Afrika wird oft als die "Wiege der Menschheit" bezeichnet, weil von dort das menschliche Leben seinen Ursprung genommen hat, genauer gesagt: in der Olduvai-Schlucht im Norden Tansanias zwischen dem Serengeti National-Park und dem Ngorongoro-Krater, der am Rand der Serengeti liegt.
Eine ursprüngliche Verbundenheit mit der Natur kann man bei vielen Menschen Afrikas noch heute erleben. Sie sind unmittelbar abhängig von der Natur. Man betet um Regen, denn nur wenn der Regen die Früchte wachsen lässt, gibt es auch etwas zu essen - anders als in Europa, wo man bei Missernten die Lebensmittel einfach aus einem anderen Land importiert. Es ist auch immer wieder berührend zu sehen, wie die Mütter in Afrika ihre kleinen Kinder mit sich tragen und so eine lebendige menschliche Beziehung zu ihren Kindern aufbauen. Kinder werden als großer Segen betrachtet, denn mit ihnen haben das Geschlecht, die Familie und der Stamm eine Zukunft; und Kinder sind schließlich für viele Menschen in Afrika auch die persönliche Altersversicherung. Generell sind menschliche Beziehungen auf diesem Kontinent sehr wichtig.
Zeit ist weniger wichtig als die andere Person. Wenn jemand zu spät kommt, vielleicht sogar einige Stunden, dann grollt man ihm nicht, sondern freut sich, dass er gekommen ist. Sehr schön ist es auch, den familiären Zusammenhalt zu sehen, zu bemerken, wie Menschen in der Familie zueinander stehen - auch in schwierigen Zeiten. Einmal beobachtete ich, wie die Polizei einen jungen Dieb festgenommen hat. Die ganze Verwandtschaft (etwa 25 Personen!) kam daraufhin zur Polizei, um die Beamten um die Freilassung ihres Familienangehörigen zu bitten.
Für Afrikaner sind Beziehungen wichtiger als Zeit. Das ist auch eine Anfrage an die Menschen in Europa, wo Beziehungen manchmal nicht sonderlich geschätzt werden, aber die Zeit einen großen, fast absoluten Wert besitzt ("Zeit ist Geld"). Sicher wäre es noch besser, wenn dieser enge Zusammenhalt auch über Familie und Stamm hinausginge. Die verschiedenen Stämme Afrikas haben ihre jeweils eigene Sprache und Kultur. Wo wir als Außenstehende manchmal meinen, es sei alles nur Zufall und Willkür, gibt es in den verschiedenen Stämmen genaue Regelungen und Bräuche für verschiedene Lebenssituationen.
Die wirtschaftliche Situation
Viele Menschen in Afrika leben in absoluter Armut. Menschen, die Arbeit haben, verdienen zum Teil am Tag nur einen US-Dollar. Und diese Menschen sind noch froh, dass sie wenigstens ein kleines Einkommen haben, denn andere haben oft gar nichts. Dazu kommt noch, dass viele Familien zahlreiche Kinder haben: oft sechs, acht oder zehn Kinder. So wird die finanzielle Not noch bedrückender. Denn die Eltern müssen ja für die Ernährung, die Kleidung und die Schulgelder ihrer Kinder sorgen. Außerdem sterben zum Beispiel durch Aids manchmal beide Elternteile. Dann übernimmt die Familie des Bruders oder der Schwester auch noch die Sorge für die vielleicht acht Kinder der Verstorbenen, obwohl sie selbst schon acht Kinder haben. Sie haben dann mit einem oft sehr kargen Gehalt für 16 Kinder zu sorgen.
Die Gesundheitssituation ist häufig prekär. Es gibt eine hohe Kindersterblichkeit. Natürlich ist auch Aids ein großes Problem in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara. Deshalb haben wir zum Beispiel in der Flüchtlingsarbeit mit dem Jesuit Refugee Service (JRS) ein Alphabetisierungsprogramm ("Adult literacy-Programm") aufgebaut. Nach einiger Zeit haben wir aber erkannt, dass es nicht nur um Alphabetisierung im engeren Sinn, also um Lesen und Schreiben, geht, sondern dass es im Rahmen eines solchen Programms auch wichtig ist, den Teilnehmern solcher Schulungen grundlegende Kenntnisse in Medizin, Haushaltsführung und Finanzverwaltung zu vermitteln.
Für sehr arme Menschen gibt es auch Projekte von Kleinkredit-Gesellschaften. (Micro-Finance-Projekte.) Es werden kleine Darlehen ausgegeben, oft nur 50 oder 100 US-Dollar, die in einem halben Jahr zurückgezahlt werden müssen. Oft sind es Frauen, die diese Darlehen annehmen, denn sie haben in der afrikanischen Gesellschaft die Hauptlast zu tragen: Ihnen obliegt die Erziehung der Kinder, die Sorge für den Haushalt und oft auch noch die Arbeit auf dem Feld oder in einem Beruf.
