben wir die Berufung, wie Hefe im Teig der Gesellschaft zu sein. Mit unseren Gebeten, unserer Solidarität, unserem Dienst und unserer lebendigen Hoffnung müssen wir alle Menschen um uns herum, egal welchen Glaubens und auch solche ohne Glauben, ermutigen, die Kraft zu finden, uns aus der kollektiven Erschöpfung zu erheben und einen Weg nach vorne zu finden.

Aber keiner von uns kann das alleine schaffen. Wir erwarten von unseren christlichen Religionsführern, unseren Bischöfen und unseren Priestern richtungsweisende Worte. Wir brauchen unsere Hirten, die uns helfen, die Stärke zu erkennen, die wir haben, wenn wir versammelt sind. Allein, jeder von uns ist einzeln isoliert und zum Schweigen gezwungen. Nur gemeinsam können wir die Ressourcen finden, um den Herausforderungen zu begegnen.

Erinnern wir uns in unserer Erschöpfung und Verzweiflung an den Gelähmten (Mk 2,1-12), der nicht aufstehen konnte. Erst als seine Freunde ihn trugen, als sie ihrer Fantasie den freien Lauf ließen, ein Loch in das Dach zu bohren und ihn auf seine Matte abzusenken, konnte er Jesus erreichen, der zu ihm sagte: „Steh auf und geh.“

So ist es auch bei uns. Wir müssen einander tragen, wenn wir vorankommen wollen. Wir müssen unsere in Christus verwurzelte Vorstellungskraft nutzen, um Öffnungen zu finden, wo es scheinbar keine gibt. Wenn wir die Grenzen unserer Hoffnung erreicht haben, tragen wir uns gemeinsam gegenseitig, indem wir uns an Gott wenden und um Hilfe bitten.

Wir brauchen diese Hilfe, um nicht zu verzweifeln und nicht in die Falle des Hasses zu tappen. Unser Glaube an die Auferstehung lehrt uns, dass alle Menschen geliebt, gleich, geschaffen nach dem Bild Gottes, Kinder Gottes und Brüder und Schwestern sein müssen. Unser Glaube an die Würde jedes Menschen kommt in unserem Dienst an der größeren Gemeinschaft zum Ausdruck. Unsere Schulen, Krankenhäuser und Sozialdienste sind Orte, an denen wir uns unterschiedslos um alle Bedürftigen kümmern.

Es ist auch unser Glaube, der uns motiviert, die Wahrheit zu sagen und Ungerechtigkeit zu bekämpfen. Wir glauben an den Frieden, den Jesus uns gegeben hat und der uns nicht genommen werden kann. „Er ist unser Friede“ (Eph 2,14). Wir dürfen keine Angst davor haben, uns gegen jede Form von Gewalt, Tötung und Entmenschlichung auszusprechen. Unser Glaube macht uns zu Sprechern eines Landes ohne Mauern, ohne Diskriminierung, zu Sprechern eines Landes der Gleichheit und Freiheit für alle, für eine Zukunft, in der wir gemeinsam leben.

Wir werden erst dann Frieden erleben, wenn die Tragödie des palästinensischen Volkes ein Ende nimmt. Nur dann werden die Israelis Sicherheit genießen. Wir brauchen ein endgültiges Friedensabkommen zwischen diesen beiden Partnern und nicht bloß vorübergehende Waffenstillstände oder Übergangslösungen. Israels gewaltige Militärmacht kann zerstören und Tod bringen, sie kann politische und militärische Führer und jeden auslöschen, der es wagt, aufzustehen und sich der Besatzung und Diskriminierung zu widersetzen. Allerdings kann das nicht die Sicherheit bringen, die die Israelis brauchen. Die internationale Gemeinschaft muss uns helfen, indem sie anerkennt, dass die Hauptursache dieses Krieges die Verweigerung des Rechts des palästinensischen Volkes ist, in seinem Land frei und gleich zu leben.

Eine friedliche Zukunft hängt von einem Miteinander ab, das über die eigene Gemeinschaft hinausgeht. Wir sind ein Volk, Christen und Muslime. Gemeinsam müssen wir einen Weg suchen, den Teufelskreis der Gewalt zu überwinden. Gemeinsam mit ihnen müssen wir uns mit jenen jüdischen Israelis auseinandersetzen, die ebenfalls der Rhetorik, der Lügen und der Ideologien von Tod und Zerstörung überdrüssig sind.

Machen wir uns auf den Weg und tragen wir uns gegenseitig. Lasst uns die Hoffnung am Leben erhalten, im Wissen, dass Frieden möglich ist. Es wird schwierig sein, aber wir erinnern uns daran, dass wir einst als Muslime, Juden und Christen in diesem Land zusammenlebten. Es wird viele Momente geben, in denen der Weg versperrt erscheint. Aber gemeinsam werden wir einen Weg nach vorne finden, der in der Hoffnung Gottes verwurzelt ist und „die Hoffnung enttäuscht uns nicht“ (Röm 5,5). Unsere Hoffnung liegt in Gott, in uns selbst und in jedem Menschen, dem Gott etwas von seiner Güte schenkt.

Seine Seligkeit Patriarch Michel Sabbah und Mitglieder der „Christian Reflection From Jerusalem“

Aus dem Englischen von Philipp Adolphs

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