Ein Bischof spricht Klartext

Es ist ein ziemlich seltenes Jubiläum, das Dom Clemente José Carlos Isnard OSB am 25. Juli 2010 begeht: Vor fünfzig Jahren wurde der brasilianische Benediktiner (geb. am 9. Juli 1917) zum Bischof geweiht. "Patriarch" nennen ihn manche Bischofskollegen liebevoll. Neben Aloísio Lorscheider OFM (1924-2007) und Ivo Lorscheider (1927-2007), Paolo Evaristo Arns OFM (geb. 1921) oder Luciano Mendes de Almeida SJ (1930-2006) gehört er zu den herausragenden Köpfen des brasilianischen Episkopats seiner Generation.

Von 1960 bis 1992 leitete Dom Clemente die Diözese Nova Friburgo im Bundesstaat Rio de Janeiro. Er nahm am Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) teil. 1963 wurde er zum Vorsitzenden der liturgischen Kommission der brasilianischen Bischofskonferenz gewählt. Er war Vizepräsident der brasilianischen (CNBB) und der lateinamerikanischen Bischofskonferenz (CELAM). Von Papst Paul VI. wurde er 1964 zum Mitglied des Rates zur Umsetzung der Liturgiekonstitution "Sacrosanctum Concilium" und später in die Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramente berufen. Die beiden Generalkonferenzen des CELAM in Medellín (1968) und Puebla (1979) prägten sein bischöfliches Wirken. Mit Erreichen der Altersgrenze von 75 Lebensjahren legte Dom Clemente sein Amt nieder, wurde jedoch 1994 zum Generalvikar der Diözese Duque de Caxias ernannt - eine Aufgabe, die er bis 2004 erfüllte.

Im Jahr 2008 erschien von Dom Clemente ein kleines Bändchen, das hierzulande zunächst unbeachtet blieb. Das portugiesische Original trägt den Titel "Reflexões de um Bispo sobre as instituições exlesiásticas atuais". In Brasilien wirbelte es einigen Staub auf. Es gibt dort 41 Kirchenprovinzen mit 265 Diözesen oder Territoralprälaturen, eine Apostolische Administratur und ein Militärordinariat.

Reformbedürftige Kirche

Da sagt bzw. schreibt ein Bischof etwas, was im Grunde genommen viele Bischöfe im Smalltalk oder in Sitzungspausen dem Vernehmen nach vertreten, aber eben nicht in der Öffentlichkeit, um keine Schwierigkeiten zu bekommen. Das ist nicht gerade alltäglich in Zeiten, wo immer mehr der Eindruck entsteht, daß Bischöfe sich mehr als Filialleiter einer römischen Konzernzentrale verstehen bzw. behandeln lassen (müssen), als daß sie sich angesichts des offenkundigen pastoralen Notstands mutig an die eigene Verantwortung erinnern - repräsentieren sie doch in ihren jeweiligen Diözesen Christus und "sind nicht als Stellvertreter der Bischöfe von Rom zu verstehen", wie es in der dogmatischen Konstitution über die Kirche "Lumen gentium" (Nr. 27) heißt. Das Zweite Vatikanum stellt im Ökumenismusdekret "Unitatis redintegratio" (Nr. 6) unzweideutig fest, daß "die Kirche von Christus" zu einer "dauernden Reform" ("ad ... perennem reformationem") aufgerufen ist.

Aufgrund einer Intervention von höherer Stelle konnte Dom Clementes Buch in Brasilien nicht in einem katholischen Verlag gedruckt werden. Ein Freund nahm sich des Textes an. Und so erschien er dann doch - Überlegungen eines Bischofs im Ruhestand zu dem, was man landläufig "heiße Eisen" nennt.

Zeugnis für kommende Generationen

Ein Jahr später, 2009, erschien das Buch in einem kleinen österreichischen Verlag in der Reihe "Anstöße" der "Edition Neue Wege" (Gösing/NÖ): "Gedanken eines Bischofs zu den heutigen kirchlichen Institutionen". Unter reformorientierten Katholiken gilt es als Pflichtlektüre. Große Verbreitung steht trotzdem nicht zu erwarten. Das ist schade.