Zusammen mit dem JRS haben wir zum Beispiel auch ein Projekt für Frauen aufgebaut: eine Nähschule. Das Gebäude wurde von den Frauen selber errichtet. Sie bekamen dazu vom Welternährungsprogramm (World Food Programme) Nahrungsmittel für ihre Arbeit ("food for work"). Dann kauften wir 22 Nähmaschinen. An jeder Maschine arbeiteten zwei Frauen, also 44 Frauen in zwei Schichten am Tag, also 88 Frauen in zwei Kursen pro Jahr. So erhielten jedes Jahr insgesamt 176 Frauen eine Ausbildung an der Nähmaschine. Zum Schluss der Ausbildung bekam jede Frau eine Nähmaschine, wobei sie die Hälfte selbst bezahlen musste, die andere Hälfte wurde von JRS übernommen. Auch eine kleine Hilfe wie ein Fahrrad kann das ganze Beziehungsfeld einer Person positiv verändern, so dass jemand im weiteren Umfeld Beziehungen oder Arbeit finden kann. Wir nannten schließlich das Fahrrad oft scherzhaft den "Porsche Afrikas".
"Baba wa taifa" - Julius Nyerere als "Vater der Nation"
In Tansania gibt es eine prägende Gestalt, die für das ganze Land bis heute sehr wichtig ist, nämlich den ersten Präsidenten des Landes Julius Nyerere (1922-1999), für den im Jahr 2005 das Seligsprechungsverfahren eröffnet wurde. Er ist der "Vater der Nation" (in Kiswahili: "Baba wa taifa"). Er führte die Einheitssprache Kiswahili ein, so dass alle Menschen in Tansania heute durch eine Sprache verbunden sind. In afrikanischen Ländern gibt es oft Hunderte von Stammes-Sprachen - und manchmal auch die entsprechenden Konflikten zwischen den verschiedenen Stämmen. Die eine Sprache eint die Menschen in Tansania. Ein markanter Ausspruch Julius Nyereres lautete: "Einheit ist Kraft" ("Umoja ni nguvu"). Er sagte, die Menschen in Afrika wüssten doch, wie wichtig ihnen allen die Familie ist und er meinte, wir als Bürger in dem einen Land seien eine große Familie, alle seien unsere Schwestern und Brüder.
Als ich vor einigen Jahren zum ersten Mal während meiner Arbeit mit Flüchtlingen aus Sambia in Tansania war, sagten die Menschen in Tansania zu mir immer "Kaka". Ich verstand dieses Wort zunächst nicht, da ich damals noch kein Kiswahili sprach; später begriff ich, dass es "Bruder" heißt: Schon bei der ersten Begegnung war ich also ihr Bruder!
Ein Land - verschiedene Religionen
Bemerkenswert ist auch, dass es in Tansania Menschen mit verschiedenen Religionszugehörigkeiten gibt, die bisher weitgehend in Frieden zusammengelebt haben, darunter auch zahlreiche Christen und Muslime. Wenn diese positive Toleranz zwischen den Religionen wirklich anhält, könnte es sogar zu einem Modell für andere Länder werden, in denen Menschen verschiedener Religionen zusammenleben. Das zahlenmäßige Verhältnis wird offiziell meist mit einer mehr "diplomatischen" als präzisen Formel angegeben: ein Drittel Christen (davon zwei Drittel Katholiken und ein Drittel Protestanten), ein Drittel Muslime und ein Drittel Anhänger von Naturreligionen.
In der jüngsten Zeit gab es leider einige dramatische Aktionen von Fanatikern, die den traditionellen interreligiösen Frieden störten. So wurde zum Beispiel in Sansibar ein katholischer Priester angeschossen, ein anderer wurde erschossen. In Dar es Salaam wurden einige Kirchen angezündet, und in Arusha wurde bei der Einweihung einer neuen Kirche in Gegenwart des Bischofs und des Nuntius ein Bombenattentat verübt, bei dem einige Menschen getötet bzw. verletzt wurden. Angesichts solcher Ereignisse bleibt zu hoffen, dass die Gespräche von Vertretern der verschiedenen Religionsgemeinschaften, die auf höchster Ebene stattfinden, erfolgreich verlaufen und den religiösen Frieden langfristig sichern können.
