"Du sollst nicht plagiieren!"

Niemand ist so kreativ, daß er nur aus sich heraus und ohne Anleihen bei anderen zu machen, schaffen kann. Das gilt für Schriftsteller, Dichter, Maler oder Komponisten ebenso wie für Forscher oder Wissenschaftler. Alle schöpferischen Menschen haben immer wieder in die Schatztruhen früherer Generationen gegriffen und sich nicht nur Anregungen daraus geholt, sondern mitgenommen, was sie für brauchbar hielten. Wissenschaft und Kunst haben sich immer von großen Denkern oder Künstlern "inspirieren" lassen und bei ihnen Ideen oder Wissen "ausgeliehen", um sie weiter zu entwickeln.

Schon dem Sokratiker Aischines († 314 v. Chr.) warf man vor, er habe sokratische Dialoge unter eigenem Namen verbreitet. Der Theologe und Naturwissenschaftler Christoph Scheiner SJ (1573-1650) geriet in einen Prioritätsstreit um die Entdeckung der Sonnenflecken mit Galilei, der über einen Verleger Kenntnis davon erhalten hatte und behauptete, die Sonnenflecken schon vorher gesehen zu haben. Und es entstand ein Streit, ob zwei Gelehrte, unabhängig voneinander, dieselbe Erfindung machen können.

Der Barockdichter Friedrich von Spee SJ (1591-1634) nahm für seine Kirchenlieder oft Melodien von Hymnen oder weltlichen Liedern, um dazu neue geistliche Texte zu dichten. Das Thema, das Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) in seiner Ringparabel behandelte, hatte Georg Lang SJ (1605-1671) in seinem Pfingstspiel "Der Philosoph Justinus", in dem die Vertreter der verschiedenen Weltanschauungen auftreten (Epikuräer, Stoiker, Peripathetiker usw.) längst vor ihm behandelt. Viele Tiere in Lessings Fabeln kommen auch in den Fabeln Äsops oder anderer Fabeldichter vor, allerdings mit einem anderen Charakter. Auch die Gestalt des Faust trat schon vor Goethe (1749-1832) auf, im "Cenodoxus" des Jakob Bidermann SJ (1578-1639), als Doktor von Paris.

Beispiele dieser Art veranlaßten den Kulturhistoriker Egon Friedell, in seiner Kulturgeschichte die Behauptung aufzustellen, die ganze Geistesgeschichte der Menschheit sei eine Geschichte von "Diebstählen": Plato habe den Sokrates bestohlen, die Kirchenväter die antike Literatur geplündert und daraus übernommen, was sie für brauchbar hielten. Augustinus holte sich zahlreiche Ideen von Paulus, Schiller von Shakespeare, und Schopenhauer von seinem Kollegen Kant. Auch Mozart ließ sich in seinen Kompositionen von Haydn oder Händel "anregen" und nahm auf seinen Konzertreisen mit, was bei den italienischen Komponisten ungenutzt und noch ungeformt herumlag, um ihm eine neue Gestalt zu geben. Auch Jesus von Nazaret redete oft in Gleichnissen und in Bildern, die das Alte Testament gebraucht, und gab ihnen einen neue Bedeutung und einen neuen Sinn.

Wie kommt jemand dazu, von seinen Gedanken zu sprechen, wo es doch die Gedanken, die nur ich denke und die nur mir gehören, nicht gibt? Jahrtausende vor uns wurde schon all das gedacht, was wir heute wieder denken. Wir verdanken unsere Entwicklung tausend Einwirkungen, aus denen wir etwas Eigenes machen sollen. Und wenn eine Neugestaltung nicht gelingt, ist es wichtig, in dem reichen Schatz, den die Denker und Künstler angesammelt haben, zu suchen und herauszuholen, was sonst vergessen würde oder verloren ginge, und es umzuformen und neu zu gestalten. Nur gemeine Diebe nehmen etwas unverändert mit.

Der Plagiator verwischt die Grenzen zwischen Mein und Dein, und bemächtigt sich fremden Eigentums. Plagiate entstehen, wenn einer kreativ sein möchte, aber das Zeug dazu nicht hat, und eine Begabung vortäuscht, die ihm fehlt. Manchmal auch, wenn einer sich das Gedankengut eines anderen unbewußt aneignet und gutgläubig der Meinung ist, er habe etwas Eigenes geschaffen. Carl Gustav Jung (1875-1961) gebraucht dafür den Begriff "Kryptomnesie". Er nennt als ein Beispiel Friedrich Nietzsche (1844-1900), der aus den Schriften des Arztes und zum Spiritismus neigenden Schriftstellers Justinus Kerner (1786-1862), die zu Nietzsches Jugendlektüre gehörten, Details für seinen "Zarathustra" übernommen hat.

Wie nennt man die heute häufig angewandte Praxis - die vor allem bei Politikern üblich geworden ist -, das Wissen, das ihnen ein Ghostwriter oder Staatssekretär ins Manuskript geschrieben hat, als eigenes Wissen auszugeben? Und wie bezeichnet man die von manchen Professoren angewandte Praxis, die Vorarbeiten von Studenten für die eigenen Publikationen heranzuziehen, ohne deren Mitarbeit zu erwähnen? Und wie die Praxis von Sendeanstalten, den Stoff aus einem Drehbuch oder Treatment, das man dem Autor als nicht geeignet zurückgeschickt hat, in veränderter Form zu verwenden?

Wann wird man Plagiator? Wie viele Quellenangaben oder Anführungszeichen muß man weglassen, und wie viele Gedanken oder Wörter entwendet haben, um es zu sein?

Plagiator wird, wer an Phantasielosigkeit und geistiger Erstarrung leidet, und wer - weil er sich mit seiner Unfähigkeit nicht abfinden will - immer nur nachdenkt, was andere vorgedacht haben, und deren Einfälle und Gedanken kopiert. Plagiatoren sind Abschreibkünstler, die es auf mehr oder weniger geschickte Weise verstehen, die Früchte, die anderen gehören, für sich zu ernten. Oft sind sie so einfallslos, daß sie sich selbst plagiieren und das, was sie immer schon gesagt oder geschrieben haben, immer nur wiederholen und der Überzeugung sind, sie würden eine Neuigkeit verkünden.

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