Denn Ludwig Wuchse (Österreich) und Bernd Christoph Siry (Brasilien) nahmen die Mühe der Übersetzung auf sich - weil darin, wie es im Vorwort zur deutschen Ausgabe heißt, "die gleichen Themen behandelt werden, die auch im deutschsprachigen Kirchenraum diskutiert werden". Dom Clementes "Stimme" sei "Zeugnis dafür, daß die aufgeworfenen Fragen nicht nur Bedürfnisse der europäischen Kirche sind" (7).

Sagen, was man denkt

Der Befreiungstheologe José Comblin weist im Vorwort der deutschen Ausgabe darauf hin, Dom Clemente habe in seiner Diözese das von den lateinamerikanischen Bischofskonferenzen vorgeschlagene Bischofsmodell verwirklicht: "Was er zur Sprache bringt, wurde schon oft vorgetragen und veröffentlicht. Aber daß diese Ideen von einem Bischof vorgetragen werden, gibt ihnen ein größeres Gewicht. Dom Clemente sagt offen, was viele Bischöfe denken, aber nicht sagen dürfen. Er weiß genau, daß sein Alter ihm eine Immunität verleiht, die es vor der Emeritierung nicht gibt."

Der aus Brüssel stammende Theologe Comblin, der seit 1980 wieder in Brasilien wirkt, nachdem er 1972 von der Militärregierung aus Brasilien ausgewiesen worden war und in Chile als Seelsorger gearbeitet hatte, verhehlt nicht seine große Sympathie für Dom Clemente. Er weiß, daß Bischöfe wie Dom Clemente im Vatikan nicht mehr ernst genommen werden. Doch er betont: "Angesichts der übermäßigen Konzentration der Macht in Rom ist es sehr willkommen, daß einige Bischöfe den Mut haben, zu sagen, was sie denken. Sie haben wenig Aussicht, gehört zu werden, aber ihr Wort bleibt wenigstens als Zeugnis für die kommenden Generationen."

Seine pessimistische Prognose lautet, daß Dom Clementes Vorstellungen "wohl noch 1000 Jahre warten müssen. Aber wenn die gleichen Tatbestände während 1000 Jahren immer wieder geäußert werden, wird es bestimmt irgendwann eine Antwort geben."

Die knappen Kapitel, die leicht lesbar sind und Fachvokabular vermeiden, lauten: "Die Bedeutung der Teilnahme des Volkes an den Bischofsernennungen" (15-28), "Der Einfluß des Nuntius bei den Bischofsernennungen" (29-39), "Der Zölibat der Priester" (40-47), "Die Weihe von Frauen" (48-52), "Bischöfe im Ruhestand" (53-57). Am Ende des Bändchens findet sich eine prägnante Zusammenfassung dessen, was für Dom Clemente nach fünfzig Bischofsjahren zur Überlebensfrage der Kirche geworden ist: "Die Ernennung der Bischöfe mit Beteiligung der Gläubigen, ohne päpstliche Geheimhaltung, die kirchenpolitische Seilschaften verbirgt und dem Volk Opfer abverlangt; die Gewährleistung für die Priester, die keine Berufung zum Zölibat haben, daß sie ihr Priestertum das ganze Leben lang ausüben können; eine vollständige Öffnung für die Frau, damit sie ihren Platz in der Kirche einnehmen kann, den Platz, auf den sie schon seit zweitausend Jahren wartet; die apostolische Nachfolge (Sukzession), die jedem Bischof die authentische Vollmacht als Nachfolger der Apostel gibt und nicht nur die Möglichkeit, in violetten Pontifikalien zu zelebrieren" (60).