Die katholische Kirche in Tansania
Die katholische Kirche ist in Tansania sehr stark vertreten. Die große Kathedrale von Dar es Salaam wurde von deutschen Benediktinern gebaut, die auch heute noch in Tansania arbeiten: in den Abteien Ndanda und Peramiho. Die Missionare kamen früher vorwiegend aus St. Ottilien und Münsterschwarzach sowie aus Uznach (Schweiz). Heute haben sie einen großen einheimischen Nachwuchs. Die Diözese Dar es Salaam wuchs in wenigen Jahren von 48 auf 79 Pfarreien. Fast jedes Jahr werden in Dar es Salaam zwei, drei neue Pfarreien gegründet.
Auch der Jesuitenorden hat hier beträchtlichen Nachwuchs. In unserem Noviziat in Arusha leben derzeit 23 Novizen. Tansania gehört mit Kenia, Uganda, Äthiopien, Süd-Sudan und Nord Sudan zur ostafrikanischen Provinz, in der insgesamt 194 Jesuiten tätig sind, 43 davon in Tansania (33 stammen aus Ostafrika, zehn aus den USA sowie aus Indien und Deutschland). In Tansania arbeiten wir an verschiedenen Orten: Dar es Salaam, Arusha, Dodoma, Moshi, Mwanza. An der von der tansanischen Bischofskonferenz gegründeten Katholischen Universität St. Augustin in Mwanza dozieren zwei Jesuiten. Diese Universität unterhält inzwischen aber auch schon verschiedene Fakultäten in anderen Städten mit insgesamt über 25.000 Studierenden. Generell ist für die Jesuiten in Tansania die Arbeit an Gymnasien, aber auch an Grundschulen und Universitäten sehr wichtig. Die Arbeit im Bereich der Erziehung ist zweifellos einer der Schwerpunkte in unserer Jesuiten-Provinz.
Ein amerikanischer Jesuit, Michael Schultheis, Wirtschaftswissenschaftler und Mitbegründer von JRS sowie dessen langjähriger Direktor in Afrika, hat in mehreren afrikanischen Staaten eine "Katholische Universität" aufgebaut bzw. mit aufgebaut (in Mozambique, Ghana und Süd-Sudan). Daneben gibt es aber auch noch verschiedene Pfarreien, ein "Zentrum für Glaube und Frieden", ein Projekt für die Arbeit mit Aids-Kranken, Exerzitienhäuser und anderes mehr.
Schwerpunkte jesuitischen Apostolats
In Dar es Salaam haben wir die "Loyola High School", ein Gymnasium mit etwa 1200 Schülern, das im Ranking der Schulen schon mehrfach den ersten Platz einnahm und als das beste Gymnasium in Tansania gilt, wenn man nur die Tagesschulen betrachtet (Internate ausgenommen). Außerdem betreiben wir hier die "Gonzaga Primary School", eine Grundschule mit etwa 500 Kindern. In dieser Schule wird auf Englisch unterrichtet. Normalerweise sprechen die Kinder hier Kiswahili. Um sie aber besser auf das Gymnasium vorzubereiten, wo dann auf Englisch unterrichtet wird, beginnt man mit dem Englisch-Unterricht bereits in der Grundschule.
Schließlich haben wir noch eine Pfarrei (St. Johannes der Täufer), in der auch ich arbeite. Diese Gemeinde hat etwa 7500 Gläubige. Es gibt hier die Hauptkirche mit einer Filiale. Die ganze Gemeinde ist gemäß einer Empfehlung der Afrikanischen Bischofssynode in 65 Basisgemeinden organisiert. An Sonntagen kommen etwa 1000 Gläubige zur ersten Eucharistiefeier um 7 Uhr morgens und etwa 400 zur zweiten Messe um 9 Uhr. In der Außenstelle sind es etwa 600 Gläubige bei der ersten Eucharistiefeier und etwa 400 bei der zweiten. Am Nachmittag um 16 Uhr gibt es eine eigene Kindermesse mit etwa 300 bis 500 Kindern. Der Gottesdienstbesuch ist also sehr gut. Die Gemeinde ist ausgezeichnet in verschiedenen Gruppen organisiert. Es gibt Kinder- und Jugendgruppen, Frauen- und Männergruppen, eine Ministrantengruppe sowie die Legio Mariae, Charismatiker, eine Heiligstes Herz Jesu-Gruppe und fünf verschiedene Chöre.