Dom Clemente kennt die Tradition, er kennt die verschiedenen Entwicklungen - und er hat eine reiche Erfahrung als Bischof. Diese läßt ihn Rückfragen an gängige Praktiken stellen. An den gegenwärtigen Papst, Benedikt XVI., gerichtet meint er bezüglich des alten Ritus der Messe und der Wiedereinführung des Lateins in der Liturgie: "Wer sieht hier nicht einen Angriff auf die 'Konstitution über die heilige Liturgie' des II. Vatikanischen Konzils? Man geht nicht mehr in die Richtung, in die sich das Konzil bewegt hat, sondern macht einige Schritte zurück" (35).

Bekehrung der Bischöfe

Berührend ist die kurze Passage, in der Dom Clemente davon erzählt, daß sich immer wieder Bischöfe und Ordensobere, darunter Dom Hélder Câmara (1909-1999) oder der ehemalige Jesuitenprovinzial José Aldunate, bekehrt hätten, die beiden eben genannten mit 56 Jahren: "Es ist notwendig, dies einem breiten Bereich der Kirche immer mehr bewußt zu machen, und sehr viel für die Bekehrung der heutigen Bischöfe zu beten, ohne die Kardinäle zu vergessen. Und das kann nur der Heilige Geist bewirken, der die Kirche leitet" (36).

Neben vielen interessanten Anregungen und Beobachtungen sticht auch der Hinweis heraus, daß es in Brasilien 2008 ingesamt 291 Bischöfe im Amt und 129 emeritierte Bischöfe gab: "Etwas stimmt da nicht in diesem ungleichen Verhältnis und dies ist eine Einladung, daß der Papst eine andere Lösung suchen möge" (56). Es geht Dom Clemente nicht darum, die von Papst Paul VI. festgesetzte Altersgrenze zu unterlaufen. Er regt vielmehr an zu überlegen, was Bischöfe im Ruhestand tun könnten, die noch einigermaßen fit sind - so wie er selber nach seiner Emeritierung noch ganze zehn Jahre Generalvikar in einer anderen Diözese war: "Der Codex Iuris Canonici sorgt für den Lebensunterhalt des emeritierten Bischofs, aber man unterläßt es, für seine Beschäftigung zu sorgen. Man rechnet nicht mehr mit ihm. Er ist eine Karte außerhalb des Spiels" (57).

Mit reinem und ruhigem Gewissen

Das Bändchen endet mit einem Nachwort, das zweieinhalb Seiten umfaßt. Dom Clemente berichtet, daß ihn der Abt des Klosters, in dem er jetzt wohnt, gewarnt habe: Seine Gedanken würden ihm "viel Leid" einbringen und möglicherweise auch der Abtei schaden. Dom Clemente schreibt: "Welche Art von Leiden wäre das? ... Ich bin fest davon überzeugt, daß in diesem Büchlein nichts gegen den katholischen Glauben steht. Im Gegenteil, ich glaube, obwohl dieses Buch Gefahr läuft, mir Proteste und Kritiken meiner Oberen einzubringen (ich habe nur einen Oberen, den Papst), werde ich dem mit reinem und ruhigen Gewissen entgegensehen" (58 f.). Er ist der festen Überzeugung, seine Berufung zu "verleugnen", wenn er schweigen würde: "Ich wäre ein Feigling" (59).

Mit dem Satz: "Ich habe meine Pflicht erfüllt" (60) endet das Bändchen. Daß es erscheinen konnte und nun auch auf Deutsch vorliegt, ist gut. Bischöfe wie Dom Clemente sind ein Segen für die Kirche, sie sind Trost, sie sind ein überzeugendes Beispiel dafür, daß es auch anders sein könnte. Für manche Kreise sind Bischofsernennungen wie die Dom Clementes freilich ein bedauerlicher "Betriebsunfall" bzw. eine "schlechte Entwicklung". Doch die Kirche könnte mehr Bischöfe vom Schlag eines Clemente José Carlos Isnard OSB vertragen.

Obrigado, Dom Clemente, feliz aniversário!

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