Wir haben in unserer Pfarrei pro Jahr etwa 500 Taufen, 210 Kinder gehen zur Erstkommunion und etwa 160 Jugendliche zur Firmung. Außerdem haben wir in der Pfarrei noch einen Kindergarten, eine Grundschule für Kinder, die bisher wegen familiärer oder finanzieller Probleme noch nie zur Schule gehen konnten. Diese Kinder sind oft schon zwölf oder 15 Jahre alt und beginnen dann die Grundschule. In einem zweijährigen Kurs bereiten wir sie auf die Abschlussklasse der Grundschule vor. Zu dieser Abschlussklasse gehen sie dann an eine andere Grundschule und machen den Grundschulabschluss ("P 7-Examination"). Außerdem haben wir in der Pfarrei noch ein Gymnasium für Schüler, die noch nie die Möglichkeit hatten, ein Gymnasium zu besuchen. Sie können hier in zwei Jahren die Abschlussprüfung ablegen ("Form 4-Examination"). Das Aufnahmealter für dieses Gymnasium liegt zwischen 16 und 35 Jahren!
Basisgemeinde - Urgemeinde
Immer wenn ich in eine Basisgemeinde gehe, denke ich an die Urgemeinde in Jerusalem. Denn die Gläubigen kommen hier zum "Bibelteilen" zusammen, sie beten miteinander, sie teilen miteinander und bringen Gaben für die Armen, sie sprechen miteinander, sie teilen ihr Leben miteinander. Die Menschen hier sind wirklich bereit, zu teilen und zu geben. Wir erhalten bei den Sonntagskollekten soviel Geld, dass wir davon alle Gehälter unserer Angestellten bezahlen und auch noch anfallende Reparaturen durchführen können. Die Situation ist also nicht dem sprichwörtlichen "Fass ohne Boden" vergleichbar, wo das Geld nur versickert, sondern viele Gemeinden werden bald finanziell selbstständig sein und nur noch Gelder für große Projekte brauchen (z. B. für eine neue Kirche, ein neues Pfarrhaus oder eine neue Schule).
Insofern können wir zu Recht sagen, dass Jesus Christus wirklich in den Herzen der Menschen Afrikas lebt, dass viele Menschen hier wirklich eine Lebensgestaltung in Christus gefunden haben - sowohl individuell als auch in Gemeinschaft. Christus lebt und ist gegenwärtig, wenn sich die Basisgemeinden jede Woche zum Gebet treffen. Er ist gegenwärtig, wenn sich die Gemeinde zum Sonntagsgottesdienst trifft. Er ist präsent, wenn Menschen miteinander teilen. Vielleicht liegt auch hier eine Herausforderung für viele Menschen in Europa, die sich vom Glauben an Gott und von der Kirche abgewandt haben.
Denn die Menschen in Afrika begreifen, dass Geld und materieller Wohlstand nicht alles ist, dass das Leben mehr zu bieten hat und dass der Ursprung und das Ziel des menschlichen Lebens Gott ist, der uns auf dieser irdischen Pilgerschaft durch Jesus Christus begleitet, bis wir am großen Ziel unseres Lebens angekommen sind. Was wir von den Gläubigen Afrikas auch lernen können, ist die Freude am Leben. Kinder beklagen sich nicht über ihre Armut, sondern freuen sich, dass sie leben und sind dankbar für ihr Leben, das ihnen von Gott geschenkt ist.
Gerechtigkeit schafft Frieden
Vor einigen Jahren lautete ein Leitmotiv von Misereor "Gerechtigkeit schafft Frieden". Dieses Motto gilt wirklich weltweit. Zahllose Menschen in Afrika leben in absoluter Armut: Viele Familien wissen nicht, wie sie die Schulgelder für ihre Kinder bezahlen können, viele Kinder sterben, weil sie nicht einen Euro für Medikamente haben, während in anderen Ländern der Welt zahlreiche Menschen in Reichtum schwelgen und oft nicht wissen, was sie mit ihrem Reichtum anfangen sollen. In diesem Kontext ist auch die Forderung der katholischen Soziallehre zu sehen, dass Kapital auch eine moralische Verpflichtung bedeutet. Mit nur einem Euro kann man oft ein Menschenleben retten! Vielleicht sollten wir die Welt mehr als unser gemeinsames Haus sehen - als das Haus der Menschen (als Welt-Haus oder Menschen-Haus, um einen Begriff von Hubertus Halbfas zu verwenden) oder vielleicht einfach auch als Schöpfung Gottes, wo Menschen als Schwestern und Brüder zusammenleben.
Die Beziehung zur Natur, die Bedeutung menschlicher Beziehungen, der Vorrang menschlicher Beziehungen vor der objektiven Zeit, die Lebensfreude trotz großer Armut, die Relativierung materiellen Reichtums und die Bedeutung des Glaubens - dies alles können Europäer von den Menschen Afrikas lernen. So können wir für die Zukunft nur hoffen, dass die Menschen in den verschiedenen Kontinenten aneinander denken, füreinander sorgen, einander respektieren, die Werte anderer Kulturen und Religionen sehen und lernen, im christlichen Sinn als Schwestern und Brüder zusammenzuleben.